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Popkultur

Wenn Mütter ihre Söhne missbrauchen

Ein neuer Kinofilm erzählt die Geschichte eines Tabus—und das sogar richtig gut. Wir haben mit einem Experten über das schwierige Thema gesprochen.
Foto: imago | Roland Mühlanger

Mütter, die ihre eigenen Söhne missbrauchen. Das ist ein Satz, in dem so gar nichts zu stimmen scheint. Die Mutter ist der Inbegriff des Warmen, Wohligen, Kuscheligen, des "Hast du denn auch deine Mütze dabei?" und "Alles wird gut!". Und dennoch gibt es Jungen, die stillschweigend unter den sexuellen Übergriffen ihrer wichtigsten Bindungsperson leiden.

Diesem Thema widmet sich nun ein Spielfilm von Florian Eichinger, der aktuell in den Kinos läuft: Die Hände meiner Mutter. Jessica Schwarz spielt die Ehefrau des 39-jährigen Markus (gespielt von Andreas Döhler). Markus wurde in seiner Kindheit das Opfer seiner eigenen Mutter, die sich mit seiner Hilfe körperliche Befriedigung holte. Dabei schafft es der Regisseur, die Geschichte ohne Klischees zu erzählen. Eichinger scheint viel recherchiert zu haben und so gelingt es ihm, der Realität in einem Spielfilm sehr nahe zu kommen.

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In Deutschland gab es im Jahr 2015 insgesamt 11.808 Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs, diese Zahlen haben sich seit 2010 kaum verändert. Da jedoch nur wenige Taten zur Anzeige kommen, ist die Dunkelziffer hoch. Am häufigsten geschieht der sexuelle Missbrauch dort, wo die Kinder ihren größten Schutzraum haben: zu Hause. Studien besagen, dass rund zehn Prozent der sexuellen Übergriffe von Frauen verübt werden. Der Autor Alexander Homes, der selbst Missbrauchsopfer ist, vermutet sogar, dass die Hälfte aller Missbrauchsfälle von Frauen verübt werden.

Missbrauchsfälle, bei denen das Kind Opfer des eigenen Onkels oder Vater ist, sind schrecklich und verstörend, doch leider vorstellbar. Die Mutter als Täterin ist ein Tabu. Und das ist ein Problem. Denn so werden die schwerwiegenden Schädigungen der Kinder kaum bekannt. Erst im Erwachsenenalter, oft mit Geburt des ersten eigenen Kindes, werden die Männer von ihrer Vergangenheit eingeholt.


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"In den meisten Fällen ist es aber so, dass das Kind sehr wohl geredet hat", sagt Jörg Schuh gegenüber VICE. Schuh ist Geschäftsführer von von Tauwetter, einer Anlaufstelle für Männer, die in Kindheit oder Jugend sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Gerade weil Missbrauch durch Mütter für die meisten so unvorstellbar ist, wird das Hilfegesuch der Kinder nicht erkannt. "Wenn sich der Junge an den Vater wendet, versteht dieser das oft als sexuelle Fantasie des Kindes der Mutter gegenüber. Dann fallen Sprüche wie 'Mama hat schon einen Mann'." Wenn Kinder auf einen intimes Geständnis solch eine Reaktion bekommen und ihre Sorgen nicht ernst genommen werden, werden sie zukünftig schweigen.

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Auch vor ihren Freunden können Jungen selten offen darüber sprechen. Sexuell missbraucht zu werden, ist etwas, das für das Opfer mit sehr viel Scham und Peinlichkeit besetzt ist. "Handelt es sich dann auch noch um eine männliche Person, von der primär Stärke und Coolness erwartet wird, ist die Situation noch um einiges unangenehmer. Ist die Täterin dann auch noch die Mutter, schallen schon die höhnischen Kommentare über den Schulhof", so Schuh. "In einer Jungsgruppe ist die Gefahr groß für Sätze wie 'Ich würd auch gern deine Mutter ficken' oder 'Das findest du doch gut'. Nach solchen Erfahrungen möchte keiner mehr reden."

