Wie es ist, in der Umgebung des ehemaligen KZ Mauthausen aufzuwachsen
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Wie es ist, in der Umgebung des ehemaligen KZ Mauthausen aufzuwachsen

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so ist es fast verstörend, mit welcher Beharrlichkeit das Thema Konzentrationslager totgeschwiegen und wie es zugleich in eine beklemmende Alltäglichkeit eingebunden wurde.

Der Autor dieses Artikels wurde 1972 in Mauthausen geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend. Nach der Matura an einer Linzer Realschule verließ er den „Donaumarkt", um in den USA Literaturwissenschaften und Germanistik zu studieren. Er ist heute Professor für Ästhetik des Nationalsozialismus an der philologischen Fakultät der University of the Alterstate und lebt mit seiner Familie in Madison, USA.

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Im Mai 2015 hat sich die Befreiung des KZ Mauthausen zum 70. Mal gejährt. Es gibt in Österreich wohl nur wenige Orte, an denen diese Vergangenheit derart präsent ist und zugleich so beharrlich und entschlossen verdrängt wurde, wie Mauthausen. Dieser Verdrängung der Nachkriegszeit bis weit in die 1990er Jahre hinein, weicht seit einigen Jahren eine erwürgende Gedenkpolitik, wie ein ehemaliger Schulkollege von mir geschrieben hat. Aber scheint nicht mit entsprechender zeitlicher Distanz und einer schwindenden Zahl an „unangenehmen" Zeitzeugen heute der Weg frei für eine lückenlose und gründliche Aufarbeitung?

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so ist es fast verstörend, mit welcher Beharrlichkeit das Thema Konzentrationslager totgeschwiegen und wie es zugleich in eine beklemmende Alltäglichkeit eingebunden wurde.

Ich wurde in den 1970er Jahren in Mauthausen als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren. Vor kurzem bin ich an den Ort meiner Kindheit und Jugend zurückgekehrt, um einige Fragen an mich und die Gesellschaft, die ebendiese Kindheit geprägt hat, zu stellen. Eine Familiengeschichte, die väterlicherseits seit Generationen an die Marktgemeinde an der Donau gebunden ist und in der der Granit immer eine wichtige Rolle gespielt hat—mein Urgroßvater war beispielsweise Arbeiter im ersten Steinbruch in Heinrichsbrunn und verbrachte den Großteil seines Lebens dort oder biertrinkend im nahegelegenen Wirtshaus.

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Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so ist es fast verstörend, mit welcher Beharrlichkeit das Thema Konzentrationslager totgeschwiegen und wie es zugleich in eine beklemmende Alltäglichkeit eingebunden wurde. Fragen zum Komplex, die der kindlichen Neugierde geschuldet waren, wurden meist dahingehend beantwortet, dass es sich dabei um etwas ganz Fürchterliches gehandelt hatte. Man solle einfach nicht mehr darüber reden. Man müsse schließlich in die Zukunft blicken.

Viele waren auch der Auffassung, dass es nur gut und recht wäre, wenn man das Ganze in Grund und Boden gestampft hätte und so die unbequeme Erinnerung an die eigene Geschichte, für die man jede Verantwortung vehement abstritt, endgültig verbannen könnte. Das „Lager"—wie der Erinnerungsort, an dem die Toten gegenwärtig sind, von den Mauthausenern gemeinhin bezeichnet wird—ist in Bezug auf ebendiese eine Leerstelle. Ein exterritorialer Raum, der zwar physisch präsent ist und von einem Hügel des unteren Mühlviertels über der idyllischen Marktgemeinde thront.

