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Mein Freund wurde fremdenfeindlich, als er zur Polizei ging

Martin ging angeblich zur Schweizer Polizei, weil er die Welt verbessern wollte. Heute spricht er davon, dass diese „scheiß Roma" alle raus müssten.
Titelfoto von ​Thomas8047

Wir alle haben ein Bild vom fremdenfeindlichen Typen im Kopf. Sei es der hängengebliebene Bauer mit stockkonservativen Eltern, der Ausländer vor allem darum nicht mag, weil sie auf SVP-Plakaten immer so grimmig schauen. Der Grossonkel, der an Weihnachten immer wieder seine starren Denkmuster aus den 1940er-Jahren mit der Faust auf den Tisch klopft. Oder der Politiker, der mit seinen hetzenden Parolen punkten möchte. Doch manchmal wird dieses Klischee gebrochen—wie bei meinem guten Freund Martin.

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Martin und ich kennen uns schon seit Ewigkeiten. Wir sind zusammen im Genfer Multi-Kulti-Vorort Onex aufgewachsen. In diesem—von uns liebevoll „Ghetto" genannten—Viertel hingen wir stundenlang vor Plattenbaublocks und fühlten uns in unseren Jogginghosen wie in einer Pariser Banlieue.

Natürlich war das mehr pubertäres Spiel als Realität. Schliesslich waren wir mit dem Bus in 15 Minuten mitten in der Stadt und bekamen—als wir alt genug waren—auch Jobs, die zumindest OK waren. Nur grenzten wir uns damals aus Gründen der Coolness ganz bewusst vom Klischee des naiven, spiessigen Schweizers ab. Wir waren lieber Plattenbau-Ghetto als Reihenhaussiedlung.

Martin passte perfekt in diese Gegend und in unsere Realität. Er war der Typ, der ständig mit seinen frechen Sprüchen anzuecken drohte, im letzten Moment dank seinem Charme aber die Sympathieleiter wieder hochklettern konnte. Einmal etwa gab er einer Freundin den Spitznamen „die Dicke", weil sie ein paar Kilo zugenommen hatte—und ihr machte das nichts aus, nur weil er es war, der das so sagte. In der Schule musste er regelmässig nachsitzen, weil er sich nicht an die simplen Regeln wie das Ruhigsein während dem Unterricht halten wollte—und beim Nachsitzen brachte er die Lehrer zum Lachen, gerade weil er nicht ruhig bleiben konnte.

Als ich Jahre vorher zum ersten Mal mit Martin gesprochen hatte, wollte er unbedingt Biologe werden. Doch aus diesem Traum wurde nichts: Martin flog wegen schlechten Noten vom Gymnasium.

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Etwa zur gleichen Zeit entdeckten wir den Alkohol für uns—und lernten die andere Seite von Martins Impulsivität kennen. Jene ohne Charme. Es kam öfters mal vor, dass er betrunken seine Freunde—die er sonst wie seine Familie behandelte—schlagen wollte. Wir verstanden zwar nicht, wieso Martin so war, aber wir akzeptierten es.

In diesem Viertel wuchsen wir auf. Foto: Robin-Angelo Fuso | Flickr | CC BY 2.0

Anstatt als Biologe schuftete Martin einige Monate auf einer Baustelle und musste als Security mit Menschen umgehen, die betrunken mindestens so schlimm waren wie er. Irgendwann meldete er sich für die Polizeischule an, weil ihn der Job als Security nicht erfüllte. Er wollte schliesslich die Welt verbessern. Ich hielt das damals für eine gute Idee. Martin war sportlich, ständig aktiv und konnte sehr gut mit Menschen umgehen. Doch ich lag falsch, wie ich recht schnell merkte.

Nach einer Weile wurde Martin frustrierter und frustrierter. Die Realität war eben doch anders als die Welt, zu der Martin beitragen wollte. Als Polizist wird er jeden Tag beschimpft, provoziert und ist Gefahren ausgesetzt. Mittlerweile erzählt er davon, wie die Roma den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Wie die Araber klauen und ihn verachten, nur weil er eine Polizeiuniform trägt. Und davon, wie die Afrikaner Drogen verkaufen.

