Politik

Minderheitenstress: So ungesund ist unsere Gesellschaft für queere Menschen

Sie sind häufiger depressiv als heterosexuelle. Die Grünen wollen dagegen jetzt politisch vorgehen.
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| Illustration: imago images / fStop Images

Allein in Berlin wurden 2019 über 261 homophobe Übergriffe gemeldet. Queere Menschen geraten immer wieder in Situationen, in denen sie beleidigt oder gar körperlich angegriffen werden. Egal ob auf dem Dorf oder in einer Metropole wie Berlin.

Ganze 82 Prozent der lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen und 96 Prozent der transgeschlechtlichen Jugendlichen haben laut einer Studie des deutschen Jugendinstitutes aus dem Jahr 2013 in ihrem Leben schon einmal Diskriminierung erlebt. Das beeinflusst die Psyche und die emotionale Gesundheit. Forschende nennen das "Minderheitenstress".

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Der Psychologe Martin Plöderl erklärt das so: LGBTQI*-Menschen seien immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, weil sie einer sexuellen Minderheit angehören. Dadurch entsteht körperlich und emotional empfundener Stress und das kann schwerwiegende Folgen haben: "Lesbische, schwule, bisexuelle, transgender und intersexuelle Menschen scheinen ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen und Suizidalität zu haben."

Nicht heterosexuell zu sein, das nehmen viele immer noch als Verstoß gegen die gängigen Geschlechterrollen war. Die Folgen reichen von Mobbing bis zu Stigmatisierung. Bei Betroffenen kann das zu Identitätsverlust oder zur sogenannten "internalisierten Homophobie" führen, also zu negativen Gefühlen gegenüber der eigenen Homosexualität. Selbsthass also, der im schlimmsten Fall zu Depressionen und Selbstmordgedanken wird.

Wie kann sich das ändern?

Der grüne Sprecher für LGBTQI*-Themen, Sven Lehmann, sagt gegenüber VICE: "Die Politik hat für rechtliche Gleichstellung zu sorgen und alle Gesetze zu verändern, die diskriminieren und ungleich machen." Er hat mit einigen weiteren Abgeordneten der Grünen-Fraktion erstmals eine Große Anfrage mit über 200 Fragen in den Bundestag eingebracht, um die queere Community vor Minderheitenstress zu schützen und das Problem auf die Agenda zu setzen.

Laut einer Studie, die in der Anfrage der Grünen zitiert wird, haben 40 Prozent der deutschen Bevölkerung ein Problem damit, wenn gleichgeschlechtliche Menschen sich in der Öffentlichkeit küssen. 50 Prozent der Befragten fühlen sich nicht wohl in der Gegenwart einer trans*Person – jeder Zweite kann somit als trans*feindlich eingestuft werden. Immerhin und trotzdem erschreckend: Deutschland liege mit diesen Zahlen unter dem EU-Durchschnitt. Und dennoch: "Im Ergebnis ist das Suizidrisiko homosexueller Jugendlicher gegenüber heterosexuellen Altersgenoss*innen signifikant – nämlich um das Vier- bis Sechsfache – erhöht", schreiben die Grünen und zitieren dabei aktuelle Studien.

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Diese negativen Erfahrungen im Zusammenhang mit der sexuellen Identität im Teenager-Alter wirke sich auf das Leben als Erwachsener aus: Ein Drittel oute sich nicht im Job, jeder Vierte habe schlechte Erfahrungen mit Benachteiligungen gemacht.

"Das Transsexuellengesetz muss durch ein Gesetz für Selbstbestimmung und Geschlechtervielfalt ersetzt werden. Die Aufklärungsarbeit in den Schulen muss verbessert werden", fordert der Grünen-Abgeordnete Lehmann. In den Schulen und Kitas sollen beispielsweise die Pädagogen und Pädagoginnen sensibilisiert werden für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Wichtig sei das auch im Alter: "Wir haben eine Generation, die jetzt pflegebedürftig wird, die durch die alten Paragrafen verfolgt und diskriminiert wurde. Männer, die aufgrund des Paragrafen 175 verfolgt wurden, sind jetzt der Gefahr ausgesetzt, re-traumatisiert zu werden, wenn das Pflegepersonal nicht queer-sensibel ist. Ich bin dafür, dass es mehr Einrichtungen und Wohnprojekte für queere Menschen im Alter gibt."

Aber nicht nur gesellschaftlich muss sich einiges verändern, sondern auch gesetzlich. Lehmann nennt ganz konkrete Beispiele: "Der Artikel 3 im Grundgesetz muss erweitert werden um das Diskriminierungsverbot aufgrund sexueller Identität." Die Grünen brachten mit der SPD und den Linken bereits einen Gesetzesentwurf ein.

Bis heute kämpft die queere Community mit den Spätfolgen alter Gesetze: "Nach dem Ende des Nazi-Regimes gab es keine gesellschaftliche Gruppe, die so akribisch weiter verfolgt wurde, wie schwule Männer. Lesbischen Frauen wurde oft das Sorgerecht entzogen. Schwule Männer wurden durch den Paragraf 175, der nach dem Ende des Nazi-Regimes jahrzehntelang weiter fortbestand, verfolgt", so Lehmann.

Trotz Ehe für alle sei Deutschland immer noch rückständig, was den Schutz queerer Minderheiten angeht, findet der Grünen-Politiker. "Deutschland hat strukturell ein Problem mit Diskriminierung." Zwar habe sich gesetzlich schon viel getan, es sei nicht mehr das Gesetz, das diskriminiert, aber gesellschaftliche Diskriminierung finde dennoch weiter statt.

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