Der ehemalige Steinbruch und die „Todesstiege". Alle Fotos vom Autor

Ein Raum, der im Selbstverständnis der Lokalbevölkerung jedoch lange nur insofern Relevanz hatte, als dass der ehemalige KZ-Steinbruch sich als Ort zum Autowaschen an einem sonnigen Sommernachmittag eignete, als dass die sogenannte Todesstiege samt heutigem Denkmalpark bei Familien für sonntägliche Spaziergänge beliebt waren. Manchmal suchten wir Kinder im Sommer etwas Abkühlung im kühlen Nass im Teich des Steinbruches. In jenem Teich unterhalb der „Fallschirmspringerwand", wo unzählige Menschen ihren Tod fanden. Irgendwann wollte man wohl von offizieller Seite diesem Treiben ein Ende bereiten und errichtete beim Aufgang zur Todesstiege ein Hinweisschild „Baden, Tauchen, Autowaschen, Ballspielen etc. Verboten!".

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Aber selbst heute noch wird beispielsweise der kleine Wald hinter dem Konzentrationslager—nahe der Aschenhalde—von so manchem Jäger aus dem Ort für Freizeitvergnügen genutzt, ist er Spaziergängern ein beliebtes Naherholungsgebiet. Sicher, man versuchte das Gelände auf diese Art und Weise in die Alltäglichkeit zu reintegrieren. Es wäre aber eine Erhebung wert, wie viele Mauthausener noch nie in ihrem Leben das Innere des „Lagers" betreten haben.

Was die Verknüpfung von kapitalistischer und menschlicher Ausbeutung und wirtschaftlichem Profit betrifft, so war man in der Region immer schon auf eine niederträchtige Art und Weise erfinderisch. So etwa die lokale Firma Poschacher, die sich an den republikanischen spanischen Häftlingen aus dem Konzentrationslager bediente—mehr dazu gibt es hier, hier und hier nachzulesen.

Heute wird dies von den Nachfahren gönnerisch als humanitäre Geste bürgerlicher Wohltätigkeit uminterpretiert, da es den Häftlingen dort so viel besser ergangen sei als im Hauptlager. Ein Mauthausener Oskar Schindler sozusagen. Ebendieses Unternehmen verlegte seinen Firmensitz in der Nachkriegszeit—nicht zuletzt aus Marketingüberlegungen—nach Gusen, einem nach Sicht der Firmeninhaber historisch nicht sonderlich belasteten Ort. Auf dem Gelände des dortigen Konzentrationslagers fuhr man mit dem Granitabbau fort und verkaufte ihn fleißig an die lokale als auch internationale Kundschaft.

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Der Nachfrage nach dem Stein, aus dem das tausendjährige Reich gebaut werden sollte, schienen auch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts keinen Abbruch getan zu haben. So erinnere ich mich beispielsweise, dass meine Familie und viele der befreundeten Arbeiterfamilien in gegenseitiger Nachbarschaftshilfe Granitplatte um Granitplatte in ihren Gärten und Häusern verlegten. Ganze Häuser wurden damals mit lokalem Granit eingekleidet, als wollte man sich damit vor der unbequemen Vergangenheit abschirmen und in eine schöne granitere Zukunft blicken.

Ein Steinbruch in St. Georgen an der Gusen.

Die wohl skurrilste Idee, die mir in diesem Zusammenhang in Erinnerung ist, ist die Erfindung eines geistreichen Bekannten: Aus großen Granitsteinen mauerte er eine Grillstelle für das sommerliche Grillfest. Obgleich diese Ideen auch in unserer Familie oftmals überlegt wurden, scheiterte es letztendlich doch an der Umsetzung und wir mussten mit einem selbst geschweißten Metallgrill vorlieb nehmen.

Doch nicht nur Granit wurde für den Eigenheimbau benötigt, auch Quarzsand war für diverse Maurerarbeiten beliebt. Und auch den findet man in der Region, nämlich, um genau zu sein, auf dem Gelände einer ehemaligen Baustelle namens „Bergkristall" in St. Georgen an der Gusen, auf welcher die Häftlinge des KZ Gusen ab 1944 acht Kilometer lange bombensichere Stollen in das Gestein treiben mussten, um dort Flugzeugteile für das berüchtigte Strahlenflugzeug Messerschmitt Me 262 herzustellen.

