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Sex

Ein Therapeut, ein Anwalt und eine Sexarbeiterin erklären, was wirklich als Fremdgehen zählt

Wir haben auch bei einem Moralphilosophen und bei polyamoren Menschen nachgefragt.
Foto: Chris Bethel

Schleiereulen, Wühlmäuse, Hängebauch-Seepferdchen, Menschen – was haben all diese Spezies gemein? Richtig: Sie sind Tiere, die in lebenslangen Partnerschaften leben.

OK, seien wir ehrlich – aus dieser Gruppe binden sich in Wahrheit nur Schleiereulen, Wühlmäuse und Hängebauch-Seepferdchen lebenslang an einen Partner. Menschen mögen viel Zeit damit verbringen, über Monogamie zu grübeln, aber wirklich gut sind wir darin nicht.

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Es ist nicht leicht, vertrauenswürdige Statistiken über das Fremdgehen zu finden. Das ist eigentlich logisch: Fremdgehen beruht oft auf Lügen – und Menschen beantworten Umfragen zu ihrem Sexleben nicht immer ehrlich. Die Zahlen, die bei den Umfragen rauskommen, variieren entsprechend. Als Parship (diese Partnerbörse, von der jeder die Werbung kennt, aber niemand auch nur eine Person, die dort angemeldet ist) bei einer Untreue-Umfrage 1.000 Personen befragt hat, gaben 25 Prozent der vergebenen Männer an, schon mindestens einmal fremdgegangen zu sein, aber nur 13 Prozent der Frauen. Bei der Umfrage der Neon unter 20- bis 35-Jährigen sagten 28 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen, dass sie schon mal betrogen haben. Laut einer Umfrage von Glamour sind aber 39 Prozent der Frauen und 51 Prozent der Männer fremdgegangen.

Aber vielleicht gibt es noch einen anderen Grund dafür, dass eindeutige Fremdgeh-Statistiken zum Fremdgehen so schwierig zu finden sind: Niemand weiß so richtig, was "fremdgehen" genau ist. Was für ein Paar schon fremdgehen ist, kann für ein anderes vollkommen normal sein. Heißt Fremdgehen, Sex mit Penetration zu haben? Was ist mit dem Typen, der Tinder runtergeladen hat, aber nie auf ein Date gegangen ist? Und mit der verheirateten Frau, die zwar gern flirtet, aber nie einen Schritt weiter gehen würde? Oder mit dem Kerl in einer offenen Beziehung, der sich in eine Affäre verliebt?

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Wir haben mit ein paar Leuten gesprochen, die sich darüber professionell und privat Gedanken machen und sie gefragt: "Was ist Fremdgehen?"

Emma, Sexarbeiterin

Es ist gar nicht so kompliziert: Wenn du Sex mit jemandem hast, der nicht dein Partner ist und dieser nichts davon weiß, ist das Fremdgehen.

Ich würde schätzen, dass die Hälfte meiner Kunden in einer Beziehung steckt. Manchmal ist es offensichtlich – wenn er einen Ehering trägt oder sich rechtfertigt, indem er Dinge sagt wie: "Ich bin seit 30 Jahren verheiratet und meine Frau will keinen Sex mehr."

Oft haben diese Männer eine Partnerin, die für ihre Sex-Fantasie oder ihren Fetisch kein Verständnis hat, oder auch krank ist und deswegen keinen Sex mehr haben kann. Mit dieser Begründung kann ich mich anfreunden. Wenn mein Partner auf etwas Bock haben würde, das ich nicht machen will, würde ich ihm jemanden empfehlen, den er bezahlt und mit dem er seine Fantasie ausleben kann.

Nicht immer geht es Männern einfach nur um Sex. Viele suchen Intimität, Zweisamkeit und Wärme. Auch das kann ich gut verstehen. Manche Kerle erzählen mir allerdings Sachen, bei denen ich denke: "Du bist ein Dreckskerl und deine Frau tut mir leid." Vor allem, wenn sie einfach nur Sex mit so vielen verschiedenen Frauen wie möglich haben wollen – und nicht den Mut haben, ihren Frauen zu sagen, dass sie eine offene Beziehung wollen.


Auch bei VICE: So erkaufen sich japanische Single-Frauen die "Boyfriend Experience"

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Ich bin ziemlich idealistisch. Ich mag den Gedanken, dass man in einer Beziehung über sexuelle Bedürfnisse und Probleme redet. Ich kann mir nicht vorstellen, mit jemandem zusammenzusein, mit dem ich so etwas nicht besprechen kann – aber offensichtlich gibt es das oft genug.

Dann gibt es noch die andere Seite: die Sexarbeiter selbst. Ich kenne einige Escorts in Beziehungen, und für die ist ihre Arbeit kein Fremdgehen. Sie schlafen mit ihrem Partner und mit ihren Kunden – und mit niemandem sonst. Aber viele Sexarbeiterinnen wollen auch keine Beziehung in der Zeit, in der sie ihren Job ausüben. Es ist kompliziert – wenn du jemanden kennenlernst, sagst du ihm, dass du eine Sexarbeiterin bist? Wann sagst du es? Es ist eine heikle Angelegenheit, die jede Person in der Branche unterschiedlich regelt.

