Ein Spaziergang durch Australiens Serienkiller-Wald
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Ein Spaziergang durch Australiens Serienkiller-Wald

Der "Rucksackmörder" Ivan Milat folterte und töte sieben Backpacker, darunter auch drei Deutsche. Seitdem hat der Nationalpark mehrere Nachahmungstäter angezogen.

Der Belanglo State Forest befindet sich auf halbem Weg zwischen Canberra und Sydney | Alle Fotos vom Autor

Zwischen September 1992 und November 1993 fand man die verwesenden Leichen von sieben jungen Männern und Frauen im Belanglo State Forest, etwa zwei Stunden südwestlich von Sydney entfernt.

Der Bauarbeiter Ivan Milat geriet bald darauf ins Fadenkreuz der Ermittler und wurde 1994 bei sich zu Hause, nicht weit von dem Wald entfernt, verhaftet. Im Laufe der Gerichtsverhandlung rekonstruierte man dann auch Milats Tatmuster. In Sydney sammelte er Anhalter und ausländische Rucksacktouristen ein, die er dann im Belanglo grausam ermordete. 1996 erhielt er siebenmal Lebenslängliche—einmal für jedes Opfer.

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Im November 2010 sollte dann aber noch ein weiteres dunkles Kapitel zur Geschichte des Belanglo State Forests hinzukommen. Ivan Milats Großneffe, der Teenager Matthew Milat, hatte zusammen mit seinem Komplizen Cohen Klein den Schulfreund David Auchterlonie zur Feier seines Geburtstags mit der Aussicht auf Alkohol und Gras nach Belanglo gelockt. Dort ermordete Matthew seinen vermeintlichen Kumpel David mit einer Axt. Milats Großneffe bekam für die Tat ein Urteil von 43 Jahren Gefängnis.

Im gleichen Jahr fanden BMX-Fahrer, ebenfalls in Belanglo, das Skelett der 20-jährigen Karlie Jade Pearce-Stevenson. Die Polizei brauchte bis 2015, um den 41-jährigen Daniel Holdom für ihren Mord zu verhaften. Zumindest in diesem Fall war niemand von der Milat-Familie involviert.

Ich bin bestimmt nicht der einzige, der Serienmörder interessant findet. Wahrscheinlich gründet sich meine makabre Faszination einfach darin, dass ich solche Taten kaum nachvollziehen kann. Wie kann ein menschliches Wesen, das zu 99 Prozent über die gleiche DNA wie ich verfügt, einen anderen Menschen zum Spaß umbringen? Das wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Jedenfalls hatte ich mich dazu entschlossen, die absolute Wikipedia-Exkursion nach Belanglo zu machen. Eigentlich hatte ich mir ausgemalt, dass ich zusammen mit einem Freund rausfahren und einen unheimlichen Tag im Wald erleben würde. Aber niemand wollte mitkommen und unheimlich war es dann auch nicht, sondern einfach nur unfassbar traurig.

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Das ist der Eingang zum Nationalpark. Unter dem Willkommensschild werden die Besucher darum gebeten, vorsichtig zu sein. Ursprünglich sollte das wohl eine Art "Lasst keine Wertsachen im Auto / Macht kein Feuer" sein. Seit den Milat-Morden hat der Hinweis aber einen ganz neuen Beigeschmack bekommen, weswegen das Schild auch immer wieder geklaut wird. Aus irgendeinem Grund aber bringt die Forstbehörde von New South Wales dann immer wieder ein neues Schild an, ohne jemals den Text zu überarbeiten.

Als man im September 1992 die Leichen von zwei britischen Touristinnen fand, gab sich die Polizei alle Mühe, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Todesfälle nicht das Werk eines Serienkillers waren. Ein Jahr später tauchten dann aber die Leichen von zwei 19-jährigen Australiern auf, außerdem die sterblichen Überreste von drei deutschen Backpackern. Daraufhin konnte die Polizei nicht mehr anders, als von einem Serienmörder zu sprechen.

Im Zuge des Medientrubels errichtete die Regierung des Bundesstaates eine Gedenktafel—noch Monate, bevor die Polizei den Mörder fassen konnte. Sie befindet sich am Ende einer langen Straße, die nur mit einem Geländewagen zu befahren ist. Wenn man nicht gerade danach sucht, ist sie kaum zu finden.