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Auch die von den KZ-Häftlingen errichteten Stollen wollten einer wirtschaftlichen Nutzung zugeführt werden, und so kam es, dass ein geschäftstüchtiger Mann in den Stollen mit der Champignonzucht begann.

Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich manchmal nach der Schule mit meinem Vater nach St. Georgen an der Gusen fuhr, um von einem lokalen Unternehmer auf diesem Gelände Quarzsand auf den Anhänger zu schaufeln. Bei der Ausfahrt wurde dann auf einer großen Waage das Gewicht bestimmt, und mein Vater beglich vom Auto heraus den offenen Betrag in bar. Dass sich hinter dieser Sandgrube eine riesige Stollenanlage befand, davon wusste ich damals nichts. Einzig das Gelände wirkte düster und befremdlich.

Doch damit nicht genug: Auch die von den KZ-Häftlingen errichteten Stollen wollten einer wirtschaftlichen Nutzung zugeführt werden, und so kam es, dass ein geschäftstüchtiger Mann in den Stollen mit der Champignonzucht begann. Das sind auch Geschichten, die ein junger Guide an der Gedenkstätte Mauthausen, der uns durch das von der Bundesimmobiliengesellschaft renovierte und nunmehr für die Öffentlichkeit eingeschränkt zugängliche Stollensystem Gusen Bergkristall führt, den Besuchern vermittelt.

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An diesem wolkenverhangenen Vormittag betrete ich mit einer Gruppe von rund 40 Menschen, hauptsächlich aus der Region, dieses weitverzweigte und abgeschirmte Lagersystem. Dabei zeigt sich eine grundlegende Ambivalenz im Umgang mit und bei der Vermittlung dieses düsteren Kapitels unserer Geschichte. Ich bin mir bei vielen Besuchern nicht sicher, was sie in die Stollen hineinzieht. Ist es Neugierde und die Faszination für eine gewisse Form an Monumentalität? Wenn beispielsweise der Guide betont, dass wir uns hier flächenmäßig auf dem größten öffentlichen Bauwerk der Republik Österreich befinden, größer als das Schloss Schönbrunn.

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Oder ist es der Versuch ein Verständnis und Mitgefühl für jene Menschen zu erlangen, die hier beim Bau der Stollen oder danach bei der Flugzeugproduktion ums Leben gekommen sind? Ich habe das Gefühl, dass bei vielen Teilnehmern des Rundganges ersteres zumindest immer wieder durchschlägt. Das Ganze dann auch noch gepaart mit dem lokalen Verständnis von Humor—als wir durch eine 1,6 Meter hohe Röhre hindurch müssen, vernehme ich folgende Konversation: „Do muass i jo buckeln wie dahoam." Und ein anderer erwidert: „Du brauchst di jo goar net ducken, bist jo eh schon so kla, gell." Humoristische Distanz, um das Unerträgliche erträglicher zu machen? Ich hege meine Zweifel daran.

War der örtliche Fußballverein zu einem Gastspiel in der Region unterwegs, begrüßte man das Mauthausener Team zumeist charmant als die „KZ-ler".

Zumindest muss man eingestehen, dass es auch die Umgebung den Mauthausenern nicht unbedingt leichter gemacht hat, mit ihrem schweren Erbe umzugehen. War der örtliche Fußballverein zu einem Gastspiel in der Region unterwegs, begrüßte man das Mauthausener Team zumeist charmant als die „KZ-ler". Und auch ich erinnere mich, dass ich es oftmals vermied, wenn man nach meiner Herkunft fragte, Mauthausen zu nennen und den Nachbarort Ried oder Linz angab. Diese externen Zuschreibungen machten einem in der Tat den offensiven und selbstreflexiven Umgang mit der Geschichte vor Ort nur noch schwerer. Erst heute, mit der entsprechenden Distanz, kann ich zumindest ein eingeschränktes Verständnis für damalige Abwehrreaktionen aufbringen.

