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Drogen

Wie es ist, als Journalist in der gefährlichsten Stadt der Welt zu arbeiten

"Polizisten, Journalisten, Kameramänner – sie alle spielen dieses Spiel, bei dem sie untereinander Fotos von Leichen teilen."
Illustration: Germán Andino

In zehn Ländern – von Libyen bis Mexiko – hat der gebürtige Spanier Alberto Arce schon gearbeitet. Außer vielleicht in Kriegsgebieten war sein Job nirgends so gefährlich wie in Honduras.

2017 wurden in dem zentralamerikanischen Land durchschnittlich 338 Menschen im Monat ermordet. 2012, als Arce nach Honduras kam, war die Zahl sogar doppelt so hoch. Bis 2015 berichtete der Journalist für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) aus der Hauptstadt Tegucigalpa. Er fuhr zu Tatorten und versuchte widerspenstigen Polizisten und traumatisierten Zeugen Informationen abzuringen. Arce berichtete über Polizeigewalt, Auftragsmorde, überfüllte Gefängnisse, Jugendkriminalität, Kokainschmuggel und Erpressung – ein Job, der vor Ort auch "roter Journalismus" genannt wird, wegen des vielen Bluts. Und auch die Journalisten selbst begeben sich in Gefahr: Seit dem Militärputsch 2009 sind laut Reporter ohne Grenzen mindestens 30 Journalisten in dem Land getötet worden.

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In seinem neuen Buch, Blood Barrios: Dispatches from the World's Deadliest Streets, führt Arce den Leser durch Verbrechen, die er in Tegucigalpa recherchiert hat. Wir haben mit Arce darüber gesprochen, warum er nach Honduras gegangen ist, wie er es lebend wieder rausgeschafft hat und was Menschen, die in wohlhabenderen Weltregionen wohnen, mit all dem zu tun haben.


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VICE: Warum haben Sie den Job in Honduras überhaupt angenommen?
Alberto Arce: Es war einfach der einzige Job, den ich damals bekommen habe. Ich lebte mit Frau und Kind in Guatemala und kam mit dem Geld, das ich dort verdient habe, nicht über die Runden. Der Situation in Tegucigalpa war ich mir anfangs nicht bewusst. Ich bin mit meiner Frau und meinem Kind nach Tegucigalpa gezogen, ohne zu wissen, dass du in dieser Stadt niemandem absolute Sicherheit garantieren kannst. Als Arbeiter brauchst du nun mal einen Job und nimmst, was du kriegen kannst. Drei Jahre sind wir dort geblieben, bis meine Firma entschieden hat, dass meine Familie ein zu leichtes Ziel ist und das Risiko nicht wert.

"Ich fragte den Polizisten: 'Warum weint der?' Und der Polizist antwortete: 'Der weint, weil er weiß, dass wir die normalerweise umbringen. Und wir bringen den hier nicht um, weil du da bist.'"

Was bedeutet "roter Journalismus"?
Wenn du als Auslandskorrespondent in Tegucigalpa oder San Pedro Sula arbeitest und wissen willst, was vor sich geht, musst du ständig auf der Straße sein und Verbrechen folgen. Damit meine ich, im Polizeiwagen mitfahren oder hinterm Krankenwagen her zum nächsten Tatort. Dort angekommen findest du den Anfang deiner Story und durch geschickte Fragen arbeitest du dich nach oben, um die verschiedenen Lügen und Erklärungen darüber aufzudecken, was in dem Land los ist.

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In welchem Augenblick haben Sie zum ersten Mal begriffen, auf was Sie sich da eingelassen hatten?
Eines Nachts um 1 Uhr, ich war gerade mit eine Streife unterwegs, sah ich, wie ein MS13-Gangmitglied von der Polizei festgenommen wurde. Er war auf den Knien, trug Handschellen und weinte. Für mich war das ein Schock, also fragte ich den Polizisten: "Warum weint der?" Und der Polizist antwortete: "Der weint, weil er weiß, dass wir Leute wie ihn normalerweise umbringen. Und wir bringen den hier nicht um, weil du da bist." Ich war erst zwei Wochen im Land und schon sagt mir ein Polizist ganz offen, dass sie Kriminelle töten. In diesem Moment wurde mir klar, auf was ich mich dort eingelassen hatte. Ich brauchte aber weitere anderthalb Jahre, um einen vernünftigen Artikel über Polizeigewalt zu schreiben.

Worum genau ging es in diesem Artikel?
Ich habe eines Tages die Zeitung aufgeschlagen und sah das Bild eines Gangmitglieds, das Polizisten gefoltert hatten. Am nächsten Tag habe ich versucht, den Typen ausfindig zu machen. Weil er festgenommen worden war, ging ich davon aus, dass er noch lebt. Aber er war verschwunden. Ich erfuhr dann, dass die Polizei Fotos von ihren "Sessions" mit einheimischen Fotografen teilt. Ein Journalist einer der größten Zeitungen des Landes hatte das Bild versehentlich veröffentlicht. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber er meinte nur, man habe ihm gedroht, falls er darüber spricht. In Honduras haben Polizei und Lokalreporter einen teuflischen Pakt geschlossen. Sie teilen Informationen untereinander. Gangmitglieder sind ihre Trophäen. Es ist krank: Polizisten, Journalisten, Kameramänner – sie alle spielen dieses Spiel, bei dem sie untereinander Fotos von Leichen teilen.