Auf dem Gedenkstein sind die sieben Namen von Milats Opfern aufgelistet, aber die Eltern der 21 Jahre alten Simone Schmidl aus Regensburg haben daneben noch ein kleines Kreuz errichtet.

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Simone reiste 1991 alleine durch Australien und hatte geplant, per Anhalter von Sydney nach Melbourne zu fahren, wo sie ihre Mutter am Flughafen treffen sollte. Beide wollten danach zusammen campen gehen. Simone sollte aber nie ankommen. Einen Tag, nachdem sie nicht beim vereinbarten Treffpunkt aufgetaucht war, kontaktierte die Mutter die Polizei, bevor sie sich dann selbst auf eine sechswöchige Suche machte. Am Ende musste ihre Mutter wieder alleine nach Hause fliegen.

"In unseren Herzen lebst Du weiter! Wir lieben Dich!", steht auf der Plakette geschrieben.

Dann gab es an der Gedenktafel noch diese Dinge: vom Regen durchgeweichte Stofftiere, Glow Sticks und persönliche Gegenstände. Ich musste unweigerlich an diese jungen Menschen denken, die von weit hergekommen waren, nur um in diesem Wald zu sterben.

Für Ivan Milat muss sich hier seine Wandlung vom vorbestraften Verbrecher zum Serienmörder vollzogen haben. Das hier ist der Ort, an dem er im Dezember 1989 Deborah Everist und James Gibson aus Melbourne tötete. Wie die fünf Opfer nach ihnen wollten auch sie per Anhalter von Sydney nach Melbourne reisen. Ihre Skelette wurden erst vier Jahre später gefunden, übersät mit unzähligen Stichwunden.

Der Journalist Mark Whittaker ist Co-Autor eines der gründlichsten Bücher über Ivan Milat, Sins of the Brother. Darin werden Milats Kindheit und Jugend in einer von Armut geplagten Familie kroatischer Einwanderer beschrieben. Er kam 1944 als fünftes von vierzehn Kindern auf die Welt und wuchs in einer einfachen Hütte in Moorebank, einem Vorort von Sydney, auf. Seine Mutter war ständig schwanger und sein Vater, 18 Jahre älter als die Mutter, oft gewalttätig.

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Einigen Familienmitgliedern zufolge zeigte Ivan bereits in jungen Jahren psychopathische Züge. Diese traten zum ersten Mal richtig zu Tage, als er 1971 wegen der Entführung und Vergewaltigung von zwei Rucksacktouristinnen vor Gericht stand. Allerdings erwiesen sich die Beweise gegen ihn als nicht ausreichend und Milat kam frei. Wie Whittaker es im Prolog des Buches zusammenfasst, hatte Milat dadurch zwei Dinge gelernt: "Erstens, es ist unglaublich, was ein guter Anwalt alles bewirken kann. Zweitens, von jetzt an wird kein Opfer mehr überleben."

Im September 1992 wurden Milats letzten Opfer an dieser Straße gefunden. Zwei Orientierungslaufbegeisterte stolperten über einen teilverwesten Körper in einer Felsnische. Sie riefen die Polizei, die nicht unweit von der Stelle eine weitere Leiche entdeckte. Die Toten stellten sich schließlich als die Britinnen Caroline Clarke und Joanne Walters heraus. Die beiden 22 Jahre alten Frauen waren im April des gleichen Jahres zum letzten Mal gesehen worden, als sie per Anhalter nach Victoria fahren wollten.

Beide Körper lagen mit dem Gesicht nach unten und waren mit Zweigen bedeckt. Joannes Mörder hatte so oft auf sie eingestochen, dass ihre Wirbelsäule durchtrennt war. Caroline hatte nur einen Messerstich abbekommen. Dafür hatte der Täter ihr die Augen verbunden und sie in den Wald laufen lassen, wo er ihr dann mehrmals in den Kopf schoss. Überreste von Lagerfeuer wiesen daraufhin, dass Milat während der Tat so wie in den Wochen danach hier gecampt hatte.

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Zwischen 1989 und 1992 mordete er in einem Abstand von etwa 12 Monaten. Seine Opfer waren junge Reisende, die alle per Anhalter von Sydney nach Melbourne fahren wollten. Wenn seine Opfer verschwanden, dauerte es in der Regel erst eine Weile, bevor jemand ihr Verschwinden überhaupt bemerkte. Und selbst dann gab es kaum Unterschiede zu den anderen 35.000 Vermisstenfällen pro Jahr.