Oft beginnen die Jungen, den Missbrauch zu leugnen und zu relativieren. Sie gaukeln sich selbst vor, dass es ja nur ein Streicheln war. Manchmal spaltet sich die Erinnerung auch ab, versteckt sich in einer verborgenen Ecke des Gehirns und der Jugendliche vergisst die Übergriffe. Doch die Erinnerung lauert im Hintergrund und spätestens, wenn die Jungs erwachsen sind und selbst Vater werden, taucht sie wieder hervor. "Zu uns kommen viele Väter in die Beratung und wollen wissen, wie sie ihr Kind schützen können", so Schuh. "Sie haben keine Angst, dass sie selbst übergriffig werden könnten, ihre Befürchtungen gelten den Großeltern. Sie wollen Oma und Opa nicht mit dem Kind alleine lassen."

Die Gründe, warum sich Mütter an ihren Söhnen vergreifen, sind vielfältig. Fehlender Sex mit dem eigenen Mann kann ebenso ein Auslöser sein wie die Tatsache, dass die Frau in ihrer Kindheit selbst missbraucht wurde. Um Pädophilie als Motiv handelt es sich normalerweise nicht, auch bei Männern ist das übrigens nur selten der Fall, zeigt die langjährige Erfahrung des Vereins Tauwetter. Menschen mit pädophiler Neigung unterlägen trotzdem ihrem moralischen Bewusstsein, sie suchten sich Hilfe und werden oft keine Täter, so Schuh. Bei Missbrauch geht es vielmehr um Macht. Die Frau hat die Macht über das Kind. "Das gibt ihr den Kick, das geilt sie auf", so Schuh.

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In der Regel übernähmen die Mütter auch im Alter, wenn der Sohn schon ein erwachsener Mann ist, keine Verantwortung für ihre Taten, so Schuh. Auch das sei schlimm für die Opfer. "Wenn sich ein Mann endlich ein Herz nimmt und seine Mutter mit der Erinnerung konfrontiert, erntet er nicht selten einen herablassenden Spruch: 'Stell dich nicht so an, das ist doch schon so lange her.' Oder: 'Ja, ich habe einen Fehler gemacht, aber jetzt ist auch mal gut.'"

Sexuelle Gewalt gibt es, solange es Menschen gibt. Eingesetzt wurde sie ihm Krieg und immer wieder zur Erniedrigung. Und auch heute sind wir noch nicht viel zivilisierter. Eine von der EU durchgeführte Studie besagt, 27 Prozent der Bevölkerung fänden sexualisierte Gewalt "nicht so schlimm". Das ist jeder Vierte.

Doch was können wir tun, wenn sich ein Kind offenbart oder wir die Ahnung eines Missbrauchs haben? Wie so oft ist es in erster Linie wichtig, das Gespräch zu suchen und dem Kind zu vermitteln, dass es keine Schuld hat. Ihm zuhören, es ernst nehmen und seinen Erzählungen Glauben schenken. "Wenn ein Kind mit zehn Jahren missbraucht wurde und mit elf wird ihm geglaubt, dann kann man da ganz viel machen", weiß Schuh. "Indem er sich in Gesprächen, Musik oder Theater ausdrückt, können die Wunden heilen."

Für einen erfolgreichen Kampf gegen Missbrauch muss das Thema erst einmal entmystifiziert werden. Es ist wichtig, über den Missbrauch von Kindern, nicht nur durch Mütter, zu informieren. In Schulen oder Sportvereinen (die leider auch oft als Herd für sexuelle Übergriffen fungieren) sollte darüber geredet werden. In der Bundesregierung gibt es einen unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. In der letzten Zeit suchten immer häufiger Männer Beratungsstellen auf, die in der Kindheit von ihren Müttern missbraucht wurden. Langsam scheint sich etwas zu bewegen, auch wenn Die Hände meiner Mutter in viel zu kleinen Kinos läuft.

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