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Was wir vom Berliner Urin-Neonazi über die ‚Herrenrasse‘ gelernt haben

Ein vorbestrafter Rechtsextremer soll auf ausländische Kinder uriniert haben und wird in einem TV-Beitrag mit seiner mutmaßlichen Tat konfrontiert. Seine Reaktion ist überaus aufschlussreich.
Bild: imago/United Archives International

Letzte Woche machten Berichte über einen Vorfall die Runde, der so widerlich ist, dass er der Debatte um rassistisch motivierte Übergriffe von „Asylgegnern" eine ganz neue Negativqualität gibt. Zwar schwebten die Opfer bei diesem Vorfall nicht in Lebensgefahr, dafür offenbarte sich in vollem Umfang, wie menschenverachtend die ganzen besorgten Bürger/Asylgegner/besoffenen Neonazis da draußen wirklich sind. Was war passiert?

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Zwei stark alkoholisierte Rechtsextreme sollen in einer Berliner S-Bahn gegen eine Migrantenfamilie—bestehend aus einer Mutter mit ihren beiden Kindern (etwa 5 und 15 Jahre alt)—auffällig geworden sein. Neben Sätzen wie „Heil Hitler, ihr Juden" sollen auch Äußerungen gefallen sein, in denen sich die Täter (32 und 37 Jahre alt) als Vertreter der „Herrenrasse" bezeichneten. Damit nicht genug, dass sich eine Mutter im Beisein ihrer Kinder von zwei erwachsenen Männern so angreifen lassen musste: Laut Medienberichten öffnete Christoph S. schließlich seine Hose und urinierte auf die beiden Minderjährigen. Zeugen alarmierten die Polizei, die die Täter einige Stationen später festnehmen konnte. Berlins Innnensenator Frank Henkel fand für den Vorfall klare Worte: „Hier werden Menschen entwürdigt, und zwar von Tätern, die sich selbst wie Tiere benehmen. Das ist die unerträgliche Fratze des Rassismus."

Für einen Beitrag hat die Redaktion von Spiegel TV den mehrfach vorbestraften Neonazi (Volksverhetzung, Waffenbesitz, Körperverletzung) nun aufgespürt und mit seiner Tat konfrontiert. Rechtfertigen konnte sich Christoph S. wenig überraschend nicht, herausgekommen ist dabei aber trotzdem ein recht interessanter Blick in die realitätsferne Welt der Leute, die sich aufgrund ihrer Herkunft Anderen überlegen fühlen. Willkommen in der Welt der „Herrenrasse" 2.0.

Gute Deutsche erkennt man an ihrer Alkoholfahne

Ich habe ja ein grundlegendes Verständnis für jeden, der aus Frustration mal das ein oder andere Glas zuviel leert. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, die vielen von uns die Luft zum Atmen nimmt, fühlen uns oft einsam und verloren und wer sich noch nie ein Tinder-Date schön getrunken hat, werfe die erste Weinflasche. Tatsächlich ist es aber wirklich auffällig, dass sich insbesondere die Leute, die angeblich „aussprechen, was alle denken" und nur Gutes für das deutsche Vaterland im Sinne haben, sich erst einmal ordentlich Mut (und Wut) antrinken müssen, bevor sie aktiv werden—und sich beispielsweise durch Innenstädte prügeln, anstatt friedlich mit dem Kopf in der Toilettenschüssel ihren Rausch auszuschlafen. So auch der Urin-Neonazi. Die Spiegel-Redaktion trifft ihn und seinen Komplizen am Berliner S-Bahnhof Hermannstraße—einem Teil Neuköllns, in dem die Gentrifizierung das Frühstücksbier noch nicht durch einen Smoothie abgelöst hat.

Dieser Blog sammelt die schlimmsten Kommentare der Freitaler Asylgegner.

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Und auch die beiden Täter wirken in dem Video ziemlich betrunken und versuchen, sich abwesend nuschelnd aus der Affäre zu ziehen, bevor sie schließlich ihre Bierflaschen einpacken und von dannen stolpern. Vielleicht ist exzessiver Alkoholkonsum der Weg der nationaltreuen Patrioten, die deutsche Wirtschaft anzukurbeln. Vielleicht aber auch nur ein weiterer Beweis dafür, dass die besorgten Bürger oft nichts anderes als frustrierte Versager sind, die sich weniger Sorgen um Asylanträge und mehr um ihre Lebern machen sollten.

Arier müssen der eigenen Sprache nur rudimentär mächtig sein

Wirklich abstrus wird es immer dann, wenn man die Vorwürfe der vermeintlichen „Herrenrasse" an Ausländer mit der Realität abgleicht. Eines der ganz großen Themen ist dabei auch die angebliche Weigerung von Migranten, sich den deutschen Gepflogenheiten anzupassen und „unsere" Sprache zu lernen—wer allerdings schon mal die Facebook-Seite von beispielsweise der NPD besucht hat, weiß natürlich, dass Rechte ein grundlegendes Problem mit Grammatik und sprachlichen Feinheiten haben. Wir mögen uns als Land der Dichter und Denker begreifen, allerdings dürfte Goethe bei Sätzen wie „Verpisst euch mal ihr Opfers, Alter! Ihr Hundegesichter, Mann!" im Grabe rotieren (so getätigt von Christoph S.' Kumpel). Bei der falschen Bildung des Plurals hilft auch kein Hitlergruß.

Kriminalität ist nur bei Ausländern ein Problem

„Die Urinattacke ist nicht das einzige Problem des selbsternannten Herrenmenschen", heißt es beim Spiegel-TV-Beitrag süffisant aus dem Off. Tatsächlich wurde der Berliner in der Vergangenheit (und aktuell) nicht nur mit rechtsextremen Aktionen gegenüber der Polizei auffällig, sondern hat außerdem ein Verfahren wegen Diebstahls an der Backe. Vier Flaschen Wodka soll er aus einem Supermarkt geklaut haben—um sich kurz darauf womöglich wieder mit seinen Freunden darüber auszulassen, dass Ausländer den deutschen Sozialstaat ausbluten lassen und zum Dank auch noch kriminell werden.

Noisey: Die vergessene Neonazi-Vergangenheit von Ace of Base.

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Christoph S. selbst ist übrigens zwanzigfach vorbestraft und saß bereits mehrfach in Haft. Nach seinem Übergriff gegen die Migrantenfamilie wird nun wegen Körperverletzung, Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole und Beleidigung ermittelt. Der nächste Knasturlaub (auf Kosten des armen, von Rechten so oft bemühten Steuerzahlers wohlgemerkt) scheint in Sichtweite.

Die „Herrenrasse" ist auch nicht mehr das, was sie mal war

Blond, blauäugig, hochgewachsen, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper—das war Adolf Hitlers ganz persönliche Vision des idealen Deutschen. Abgesehen von der Tatsache, dass schon in Zeiten des Dritten Reichs Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinanderklafften (unter anderem litt der Führer an chronischen Blähungen), ist auch das Bild des heutigen „Vorzeigedeutschen" überaus ernüchternd. Gibt es eine Art neonazispezifische Körperbildsstörung? Gucken diese Leute in den Spiegel und sehen einen hochgewachsenen, stolzen Arier mit Reichsadler auf dem Arm statt eines frustrierten besorgten Bürgers mit Bierflasche in der Hand? Das würde zwar auch nichts besser machen, aber zumindest einiges erklären.


Titelbild: imago/United Archives International