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Warum tun die das?
Laut der herrschenden öffentlichen Meinung in Honduras müssen Gangmitglieder ausgerottet werden. Die allermeisten stimmen dem zu: Die Polizisten, die es umsetzen, die Politiker, die es stillschweigend gutheißen, und die Gesellschaft an sich. Und in dieser Gesellschaft bewegen sich die Journalisten, die sich dazu entscheiden, keine Fragen zu stellen. Teilweise sind sie von Politikern und Polizisten gekauft, aber viele stimmen dieser Säuberungspolitik auch generell zu. Niemand hat ein ernsthaftes Interesse, dem ein Ende zu bereiten.

Hat man auch versucht, Sie zu bestechen?
Nein. Ich weiß nicht, warum. Ich bin auch nie direkt bedroht worden. Dafür habe ich von vielen Menschen immer wieder gesagt bekommen: "Wenn du damit weitermachst, bekommst du Probleme." Das hörst du so oft, dass es wehtut. Manche Menschen sagen es, weil du ihnen am Herz liegst und sie sich Sorgen machen, andere wollen dir damit Angst einjagen. Nach zwei oder drei Jahren sind dann irgendwann nicht mehr viele Menschen übrig, die überhaupt noch mit dir reden wollen. Du fühlst dich isoliert. Was die Gefahr angeht, ist es einfach so, dass dort ständig Menschen auf der Straße umgebracht werden, nur weil jemand ihr Geld, ihr Handy oder ihren Rucksack haben will. Allen kann alles aus jedem blöden Grund passieren.

Haben Sie jemals befürchtet, Ihre Informanten in Gefahr zu bringen?
Ich habe ein langes Interview mit dem Anwalt einer Bauernbewegung geführt, der zwei Tage nach unserem Gespräch ermordet wurde. Ich glaube aber nicht, dass das etwas mit mir zu tun hatte. Aber du gewöhnst dich auch daran, dass Menschen, mit denen du sprichst, später getötet werden. Eins der Probleme in Honduras ist, dass aufgrund der grassierenden Straffreiheit niemand wirklich weiß, warum die Menschen umgebracht werden.

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Nach El Salvador hat Honduras die höchste Tötungsrate der Welt. Wer sind die Opfer?
Bei einer Mordrate wie in Honduras, bei der jedes Jahr 7.000 Menschen umgebracht werden, kannst du davon ausgehen, dass das nicht alles Kriminelle sind. Manche sind nur Passanten, irgendwelche Menschen auf der Straße. Aber auch als Krimineller hast du es nicht verdient, getötet zu werden. Als jemand, der in den USA oder Europa lebt, ist es allerdings unmöglich, über die Entscheidungen dieser jungen Menschen zu urteilen. Sie leben in bitterer Armut und Perspektivlosigkeit. Wenn du an einem Tag mit dem Transport von Kokain so viel verdienen kannst, wie in einem Jahr schwerer Fabrikarbeit mit 14-Stunden-Schichten, dann machst du das. So funktioniert Kapitalismus nun mal: größtmöglicher Gewinn bei geringstmöglichem Aufwand.

In Ihrem Buch sagen Sie, dass jede Bahn Koks im Westen einem Toten in Honduras entspricht.
Ich bin kein Moralist. Ich verurteile niemanden, der Drogen konsumiert. Unser Konsum hat allerdings eine Konsequenz. Honduras liegt geographisch zwischen Kolumbien und Venezuela auf der einen Seite sowie den USA im Norden. Damit ist es ein logistischer Knotenpunkt für den Drogentransport. Das Kokain kommt per Schiff oder Flugzeug an der Küste im Osten an und geht von dort über den Landweg durch Mexiko in die USA. Die Gangs kämpfen um die Kontrolle dieser Routen, aber sie kaufen und verkaufen auch. Außerdem bestechen und kontrollieren sie Polizisten, Soldaten und Politiker bis in die höchsten Ränge, um sich ihre Profite zu sichern. Als Folge bleiben diese Gegenden quasi rechtsfreie Räume, in denen jeder versucht, sich durch Erpressung, Raub und Entführungen zu bereichern. Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen dem Kokainkonsum in einer nordamerikanischen Stadt und der Gewalt in Honduras. Im Grunde ist es aber die gleiche Verbindung wie die zwischen dem Kauf billiger Klamotten bei Zara und H&M und den Arbeitern, die diese Klamotten unter grauenvollen Bedingungen herstellen.

Haben Sie trotz allem eine Hoffnung, dass sich die Lage in Honduras bessert?
Ich sehe keine Besserung. Ich sehe, dass sich Honduras gerade in ein autoritäres Regime verwandelt, das von Armee und Politikern kontrolliert wird. Diese Entwicklung vollzieht sich schleichend. Die offizielle Zahl der Morde geht zurück, aber ich glaube dem nicht. Wir brauchen einen Rechtsstaat, sonst steuert Honduras auf eine Anomie zu, also einen Zustand komplett fehlender sozialer Normen.

Sie sagen, dass ich Journalisten mit dem gängigen "Wir arbeiten, damit die Welt davon erfährt" selbst belügen. Glauben Sie das wirklich?
Ich werde mich nicht mit den Lokaljournalisten vergleichen, aber man hat in seinem Leben immer eine Wahl, wer man sein will. Ich glaube nicht, dass meine Arbeit einen großen Unterschied macht. Ich bin hier als Zeuge. Wenn Amerikaner mein Buch lesen, möchte ich, dass sie verstehen, dass die Person, die ohne vernünftige Papiere in einem Restaurant arbeitet, ein Bürger mit den gleichen Rechten ist wie sie selbst. Diese Person hat Honduras verlassen, weil sie dort nicht leben kann. Und wenn Politiker sagen, dass sie Einwanderer zurück in ihre Heimatländer schicken wollen, schicken sie sie oft genug in den Tod. Für mich ist das Faschismus.

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