Ich wurde in den 1970er Jahren in Mauthausen als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren. Vor kurzem bin ich an den Ort meiner Kindheit und Jugend zurückgekehrt, um einige Fragen an mich und die Gesellschaft, die ebendiese Kindheit geprägt hat, zu stellen. Eine Familiengeschichte, die väterlicherseits seit Generationen an die Marktgemeinde an der Donau gebunden ist und in der der Granit immer eine wichtige Rolle gespielt hat—mein Urgroßvater war beispielsweise Arbeiter im ersten Steinbruch in Heinrichsbrunn und verbrachte den Großteil seines Lebens dort oder biertrinkend im nahegelegenen Wirtshaus.Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so ist es fast verstörend, mit welcher Beharrlichkeit das Thema Konzentrationslager totgeschwiegen und wie es zugleich in eine beklemmende Alltäglichkeit eingebunden wurde.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich manchmal nach der Schule mit meinem Vater nach St. Georgen an der Gusen fuhr, um von einem lokalen Unternehmer auf diesem Gelände Quarzsand auf den Anhänger zu schaufeln. Bei der Ausfahrt wurde dann auf einer großen Waage das Gewicht bestimmt, und mein Vater beglich vom Auto heraus den offenen Betrag in bar. Dass sich hinter dieser Sandgrube eine riesige Stollenanlage befand, davon wusste ich damals nichts. Einzig das Gelände wirkte düster und befremdlich.Doch damit nicht genug: Auch die von den KZ-Häftlingen errichteten Stollen wollten einer wirtschaftlichen Nutzung zugeführt werden, und so kam es, dass ein geschäftstüchtiger Mann in den Stollen mit der Champignonzucht begann. Das sind auch Geschichten, die ein junger Guide an der Gedenkstätte Mauthausen, der uns durch das von der Bundesimmobiliengesellschaft renovierte und nunmehr für die Öffentlichkeit eingeschränkt zugängliche Stollensystem Gusen Bergkristall führt, den Besuchern vermittelt.Auch die von den KZ-Häftlingen errichteten Stollen wollten einer wirtschaftlichen Nutzung zugeführt werden, und so kam es, dass ein geschäftstüchtiger Mann in den Stollen mit der Champignonzucht begann.
An diesem wolkenverhangenen Vormittag betrete ich mit einer Gruppe von rund 40 Menschen, hauptsächlich aus der Region, dieses weitverzweigte und abgeschirmte Lagersystem. Dabei zeigt sich eine grundlegende Ambivalenz im Umgang mit und bei der Vermittlung dieses düsteren Kapitels unserer Geschichte. Ich bin mir bei vielen Besuchern nicht sicher, was sie in die Stollen hineinzieht. Ist es Neugierde und die Faszination für eine gewisse Form an Monumentalität? Wenn beispielsweise der Guide betont, dass wir uns hier flächenmäßig auf dem größten öffentlichen Bauwerk der Republik Österreich befinden, größer als das Schloss Schönbrunn.MOTHERBOARD: Die Auschwitz-Dahlem-Connection: Wie Anthropologen den NS-Rassenwahn legitimierten
Zumindest muss man eingestehen, dass es auch die Umgebung den Mauthausenern nicht unbedingt leichter gemacht hat, mit ihrem schweren Erbe umzugehen. War der örtliche Fußballverein zu einem Gastspiel in der Region unterwegs, begrüßte man das Mauthausener Team zumeist charmant als die „KZ-ler". Und auch ich erinnere mich, dass ich es oftmals vermied, wenn man nach meiner Herkunft fragte, Mauthausen zu nennen und den Nachbarort Ried oder Linz angab. Diese externen Zuschreibungen machten einem in der Tat den offensiven und selbstreflexiven Umgang mit der Geschichte vor Ort nur noch schwerer. Erst heute, mit der entsprechenden Distanz, kann ich zumindest ein eingeschränktes Verständnis für damalige Abwehrreaktionen aufbringen.War der örtliche Fußballverein zu einem Gastspiel in der Region unterwegs, begrüßte man das Mauthausener Team zumeist charmant als die „KZ-ler".
Man hat erkannt, dass das Thema KZ durchaus auch für den Ort vorteilhaft besetzt werden kann: sei es eine selbstgesteigerte Präsenz der Lokalpolitik im Zirkus der offiziellen Gedenkpolitik und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeit, oder seien es die wirtschaftlichen Segnungen der Tourismusindustrie. Ein Donaumarkt also, der sich heute als „historisch, dynamisch, modern" gibt.Andere wiederum sind unbelehrbar. So etwa der örtliche pensionierte Zahnarzt, der sich in einem Gerichtsprozess wegen des Verdachts der NS-Wiederbetätigung verantworten musste und zu einem Jahr bedingt verurteilt wurde. Er hatte Briefe an seine Gemeindevertreter geschrieben, in denen er den Holocaust als eine „Lüge der khasarischen zionistischen Banksterbande" bezeichnete. Auf der Website des Tourismusverbandes Mauthausen finden seine Renovierungen altertümlicher Gebäude jedenfalls noch immer löbliche Erwähnung.Erst spät begannen meine Großeltern ihre Anekdoten über die Zeit von 1938 bis 1945 in Mauthausen zu erzählen. Und es war klar, dass es eine geschönte Erzählung war. Sie vermochten nicht, das Unaussprechliche in Worte zu fassen. Dass sie es alle kurz vor ihrem Tod doch noch auf die eine oder andere Art und Weise versuchten, stimmt mich versöhnlich mit jenen aufrichtigen Menschen, die schlichtweg einfach an diesem Flecken Erde aufgewachsen sind. Ein Flecken, an dem ein verbrecherisches Regime das Lager als „nómos der Moderne", wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben es einmal bezeichnet hat, errichtete und damit den Nullpunkt der Geschichte einleitete. Aber über diesen Nullpunkt dürfen wir nicht aufhören zu sprechen: Wir müssen weiter an einer Gemeinschaft arbeiten, die so etwas nicht mehr zulässt.Andere wiederum sind unbelehrbar. So etwa der örtliche pensionierte Zahnarzt, der sich in einem Gerichtsprozess wegen des Verdachts der NS-Wiederbetätigung verantworten musste und zu einem Jahr bedingt verurteilt wurde.