Meinung

Es ist scheinheilig, erst über Rapper zu berichten, wenn sie erschossen wurden

Nipsey Hussles Tod hat fast jede Lokalzeitung gemeldet. Dabei kannten sie ihn gar nicht. So entstehen Klischees über die Rapszene.
Nipsey Hussle
Der Rapper Nipsey Hussle wurde am 31. März 2019 in Los Angeles erschossen | Foto links: Imago Images/ZUMA Press | Rechts: Imago/UPI Photo

Wie viele der 70.689 Einwohner von Celle kannten Nipsey Hussle? Celle ist eine verschlafene Kleinstadt in Niedersachsen, bekannt für ihre vielen Fachwerkhäuser (über 400 – wow). Los Angeles, woher Nipsey Hussle, Straßenrapper und ehemals aktives Gangmitglied stammte, ist bekannt für Highlife, Hollywood und Westcoast-Rap. OK, vielleicht kannten ein paar Coolkids aus der 9b Nipsey Hussle. Aber Hussle hat vermutlich nie etwas von Celle gehört, die meisten Celler nichts von ihm. Doch wer die Onlineversion der Celleschen Zeitung liest, wusste, einen Tag nachdem es passierte, "US-Rapper Nipsey Hussle in Los Angeles erschossen". Na dann. Warum werden US-Rapper, die wie Nipsey Hussle sogar für einen Grammy nominiert wurden, erst nach ihrem gewaltsamen Tod für deutsche Medien interessant? Ihre Kunst spielte im Blatt doch vorher auch keine Rolle.

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Die FAZ, Die Welt, Zeit Online, all diese großen Medien und dazu unzählige Promi-Boulevard-Portale und Lokalmedien veröffentlichten Meldungen oder sogar Korrespondenten-Berichte zum Tod von Nipsey Hussle. Er wurde am 31. März vor seinem eigenen Klamottenladen in seiner Heimatstadt Los Angeles erschossen, wurde 33 Jahre alt. Der mutmaßliche Täter wurde am 2. April verhaftet, nachdem er die Tat noch am Abend nach dem Mord in einem Video-Livestream gestanden hatte. Vorher war Nipsey Hussle all diesen Medien, auch ihren Kulturressorts, keine Zeile wert. Nur in der Süddeutschen Zeitung wurde er 2017 einmal erwähnt. Nicht in einem Artikel über ihn, sondern in einem Artikel über Donald Trump, gegen den sich Nipsey Hussle öffentlich positionierte. Sein bekanntester Song zusammen mit YG hieß: "FDT". Das steht für "Fuck Donald Trump".


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Nipsey Hussle ist kein Einzelfall. Auch bei den Rappern XXXTentacion (wurde erschossen im Juni 2018), Smoke Dawg (wurde erschossen im Juni 2018) und Lil Peep (starb im November 2017 an einem Cocktail aus Xanax und Fentanyl) war es in den letzten zwei Jahren ähnlich. Sie wurden für die meisten deutschen Medien erst interessant, nachdem sie tot waren. Nur XXXTentacion war für einige schon vorher eine Schlagzeile wert, weil er seine Freundin schwer misshandelt haben soll und immer wieder durch Gewalteskapaden auffiel. Für viele Medien waren das interessante Themen, weil sie ins Bild passen. Diese Meldungen, von Presseagenturen und Social Media gestreut, erfüllten das Klischee der gefährlichen Rapper, die sich gegenseitig über den Haufen schießen, gewalttätig gegenüber Frauen sind, den ganzen Tag Drogen nehmen.

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Über ihre Musik berichteten zuvor vor allem Szenemedien, obwohl Millionen junge Menschen die Songs dieser Rapper hören wollten, und sie Superstars waren, mit Millionen Klicks, ausverkauften Shows, hohen Chartplatzierungen, kreischenden Fans, die manchmal, wie früher bei The Beatles, sogar in Ohnmacht fallen. Also allem, was dazugehört. Auch in Deutschland. Um Lil Peep und XXXTentacion gab es einen regelrechten Kult im Internet, sie waren die Spitze einer neuen, digitalen Emobewegung. Für die Jugend waren sie relevanter als irgendwelche alten Weißen "The"-Bands, die in den 70ern minderjährige Groupies mit in ihren Tourbus nahmen und deren Musik in vielen Medien noch immer das Maß aller Dinge zu sein scheint. Von einer "Rock-Szene" wird allerdings nicht gesprochen, in Texten geht es erstaunlich wenig um Sex mit Minderjährigen und Drugs, sondern vor allem um den guten alten Rock 'n' Roll, also um die Musik.

Die Cellesche Zeitung schreibt in ihrem Artikel über Nipsey Hussle nun: "In der Hip-Hop-Szene erinnert man sich an mehrere tödliche Auseinandersetzungen seit den 90ern", auf Rolling Stone steht im (ebenfalls ersten) Artikel über Nipsey Hussle als Zwischenüberschrift: "Eastcoast vs. Westcoast". In den 90er Jahren starben die damaligen Stars Notorious B.I.G. und Tupac Shakur. Beide wurden erschossen. Beide waren in Gang-Angelegenheiten verstrickt. Die genauen Gründe für die Tode der beiden Rapper sind bis heute unklar. Klar ist aber: Weder Nipsey Hussles Tod noch der von XXXTentacion, der von Smoke Dawg oder der von Lil Peep haben etwas mit den 90ern oder mit DER "HipHop-Szene" zu tun. Es sind tragische Einzelschicksale von Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, die (Lil Peep ausgenommen) in marginalisierten Vierteln aufgewachsen sind und von den Problemen eingeholt wurden, denen sie durchs Musikmachen zu entfliehen versuchten. Es sind Einzelschicksale, die, wenn überhaupt, eine Diskussion über die Waffenpolitik in den USA anregen sollten oder über die Opioid-Krise. Aber nicht über die gefährliche Rapszene und irgendeinen "Westcoast vs. Eastcoast"-Streit, der ein Vierteljahrhundert her ist.

Der Tod von Künstlern aus dem Rap-Kontext ist spannender als die Musik. Das ist effektheischerisch, makaber und respektlos gegenüber deren Werk – und es bringt Klicks, auf die Medien nicht verzichten wollen. Sie sollten zumindest auf Zuspitzungen verzichten, auf Mutmaßungen, die bloße Übernahme von Agenturmeldungen zu Themen, die sonst nicht stattfinden, und oberflächliche Analysen. Oder sie beginnen, die Musik relevanter Künstler schon vor ihrem Tod zu begleiten. Ohne Verallgemeinerungen. Ohne die Reproduktion uralter Klischees über vor allem afroamerikanische Rapperinnen und Rapper aus benachteiligten Vierteln.

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