FYI.

This story is over 5 years old.

flüchtlinge

Die Bilder aus Mexiko zeigen, wie Deutschland 2015 ausgesehen hätte

Das Gerede von der "Grenzöffnung" Merkels verschweigt, was die Alternative gewesen wäre.
Eine Frau aus der Migranten-Karawane in Tijuana mit ihrem Kind.
Collage bestehend aus: Grenze: imago | Agencia EFE || Frau mit Kind: imago | ZUMA Press

Ihr Bild geht gerade um die Welt: Das Mädchen ist vielleicht drei oder vier Jahre alt, außer einem T-Shirt und einer Windel hat sie nichts an, und sie weint direkt in die Kamera.

Entstanden ist das Foto am Sonntag an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, kurz nachdem Beamte der Customs and Border Patrol mehrere Kanister Tränengas in die Menge gefeuert hatten. Knapp 500 Frauen und Männer hatten versucht, den Grenzübergang San Ysidro zu stürmen. Der Einsatz war ein Erfolg: Reporter berichteten von Eltern, die mit würgenden Kindern auf dem Arm fliehen. "Viele Kinder sind ohnmächtig geworden, meine Tochter hat auch Tränengas abbekommen", erzählt eine Frau. "Ein Mädchen hat fast nicht mehr geatmet."

Anzeige

Auch auf VICE: Die Abschiebehölle von Tijuana


Die Bilder lösten in den USA Empörung aus: "Das ist eine verabscheuenswürdige Menschenrechtsverletzung und ein Akt der puren Grausamkeit", schreibt die kalifornische Abgeordnete Wendy Carrillo auf Twitter, der demokratische Senator von Hawaii, Brian Schatz spricht von "einem neuen Tiefpunkt".*

Auch in Deutschland sorgten die Bilder für Empörung. Um ein Haar hätte es 2015 an unseren Grenzen genauso ausgesehen – wenn Merkel getan hätte, was sich seitdem offenbar so viele wünschen: die Grenzen zu schließen.

Ist es das, was Leute wie Merz wollen?

Dazu wäre es auch fast gekommen: Am Abend des 12. September 2015 setzten sich aus ganz Deutschland 21 Hundertschaften der Bundespolizei in Bussen und Helikoptern nach Bayern in Bewegung. Ihr Auftrag: die Grenze zwischen Deutschland und Österreich abzuriegeln.

Eine Woche vorher hatten Bundeskanzlerin Merkel und der damalige österreichische Kanzler Faymann beschlossen, Tausende in Ungarn festsitzende Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak unbürokratisch in ihre Länder einreisen zu lassen. "Eine Ausnahme aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze" sollte das sein, erklärte ein Regierungssprecher am Abend des 5. September. Doch die "akute Notlage" sei jetzt erstmal vorbei. Um die 20.000 Menschen waren an diesem Wochenende in München angekommen.

Knapp eine Woche danach schien die Zeit gekommen, die Ausnahme zu beenden. Der Flüchtlingsstrom am Münchner Hauptbahnhof riss nicht ab, die bayerischen Kommunen meldeten, die Lage gerate außer Kontrolle. Am 12. September, einem Samstag, beschloss die Kanzlerin in einem Telefonat mit den Ministern und Parteichefs Horst Seehofer, Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier, Thomas de Maizière und Peter Altmaier, die Grenze nach Österreich am Sonntagnachmittag zu schließen und Migranten ohne notwendige Papiere "auch im Falle eines Asylgesuches" abzuweisen. Und die Bundespolizei setzte sich in Bewegung.

Anzeige

Was dann passierte, hat der Welt-Journalist Robin Alexander in seinem Buch Die Getriebenen dokumentiert: Keine drei Stunden bevor die Schlagbäume runtergehen sollten, kamen Innenminister Thomas de Maizière Zweifel, ob man Hunderte, vielleicht Tausende von Flüchtlingen wirklich so einfach zurückweisen könne.

Tatsächlich war die Lage unberechenbar. Was würde passieren, wenn die Menschen es trotzdem versuchen? Würde man Gewalt anwenden müssen, mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummiknüppeln auf die Verzweifelten einprügeln? Ausgehungerte Familien mit Hunden durch die bayerischen Wälder jagen, wenn sie versuchen, die Grenzkontrollen zu umgehen? Was für ein Bild von Deutschland würde das vermitteln?

Am Ende war es wohl vor allem die Angst vor diesen Bildern, die Merkel und de Maizière die schon beschlossene Grenzschließung wieder absagen ließ – weil ihnen niemand garantieren konnte, dass es dazu nicht kommen würde. Und so kam es, dass die "Ausnahme" vom September auf Monate verlängert wurde.

Seitdem ist das unsinnige Wort von der "Grenzöffnung", die eigentlich nur eine Weigerung war, die Grenze zu schließen, zur Achillesferse der CDU geworden. Von den drei Kandidaten, die Angela Merkel im Dezember den Parteivorsitz abnehmen wollen, wollen zwei nichts mit dieser Entscheidung zu tun haben.

Jens Spahn und Friedrich Merz tun jetzt so, als sei Merkels Entscheidung damals völlig unverständlich, ja sogar unverantwortlich gewesen. Aber alle, die der Kanzlerin jetzt vorwerfen, damals falsch gehandelt zu haben, sollten sich die Alternative ganz genau anschauen.

Dazu braucht es nicht viel Fantasie: Sie müssen sich nur die Bilder aus Mexiko ansehen.

Folge Matern auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.

2a1219cf12804c15afe8a386e8c65921