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Warum eine Impfpflicht kontraproduktiv ist

Nach dem Tod eines Kleinkindes in Berlin werden die Rufe nach einer Impfpflicht lauter. Wir sagen euch, warum das eher kontraproduktiv wirken könnte.
Flu Vaccination Grippe | photopin | (license)

Nachdem es in den letzten Monaten vermehrt zu Masern-Ausbrüchen in Österreich und Deutschland gekommen ist, hat die damit zusammenhängende Impfdebatte durch den Tod eines eineinhalb jährigen Kleinkindes in Berlin ihren (vorerst) traurigen Höhepunkt erreicht. Jetzt werden in Deutschland Rufe nach einer Impfpflicht laut—auch in Österreich wird über entsprechende Schritte nachgedacht.

Wer sich—so wie ich in diesem Artikel—mit Menschen beschäftigt, die online ihre Theorien und Ansichten zum Thema Impfen austauschen, merkt schnell, dass ein vom Staat oktroyierter Zwang nicht das Beste sein dürfte, um an einem von Verschwörungstheorien bestimmten Weltbild zu rütteln. Wenn man sowieso schon skeptisch gegenüber der Obrigkeit ist und mitunter davon ausgeht, dass die Welt von Konzernen, Pharmafirmen, Politik-Marionetten und Geheimbünden (Bilderbergern, Weltjudentum oder auch beides) hinter verschlossenen Türen gesteuert wird, sind die Freiheit einschränkende Gesetze nur ein weiteres, augenöffnendes Puzzle-Teil.

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Impfgegner teilen sich mit Verschwörungstheoretikern ein bestimmtes Mindset: Sie fühlen sich als missverstandene Underdogs, die nicht mehr mitspielen und dem System selbstbewusst den Stinkefinger zeigen. Zugegeben ist das alleine noch nichts Schlechtes, damit kann ich mich durchaus anfreunden und ein gesundes Maß an Misstrauen und Kritik ist nie verkehrt. Ein Problem wird es aber dann, wenn hinter allem und jedem eine perfide Verschwörung vermutet wird und Informationen nur dann als vertrauenswürdig gelten, wenn sie nicht zur „Systempresse" zählen.

Als auf Medizin und Wissenschaft vertrauender Mensch könnte man versuchen, Kritikern mit wissenschaftlichen Studien den Wind aus den Segeln zu nehmen. Etwa mit dieser hier, die beispielsweise zeigt, dass es bei einer Masern-Erkrankung bei 1000 ungeimpften Kindern in ein bis drei Fällen zum Tod kommen kann, oder das Immunsystem schwächt und etwa eine Gehirnhautentzündung zur Folge haben kann. Gleichzeitig sind in dieser Studie auch offizielle Zahlen zu finden, nach denen es bei der MMR-Impfung (Kombi-Impfung Mumps, Masern, Röteln) zwischen 1990 und 1999 in Deutschland bei 16 Millionen Impfdosen zu sieben schwerwiegenderen Impfschäden (von einer Mittelohrentzündung bis zu einer Querschnittslähmung) kam.

In der Öffentlichkeit werden insbesondere Komplikationen nach Verwendung von Masern-Mumps-Rötelnimpfstoff (MMR-Impfstoff) diskutiert. Nur 3% (sieben Fälle) der von sechs Bundesländern gemeldeten Komplikationen betreffen diese Impfung. Ausgehend von einer vorsichtigen Schätzung und bei einer angenommen Durchimpfungsrate für die erste Masern-Mumps-Rötelnimpfung von circa 75 bis 80%, sind in diesen Bundesländern 1,7 bis 1,9 Millionen Dosen Impfstoff im Jahr verimpft worden. Dies entspräche einer maximalen Rate von sieben Komplikationen/16 Millionen Impfstoffdosen.

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Auszug aus Anerkannte Impfschäden in der Bundesrepublik Deutschland 1990–1999

Wissenschaftliche Belege haben in den Augen von Kritikern aber Makel, beispielsweise: die Studie wurde von Pharmakonzernen bezahlt (die erwähnte Studie stammt aus dem monatlich erscheinenden und staatlich finanzierten Bundesgesundheitsblatt) oder Impfschäden werden nicht ordentlich aufgezeichnet und sind nicht nachweisbar (falsch, es gibt eine öffentlich einsehbare Datenbank, in der Impfschäden nach Impfstoff sortiert vermerkt werden). Wissenschaft als solche wird einfach mit dem Argument ausgehebelt, dass sie gekauft, manipuliert oder irgendwie nicht vertrauenswürdig sei. Stattdessen ist von einer „eigenen Meinung" die Rede, von einer „offeneren Sichtweise" und einem unverantwortlich, blinden Vertrauen auf Institutionen und wissenschaftlicher Publikationen. Diese kognitive Verzerrung hat übrigens auch einen Namen und nennt sich Dunning-Kruger-Effekt.

