Mein Doppelleben zwischen Tinder und arrangierter Ehe
Illustration: Jacqueline Lin

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The Privacy and Perception Issue

Mein Doppelleben zwischen Tinder und arrangierter Ehe

Während meine Eltern auf indischen Verkupplungsseiten einen Ehemann für mich suchten, hatte ich enttäuschende One-Night-Stands.

Dieser Artikel stammt aus der Privacy and Perception Issue des VICE Magazines, das in Zusammenarbeit mit Broadly produziert wurde. Mehr Geschichten aus dem Heft kannst du hier lesen.

"Und, was wünschst du dir von deinem Lebenspartner?" – der Satz landete wie ein Klumpen Blei auf dem schneeweißen Tischtuch zwischen uns. Ob wir den Rest unseres Lebens miteinander verbringen wollten, würden wir nicht direkt beim ersten Date in diesem Restaurant in Mumbai entscheiden. Wenn das Treffen mit dem 28-jährigen Handelsmarineofzier – ich nenne ihn Abhay – gut lief, würden wir in den folgenden Monaten mehrmals ausgehen. Dann würde die Hochzeit geplant.

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Ich war Anfang 20 und hatte gerade heimlich angefangen, mich durch Tinder zu wischen. Auf der einen Seite die aufregende Welt des unverbindlichen Datings, auf der anderen der bizarr durchgeplante Weg zu einer arrangierten Ehe. Aber der Druck der Tradition war zu stark, ich musste mich fügen.

Abhays Eltern hatten meine über eine typische indische Heiratsvermittlung im Internet kontaktiert und unsere Handynummern ausgetauscht. Ich schlug ein Kaffee-Date vor, kurz und schmerzlos. Abhay wollte mittagessen. Wir verbrachten ein paar Minuten mit Smalltalk über unsere ehemaligen Unis, dann war es Zeit, das Hauptthema anzupacken.

Ich kicherte verlegen. "Äh, Lebenspartner. Weiß nicht … Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht."

Er wartete einfach.

Echt jetzt?

"Ach, er sollte einfach jemand sein, mit dem ich gut reden kann", brachte ich schließlich raus. Der Tisch bog sich unter dem Gewicht der Floskel.

"Ich auch", sagte er und nickte enthusiastisch.

Als wir endlich aufbrachen, traf mein Blick den des Kellners. Er grinste extrabreit und zeigte die Daumen hoch. In Indien wollen einfach alle mitkuppeln.



Am folgenden Wochenende ging ich auf ein Tinder-Date. Ich erzählte von Abhays Frage und wir lachten. Was wusste er denn schon vom Leben, dieser Typ in seinen 20ern, der ohne Zögern eine Fremde heiraten würde? Er würde nie unseren coolen modernen Lifestyle teilen. Aber wussten wir wirklich mehr als Abhay? Das ging mir durch den Kopf, während mein Date und ich betrunken vor der Bar knutschten. Die Nacht endete in seinem Bett. Was blieb, war Enttäuschung.

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Monate später fühlte ich mich ein wenig einsam und überlegte, was wohl passiert wäre, hätte ich mich noch mal mit Abhay getroffen. Wäre ich jetzt schon dabei, das Brautpaket im Beauty-Salon auszusuchen? Mein Handy vibrierte. Ich hatte ein Match. Oh, er schaute auch Curb Your Enthusiasm! Gedanken an die Ehe konnten warten.

Aber sie warteten nicht. Je weiter ich in meinen 20ern kam, desto größer wurde der Druck, endlich zu heiraten. Meine Eltern planten ihre gesamten Finanzen um dieses Ereignis; sie mussten sicher sein, dass sie genug für ein extravagantes Fest hatten. Dass man ja auch eine Weile unverbindlich herumdaten kann, kommt in Indien kaum jemandem in den Sinn. Der Plan für mein Leben stand längst fest: Mitte 20 sollte ich heiraten, Ende 20 würde ich Kinder kriegen.

Mit meinem 24. Geburtstag erwachte das immense Familiennetzwerk, um einen "passenden" Mann für mich zu finden. "Wir müssen jetzt anfangen, die Suche kann mehrere Jahre dauern", sagte meine Großmutter. Mit 26 wäre ich dann ja schon fast eine alte Jungfer.