Milat hatte nie wie andere Serienmörder die Polizei oder die Medien herausgefordert. Bis heute hat er auch kein einziges seiner Verbrechen gestanden—daran haben seine viele Jahre im Gefängnis auch nichts geändert. Deswegen gibt es immer noch Spekulationen, ob er nicht doch Mittäter hatte und ob man überhaupt alle seine Opfer gefunden hat.

Für mich ist an der ganzen Milat-Geschichte allerdings wirklich bemerkenswert, wie Belanglo dadurch zu einer düsteren Ecke der australischen Folklore wurde. Niemand weiß ganz genau, warum er sich Belanglo als Ort für seine Taten ausgesucht hatte, allerdings liegt der Nationalpark relativ abgeschieden und befindet sich nur eine Stunde von seinem damaligen Haus entfernt. Der Park ist darüberhinaus ausgesprochen hässlich. Überall stehen zerfledderte Plantagenbäume und die Wegweiser sind von Einschusslöchern durchsiebt. 1989 dürfte es hier ähnlich ausgesehen haben. Vielleicht machte gerade das den Anreiz für Milat aus.

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In den darauffolgenden Jahren sind andere Spinner vor allem durch Milat auf Belanglo aufmerksam geworden. Viele Zeitungen bezeichneten den Mordvon Milats 17 Jahre altem Neffen an seinem Kumpel als eindeutige Nachahmungstat. Angeblich hatte er Freunden gesagt, dass er einfach macht, "was seine Familie macht". Am Tag danach soll er sogar geprahlt haben: "Weißt du, wofür meine Familie bekannt ist? Ich habe gestern Nacht jemanden umgebracht."

Belanglos traurige Berühmtheit zieht Touristen an, aber auch Kriminelle, die wollen, dass der grotesk-makabre Ruf des Ortes auf sie abfärbt.

Und dann gab es da noch eine Geschichte. Im Oktober 2010 wurde am Red Arm Creek Fire Trail das Skelett einer Frau gefunden, das erst letztes Jahr als die sterblichen Überreste der 20-jährigen Karlie Jade Pearce-Stevenson identifiziert werden konnte. Im Juli 2015 wurde eine Babyleiche in einem Koffer am Rand des South Australian Highway entdeckt—1.100 Kilometer von Belanglo entfernt. Ein anonymer Anrufer gab schließlich einen Hinweis auf eine Verbindung zwischen den beiden Leichen ab. Das Baby war Karlies zwei Jahre alte Tochter Khandalyce Kiara Pearce.

Im Dezember letzten Jahres wurde schließlich ein Mann namens Daniel Holdom festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft Holdom vor, Karlie 2008 in oder in der Nähe von Belanglo umgebracht zu haben, bevor er mit ihrer Tochter nach South Australia fuhr und sie ebenfalls umbrachte.

Die Tat war auch schrecklich, hatte aber wahrscheinlich mehr mit familiärer Gewalt als mit einem Serienmord zu tun. Nichtsdestotrotz hatte es auch Daniel Holdom nach Belanglo gezogen.

Von einem leeren Picknicktisch aus beobachtete ich den Sonnenuntergang und fragte mich dabei, was ich hier in den letzten Stunden gelernt hatte. Eigentlich nichts. Ich hatte einen kleinen Schrein für ermordete Jugendliche entdeckt und mich danach nur furchtbar gefühlt.

Wieder zu Hause angekommen rief ich Mark Whittaker an, den Journalisten, der das Buch über Milat geschrieben hatte. Ich fragte ihn, was er in seinen Jahren der Recherche gelernt hatte. Sein persönliches Fazit fasst es in meinen Augen sehr gut zusammen:

"Es gibt einfach ein paar Menschen, die durch und durch verdorben sind", sagte er. "Du kannst darüber spekulieren, warum das so ist. Am Ende wird es meiner Meinung nach aber immer Spekulation bleiben. Wenn du fünf Psychiater dazu befragst, wirst du fünf verschiedene Meinungen dazu hören. Ich weiß nur noch, wie ich damals oft einfach an meiner Schreibmaschine saß und weinte. Heute versuche ich, möglichst nicht darüber nachzudenken, was damals vielleicht passiert ist. Ich versuche, so wenig mit Belanglo zu tun zu haben wie nur irgendwie möglich—aus Selbstschutz. Eine Moral zu dieser Geschichte gibt es einfach nicht."