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Ein Neurowissenschaftler erklärt, warum Crystal Meth und das ADHS-Mittel Adderall fast identisch sind

Dr. Carl L. Hart ist Psychiatrieprofessor an der Columbia University und erklärt, was er in seinen Jahren als Forscher gelernt hat—und auch, welche Schlüsse man zieht, wenn man wie er Methamphetamin selbst probiert.
Dr. Carl L. Hart | Foto mit freundlicher Genehmigung von The Influence

Dieser Artikel konzentriert sich auf die Ähnlichkeit von Methamphetamin und dem US-amerikanischen Medikament „Adderall", das zum Beispiel bei Hollywood-Stars beliebt ist. Dr. Carl L. Harts Arbeit konzentriert sich ausschließlich auf die wissenschaftliche Analyse der Droge und ihre Wirkung auf den menschlichen Körper und das menschliche Gehirn. Dr. Harts Biographie ‚High Price' ist unter deutschen Drogenexperten kontrovers, denn einige behaupten, Hart würde Sucht, Psychosen und Zahnfäule verharmlosen. Tim Pfeiffer-Gerschel von der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht stimmt Harts Behauptung zu, laut der es problematisch sei, Crystal Meth als „die schlimmste Droge aller Zeiten" zu bezeichnen oder von „landesweiten Epidemien" zu sprechen, da dies das Vertrauen der Konsumenten in Drogenaufklärungsprogramme zerstören könne.

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Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit The Influence veröffentlicht. The Influence berichtet über alle Aspekte des menschlichen Verhältnisses zu Drogen.

Die lange U-Bahn-Fahrt vom Flughafen in Washington, D.C. nach Silver Spring war ungewöhnlich angenehm. Ich hatte etwa eine Stunde zuvor eine geringe Dosis Methamphetamin genommen. Es war mein 40. Geburtstag—der 30. Oktober 2006—und ich war unterwegs zu einer Konferenz, die vom US-amerikanischen National Institute on Drug Abuse (NIDA) finanziert war.

Ein Freund hatte ein Rezept für die Substanz und schenkte mir ein paar Tabletten, weil er wusste, dass ich Amphetamin-Experte war, ohne jemals selbst etwas davon genommen zu haben. Ich saß im Zug und fühlte mich hellwach, geistig angeregt und euphorisch friedlich.

Und als nach ein paar Stunden die Wirkung nachließ, dachte ich mir „Das war schön", ging trainieren und genoss eine produktive zweitägige Konferenz. Na gut, vielleicht habe ich sie nicht wirklich genossen—immerhin war es eine NIDA-Konferenz. Doch ich hatte kein unstillbares Verlangen nach Drogen oder den Drang, mehr zu nehmen. Ich hatte auch keine seltsamen Verhaltensweisen an den Tag gelegt—ich war definitiv weit vom Klischeebild eines „Meth Heads" entfernt.

Woher kommt dann eigentlich dieses typische Bild, das die Leute von dieser Droge haben?

Vielleicht hat es etwas mit den öffentlichen „Aufklärungskampagnen" zu tun, die Menschen vom Metamphetaminkonsum abhalten sollen. Diese Kampagnen zeigen für gewöhnlich auf explizite und ausführliche Art irgendeine arme junge Person, die zum ersten Mal die Droge ausprobiert und dann zu untypischen Verhaltensweisen übergeht, wie Prostitution, von den Eltern stehlen oder Fremde attackieren, um an genug Geld für die nächste Dosis zu kommen. Am Ende solcher Werbungen erscheint zum Beispiel der Schriftzug: „Meth—not even once". Wir haben natürlich auch alle schon die berüchtigten „Meth Mouth"-Bilder gesehen, in denen extreme Zahnfäule fälschlich als direkte Folge des Meth-Konsums dargestellt wird.

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Diese Medienkampagnen tragen nichts dazu bei, den Konsum der Droge zu verhindern oder verringern. Sie liefern nicht einmal echte Fakten zu Meth. Das einzige, was sie tun, ist es, falsche Annahmen weiterzuverbreiten.

In einer derart beeinflussten Gesellschaft ist so gut wie niemandem klar, dass Methamphetamin fast genau dieselbe Wirkung hat wie das verbreitete ADHS-Medikament d-Amphetamin (Dextroamphetamin). In den USA ist dieses Mittel bereits seit geraumer Zeit zugelassen und wird zum Beispiel in Form des Medikaments Adderall vertrieben; dabei handelt es sich um eine Mischung aus Amphetamin und Dextroamphetamin-Salzen.

Ja, ich weiß. Eine Behauptung wie diese muss ich schon ausführlicher erklären.

Ich will nämlich nicht behaupten, dass Menschen, die Adderall nehmen, sich jetzt Sorgen machen müssen, dass sie einer unausweichlichen und zerstörerischen Sucht zum Opfer fallen werden, sondern ich will damit sagen, dass wir Methamphetamin mehr wie d-Amphetamin sehen sollten. Sowohl bei Methamphetamin als auch bei d-Amphetamin handelt es sich um Medikamente, die in den USA von der Lebensmittel- und Arzneibehörde FDA zugelassen sind. Außerdem ist Methamphetamin auch zur Behandlung von Adipositas zugelassen und d-Amphetamin zur Behandlung von Narkolepsie.