Ein wenige Stunden andauernder Fieberschub ist zwar weder für das Kind noch für die Eltern angenehm, aber besser als der tatsächliche Ausbruch der Krankheit.

Auf evidenzbasiertem Niveau zu diskutieren, ist bei diesem Thema aber ohnehin schwierig. Ohne die tatsächliche Existenz von schwerwiegenden Impfschäden abstreiten zu wollen, sollte man jedoch die Risiken abwägen. Ein wenige Stunden andauernder Fieberschub ist zwar weder für das Kind noch für die Eltern angenehm, aber besser als der tatsächliche Ausbruch der Krankheit mit mitunter schweren Komplikationen wie einer Gehirnhautentzündung oder erhöhtem Sterberisiko. Außerdem muss natürlich auch abgewogen werden, ob überhaupt eine Kausalität zwischen einer Impfung und später auftretenden Krankheit gibt.

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Feedback zu meinem ersten Artikel zum Thema Impfen.

Anstatt weitestgehend nüchtern die Fakten zu analysieren, wird dem Bauchgefühl und vorherrschenden Ressentiments vertraut. Dazu kommt eine Ablehnung der Schulmedizin, der Glaube an Homöopathie oder generell Naturheilkunde—„Wissenschaft" ist gleichbedeutend mit „Schulmedizin" und ergo abzulehnen oder zumindest als nicht sonderlich vertrauenswürdig einzustufen. Interessant finde ich, dass das gegen die Schulmedizin hervorgebrachte Argument der „Abzocke" bei homöopathischen Mitteln und Globoli-Kuren plötzlich nicht greift.

Auch Abseits von Facebook-Kommentaren und Foren-Beiträgen ist die Diskussion rund ums Impfen mühsam. Zuletzt etwa bei Talk im Hangar-7 auf Servus TV zum Thema Grippewelle und Masernfälle: Schützt Impfen wirklich?. Auf Seiten der Impfkritiker waren die Homöopathin Christine Laschkolnig aus Wien und der Arzt und selbsternannte Impfkritiker Johann Loibner aus der Steiermark zu Gast, die das Klischee von Impfgegnern bestätigten: Anstatt konkreter Studien oder wissenschaftlicher Beweise gab es Hörensagen-Geschichten und eigenwillige Ansichten zu Medizin und Krankheiten als Ganzes. Loibner, der nach einem Ordinationsverbot aktuell wieder als Arzt aktiv ist, sagte etwa, er würde "jedem Patienten von jeder Impfung abraten", die Homöopathin Laschkolnig vermeldet, dass ungeimpfte Kinder gesünder seien und stützt sich auf Erfahrungswerte aus ihrer Privatpraxis, in die nach eigener Aussage vorwiegend Menschen mit impfkritischer Grundeinstellung kommen.

Die aktuelle Entwicklung der Impfdebatte zeigt in Kombination mit einer zunehmenden Kritik an Massenmedien sehr gut, dass der Staat und auch der Medien-Mainstream ihre Deutungshoheit mehr und mehr zu verlieren scheint. Während einerseits davon vorwiegend am äußeren Rand beheimatete politische Bewegungen profitieren und vom System im Stich gelassene und desillusionierte Menschen auffangen, spiegelt sich dieser gesellschaftliche Trend auch in etwas anders gearteter Form auch in der Abkehr vom Vertrauen in die Schulmedizin wider. Was bleibt, ist ein aufgeheizter Diskurs, bei dem Fakten und Risiken mit Emotionen und Glauben ersetzt werden. Ob und wie eine sachliche Diskussion vor diesem Hintergrund möglich ist, kann ich nicht beantworten. Eine Impfpflicht wird die Situation eher zuspitzen und nicht entspannen.

Beschimpft Raphael auf Twitter als Pharma-Lobbyisten: @raphschoen


Titelfoto: Flu Vaccination Grippe | photopin | (license)