Egal wie oft sie in eine Zelle gesteckt würden: Sie kämen immer wieder. Wenn er davon spricht, dass diese „scheiss Roma" alle raus sollten, wird mir erst richtig bewusst, wie unmenschlich dieses Denkmuster ist. Vorher war das in meiner Welt die Sprache der Bauern-Schweizer, jetzt redet ein guter Freund so.

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Wenn Martin sich von etwas angegriffen fühlt, werden für ihn alle verdächtig, die dem Täter ähnlich sind. Er handelt dabei ähnlich wie ich, wenn ich verliebt bin. Einmal schüttete mein Körper Kübel voller Oxytocin aus, sobald ich irgendeinen Typen mit einer Mütze sah—bloss weil ich mich einige Wochen zuvor total in einen dieser Gattung verschossen hatte. Doch anders als Martin konnte ich meine Emotionen in einen rationalen Rahmen pressen. Ich wollte schliesslich nicht mit einem unsympathischen Typen anbandeln, nur weil sein Kopf von einer Mütze geziert wird. Martin aber vertraut auf diesen Instinkt. Er denkt, wenn sein Instinkt ihn einen Hass auf Roma, Araber und Afrikaner spüren lässt, dann ist dieser Hass berechtigt.

Ich selbst war anfangs etwas überfordert davon. Wie geht man damit um, wenn ein Freund auf einmal fremdenfeindliche Dinge am Laufband sagt? Zuerst habe ich das Thema möglichst vermieden und gehofft, dass er sowas wie eine komische Phase durchmacht. Doch die Phase wurde länger und länger. Also habe ich versucht, seine Denkweise zu verstehen—und hab das sogar geschafft. Für mich ist Martins Reaktion irgendwie menschlich. Die Statistiken, die davon sprechen, dass Ausländer verhältnismässig häufig kriminell werden, existieren ja. Nur sollte ein Polizist eben reflektieren, dass Schwarze nicht im Park stehen, um Drogen zu verkaufen, weil sie schwarz sind.

In unserem Freundeskreis führt Martins Veränderung manchmal zu sehr absurden Situationen. Vergangenen Sommer sassen wir mal am See in Genf und tanzten zu afrikanischer Musik, weil eine Freundin aus Ruanda ihren Geburtstag feierte. Martin wurde irgendwann sehr emotional und brüllte einem gemeinsamen Freund zu, er sei Rassist. Der Freund versuchte ihn zu überzeugen, dass Martin kein Rassist sei—und so ging es hin und her: „Du bist nicht rassistisch!" „Doch, bin ich!" „Nein, bist du nicht!" „Doch!"

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Für den gemeinsamen Freund waren alle Rassisten dumme Ignoranten—und das war Martin auf keinen Fall. Martin war für ihn der Typ mit peruanischen Wurzeln, der unter Portugiesen und Albanern aufgewachsen ist. Es ist etwas absurd, dass der Freund seinen eigenen Vorurteilen aufgesessen ist. Vorurteilen, die er von Menschen mit Vorurteilen hat. Denn natürlich ist Martin fremdenfeindlich und trotzdem ist er nicht dumm.

Obwohl Martin wegen seinem Beruf über Ausländer poltert, sind seine Freunde—egal woher sie kommen—für ihn immer noch wie seine Familie. Um diesen Spagat zu schaffen, muss er eine Grenze ziehen. Zwischen guten und schlechten Ausländern. Ich bin mir aber sicher, wenn einer dieser Freunde auf einmal Drogen verticken würde, wäre er für Martin trotzdem noch einer der Guten—bloss eben einer, der ein wenig Hilfe braucht.

Irgendwie habe ich immer noch Hoffnung, dass das Ganze für ihn nur eine Phase ist. Dass er bald wieder komplett zum charmanten Typen wird, mit dem alle lachen. Und dass er nicht zu einem Teil des Schweizer Rechtsrutsches wird. Und vielleicht wird aus dieser Hoffnung bald Realität, denn Martin scrollt gerade auf der Suche nach einem neuen Job durch Stellenportale.

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelfoto von Thomas8047 | Flickr | CC BY 2.0