Ich möchte an dieser Stelle ehrlich sein und einräumen, dass ich selbst einst Methamphetamin für viel gefährlicher gehalten habe als d-Amphetamin, obwohl die chemische Struktur der beiden Substanzen fast identisch ist. Ende der 1990er, als ich Doktorand war, sagte man mir, dass die zusätzliche Methylgruppe im Methamphetamin es fettlöslicher mache (will heißen: es gelangt schneller ins Hirn) und dass es deswegen anhängiger mache als d-Amphetamin—und das habe ich ohne Zögern geglaubt.

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Erst nachdem ich meinen Doktortitel schon mehrere Jahre lang hatte, wurde diese Überzeugung durch Beweise zerstreut. Diese Beweise stammten nicht nur aus meiner eigenen Arbeit, sondern auch aus der anderer Forscher.

In unserer Studie haben wir 13 Männer, die regelmäßig Methamphetamin nahmen, ins Labor geholt. Wir haben jedem Mann an unterschiedlichen Tagen entweder eine Dosis Methamphetamin, eine Dosis d-Amphetamin oder ein Placebo verabreicht. Die Studie wurde doppelblind durchgeführt. Wir haben den Vorgang im Laufe mehrerer Tage mit jeder Person wiederholt, mit mehreren Dosen jedes Mittels.

Wie d-Amphetamin hat auch Methamphetamin unseren Testpersonen mehr Energie verliehen und ihre Konzentrationsfähigkeit gesteigert. Außerdem wurden subjektive Gefühle der Müdigkeit und kognitive Störungen, die meist von Erschöpfung und Schlafmangel herbeigeführt werden, reduziert. Beide Mittel erhöhten den Blutdruck und die Herzfrequenz. Das sind zweifellos die Wirkungen, die erklären, warum die Streitkräfte mehrerer Länder, darunter die der USA, weiterhin d-Amphetamin einsetzen.

Als wir unseren Testpersonen die Wahl zwischen einer Dosis einer der Drogen und verschiedenen Geldbeträgen gaben, wählten sie ähnlich oft das d-Amphetamin, wie sie das Methamphetamin wählten. Diese regelmäßigen Methamphetamin-Konsumenten konnten den Unterschied zwischen den zwei Substanzen nicht erkennen. (Es ist möglich, dass die zusätzliche Methylgruppe die Fettlöslichkeit des Methamphetamins tatsächlich erhöht, aber dass diese Wirkung zu geringfügig ist, als dass menschliche Konsumenten den Unterschied spüren könnten.)

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Es ist auch wahr, dass die Wirkung von gerauchtem Methamphetamin intensiver ist als die Wirkung einer Tablette, die d-Amphetamin enthält. Doch diese Intensität kommt von der Darreichungsform und nicht von dem Mittel selbst. Das Rauchen von d-Amphetamin führt zu fast derselben Wirkung wie das Rauchen von Methamphetamin. Dasselbe würde zutreffen, wenn jemand die beiden Mittel durch die Nase ziehen würde.

Als ich Washington verließ und nach New York zurückkehrte, dachte ich darüber nach, wie ich mich früher an der Täuschung der Öffentlichkeit beteiligt hatte, indem ich die Gefahren von Methamphetamin aufgebauscht hatte. Zum Beispiel hatte ich in einer meiner früheren Studien, die das hohe Suchtpotential der Droge dokumentieren sollte, festgestellt, dass Methamphetamin-Konsumenten, wenn man sie vor die Wahl stellte, etwa in 50 Prozent der Fälle eine Methamphetamin-Dosis von 10 Milligramm einem Dollar in bar vorzogen.

2001 deutete das für mich darauf hin, dass die Droge süchtig machte. Doch was es wirklich zeigte, war meine eigene Unwissenheit und Voreingenommenheit. Denn wie ich in einer späteren Studie feststellte, hätten die Konsumenten fast jedes Mal das Geld genommen, wenn ich den Betrag auch nur auf fünf Dollar erhöhte—obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wussten, dass sie das Geld erst ein paar Wochen später, nach Ende der Studie, erhalten würden.

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All das sollte uns lehren, wie sehr mediale Verzerrung selbst die wissenschaftliche Forschung bezüglich des Drogenkonsums beeinflussen kann.

Bei mir hat es fast 20 Jahre gedauert und 20 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Drogenkonsum gebraucht, bis ich meine eigene Voreingenommenheit im Hinblick auf Methamphetamin erkennen konnte. Ich kann nur hoffen, dass es nicht noch einmal so lange dauert und noch einmal so viel Forschungsarbeit braucht, bis die Öffentlichkeit wiederum versteht, dass verbreitete ADHS-Medikamente, die täglich von unzähligen Menschen eingenommen werden, im Grunde identisch mit der Droge Meth sind.

Und ich hoffe, dass dieses Wissen dazu führt, dass Menschen, die Meth nehmen, nicht länger so sehr verurteilt werden, und man ihnen stattdessen mit mehr Empathie begegnet.

Dr. Carl L. Hart ist Psychiatrie-Professor an der Columbia University. Er hat außerdem das Buch High Price: A neuroscientist's journey of self-discovery that challenges everything you know about drugs and society geschrieben.


Titelfoto: Dr. Carl L. Hart | Foto mit freundlicher Genehmigung von The Influence