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Eine Champignonzucht in St. Georgen an der Gusen.

Heute verkommt Mauthausen zu einer charakterlosen Agglomeration mit direkter Bundesstraßenanbindung an die Landeshauptstadt Linz, die man mit dem Auto in rund 20 Minuten erreichen kann. Einige Bauwerke werden aber auch hier mit neuem Leben befüllt. Das ehemalige Wirtschaftsgut der SS, der Frellerhof, der in der Nachkriegszeit unter dem Namen der lokalen Bauernfamilie firmierte, hat zu seinen semantischen Wurzeln zurück gefunden und ist heute als Mostheuriger und Wirtshaus direkt unterhalb des Konzentrationslagers ein beliebtes Ausflugsziel für kulinarische Erlebnisse (siehe dazu auch eine Sequenz im Film KZ des britischen Dokumentarfilmers Rex Bloomstein).

Und es wird auch wieder fleißig gebaut in Mauthausen. Was denken sich Menschen heute, die neu und selbstgewollt in den Donaumarkt in ihre Eigenheime ziehen? Dem gebetsmühlenartigen Diktum der Lokalbevölkerung, man habe von all den Gräueltaten nichts gewusst und es gäbe keine Kollektivschuld, weicht nunmehr mit entsprechender zeitlicher Distanz eine offenere Integration dieses Geschichtsabschnitts in das zusammengestückelte Selbstbild einer Marktgemeinde im Unteren Mühlviertel.

Andere wiederum sind unbelehrbar. So etwa der örtliche pensionierte Zahnarzt, der sich in einem Gerichtsprozess wegen des Verdachts der NS-Wiederbetätigung verantworten musste und zu einem Jahr bedingt verurteilt wurde.

Man hat erkannt, dass das Thema KZ durchaus auch für den Ort vorteilhaft besetzt werden kann: sei es eine selbstgesteigerte Präsenz der Lokalpolitik im Zirkus der offiziellen Gedenkpolitik und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeit, oder seien es die wirtschaftlichen Segnungen der Tourismusindustrie. Ein Donaumarkt also, der sich heute als „historisch, dynamisch, modern" gibt.

Andere wiederum sind unbelehrbar. So etwa der örtliche pensionierte Zahnarzt, der sich in einem Gerichtsprozess wegen des Verdachts der NS-Wiederbetätigung verantworten musste und zu einem Jahr bedingt verurteilt wurde. Er hatte Briefe an seine Gemeindevertreter geschrieben, in denen er den Holocaust als eine „Lüge der khasarischen zionistischen Banksterbande" bezeichnete. Auf der Website des Tourismusverbandes Mauthausen finden seine Renovierungen altertümlicher Gebäude jedenfalls noch immer löbliche Erwähnung.

Erst spät begannen meine Großeltern ihre Anekdoten über die Zeit von 1938 bis 1945 in Mauthausen zu erzählen. Und es war klar, dass es eine geschönte Erzählung war. Sie vermochten nicht, das Unaussprechliche in Worte zu fassen. Dass sie es alle kurz vor ihrem Tod doch noch auf die eine oder andere Art und Weise versuchten, stimmt mich versöhnlich mit jenen aufrichtigen Menschen, die schlichtweg einfach an diesem Flecken Erde aufgewachsen sind. Ein Flecken, an dem ein verbrecherisches Regime das Lager als „nómos der Moderne", wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben es einmal bezeichnet hat, errichtete und damit den Nullpunkt der Geschichte einleitete. Aber über diesen Nullpunkt dürfen wir nicht aufhören zu sprechen: Wir müssen weiter an einer Gemeinschaft arbeiten, die so etwas nicht mehr zulässt.