Meine Dates und mein Sexleben spielten sich im Geheimen ab. Für meinen ersten Job bei einem Hipster-Kulturmagazin pendelte ich in den kosmopolitischeren Süden Mumbais. Ich fand Freundinnen, die Alkohol tranken, außerehelichen Sex hatten und über "Fuckboys", "Wokeboys" und Feminismus sprachen. Wie ich versuchten sie herauszufinden, was sie sich für ihr Leben wünschten, und mussten dabei gegen die Erwartungen ihres Umfelds ankämpfen.

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Meine Mutter wusste nichts von meinem Tinder-Profil, trotzdem stritten wir uns oft und heftig über meinen "Mumbai-Lifestyle". Dazu kam ein ganzes Heer von Verwandten, die versessen darauf waren, mich zu verkuppeln. Ich führte ein Doppelleben: Ich hatte meine ersten Tinder-Dates mit Gelegenheitssex und traf mich mit potenziellen Ehemännern – als Teil eines Systems, in dem die "Keuschheit" einer Frau eine tragende Rolle spielt.

Meine Eltern erstellten mir auch ein Dating-Profil auf einer Verkupplungsseite. Die Seite ließ mich Profile nach Einkommen, Körpergröße, Religion, Kaste und Unterkaste filtern. Ja, das indische Kastensystem ist noch lange nicht aus der Welt. Wie alle Verkupplungsseiten wusste auch diese, dass wir ganz sicher nur Leute suchten, die so waren wie wir.

Aber ich stellte fest, dass ich bei allen Männern aus meiner eigenen Community nach links wischte. Ich wollte keinen Mann, der sich vertraut anfühlte. Ich war auch nicht bereit, den Einen zu finden. Ich wollte die Freiheit, Erfahrungen zu machen und mit Menschen zusammenzusein, die vielleicht nicht perfekt für mich waren, aber von denen ich etwas lernen konnte – über die Welt, und über mich selbst.

Ich zweifelte aber auch an diesem Wunsch, die Liste meiner Dating-Katastrophen wurde länger. All meine Verwandten hatten Geschichten über Frauen, die zu lange gewartet hatten, weil sie "zu wählerisch" gewesen seien. Mit über 30 hätten sie sich dann mit Typen zufriedengeben müssen, die acht Kinder hatten, oder drei Augen oder so. Wer von meinen Schulfreundinnen noch nicht mit ihrem Freund aus Schulzeiten verheiratet war, legte sich auf den besten Verkupplungsseiten ins Zeug.

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Die Zweifel zerfraßen mich. Ich war sicher: Egal was ich wählte, ich würde mir das Leben ruinieren. Manchmal erschien es mir lächerlich, dass ich meinte, einen besseren Plan für mein Leben zu haben als meine Eltern. Außerdem wusste ich, dass sie sich nur so sehr um einen Mann für mich bemühten, weil sie mich liebten. Ich hatte Angst, sie zu verletzen, wenn ich diese Fürsorge ablehnte, und damit unserer Beziehung noch mehr zu schaden.

Heute, vier Jahre später, lebe ich in Peking. Mein Profil auf der Kuppelseite existiert nicht mehr. Hin und wieder erinnern mich noch Verwandte daran, dass es Zeit sei, "sesshaft zu werden“. Ich habe gelernt, solche Gespräche höflich aber bestimmt zu unterbinden.

Meinen Freund habe ich vor zwei Jahren auf Tinder kennengelernt. Erst war es eine Fickbeziehung, dann eine gute Freundschaft, jetzt ist er mein Partner. Ich sehe ihn nur, wenn ich für meinen jährlichen Heimatbesuch in Indien bin. Die anderen zehn Monate führen wir eine offene Fernbeziehung. Auch wenn wir in der Zeit, in der wir uns nicht sehen, andere Menschen daten, wird er einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben bleiben.

Ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich von einem Lebenspartner erwarte. Aber wenn Abhay von der Handelsmarine noch mal fragen würde: Ich bin der Antwort zumindest schon mal näher.

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