Ernst Andreas Kolb, Fachanwalt für Familienrecht

Betrug bedeutet: etwas vorgaukeln, das nicht Sache ist und sich damit einen Vorteil verschaffen. Ein Beispiel: Ein Mensch hat etwa zwei Beziehungen, will die eine nicht aufs Spiel setzen und die andere trotzdem haben. Das ist Vorspiegeln falscher Tatsachen. Wenn es unter Freunden oder Liebenden passiert, ist es nur moralisch bedenklich. Passiert es in einer Ehe oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, kann es auch juristische Konsequenzen haben – wenn auch nur indirekt.

Vor 1977 gab es bei Scheidungen noch die Schuldfrage. Das hieß: Wenn die Frau sich mit dem Tennislehrer eingelassen hatte und ihren Mann für ihn verließ, verlor sie ihre Ansprüche, etwa auf Unterhaltszahlungen, weil sie "schuld" am Ende der Ehe ist. So ist das nicht zwar mehr. Heute kann man aus der Ehe aussteigen, weil man keinen Bock mehr hat – und trotzdem später Geld bekommen.

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Trotzdem kann der Betrug auch heute noch juristische Folgen haben. Wenn die Frau etwa noch im Trennungsjahr mit ihrem neuen Partner oder ihrer neuen Partnerin zusammenzieht und ein eheähnliches Leben führt, kann der Unterhalt in dieser Zeit beschränkt werden. Wenn sich jemand sehr illoyal verhalten hat, kann es das Recht auf Unterhalt verwirken.

Die Folgen des Betrugs zeigen sich auch oft auf indirektem Wege. Zum Beispiel in folgender Situation: Der Mann verlässt die Frau für eine Jüngere, ein Kind ist unterwegs, die Ehefrau bekommt das raus, ist sauer, kommt zu mir und sagt: "Ich will alles, was geht." Wenn Ehen im Einvernehmen auseinandergehen, verzichten Partner oft auf Unterhaltsansprüche. Aber bei Betrug spielen Rachegedanken oft eine große Rolle – und so wird das Ende der Beziehung nach einem Betrug am Ende doch teurer.

Dr. Elinor Mason, Moralphilosoph, Universität Edinburgh

Es wäre schön, wenn wir eine klare Definition für "Untreue" finden könnten. Vielleicht so etwas wie: jede Aktivität oder Beziehung, welche die Primärbeziehung beeinträchtigt. Das beinhaltet nicht zwingend nur sexuellen Kontakt. Es gibt Menschen, die eine sehr enge Freundschaft als Fremdgehen empfinden, weil sie finden, dass solche Nähe ihnen vorbehalten sein sollte.

Ich würde auch Cyber-Sex unter Fremdgehen miteinrechen. Manche Leute argumentieren, das sei eine Grauzone. Aber das finde ich nicht. Wenn es die Beziehung beeinträchtigt, ist es Fremdgehen.

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Treue können wir zum Teil darüber definieren, welchen Handlungen der Partner oder die Partnerin noch zustimmen würde. Ich sage hier bewusst "würde", weil hier auch auf Vertrauensbasis gehandelt werden muss. Es ist paradox, aber wenn man jede Kleinigkeit erst einmal ausklamüsern und vereinbaren muss, dann liegt da vielleicht auch eine gewisse Täuschungsabsicht zugrunde. Manche Dinge muss man explizit sagen, aber es muss auch eine Basis für gegenseitiges Verständnis ohne Worte geben.

Dann ist da noch die Frage "Was, wenn Fremdgehen die besseren Konsequenzen hat?". Normalerweise sollte niemand jemand anderem weh tun, aber an sich selbst zu denken, kann moralisch auch gut sein. Sollte man seine eigenen Sehnsüchte immer unterordnen? Da gibt es einen Konflikt, was moralisch richtig ist.

Catriona May, Paartherapeutin

Betrug bedeutet, dass eine Grenze überschritten wurde. Es gab eine Vereinbarung zwischen Menschen, und diese Vereinbarung wurde gebrochen. Für die meisten Paare, die zu mir kommen, ist es eine sexuelle Affäre, aber manchmal belastet auch eine sehr intime Freundschaft die Beziehung. Es geht um kommunizierte Erwartungen. Oft frage ich Paare: "Was bedeutet Monogamie für euch?" Und die Antwort ist immer unterschiedlich.

Ich hatte Partner da, die sagten: "Es ist kein Betrug, solange du deinen Penis nicht in jemanden steckst." Aber der andere hatte eine andere Vorstellung davon und Angst, dass der Partner eine intensive und intime Beziehungen aufbaut, die der Paar-Beziehung schadet. In anderen Fällen sagte einer: "Es bedeutet nichts, wenn du im Urlaub weit weg bist und betrunken Sex hast." Und der Partner sagte: "Ich hoffe, das war gerade ein Witz."

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Foto: Chris Bethel

Brooke und Adam, bis vor Kurzem in einer offenen Beziehung

Brooke: Wir haben vor rund einem Monat Schluss gemacht, nach sechs Jahren. Vor drei Jahren haben wir zum ersten Mal darüber gesprochen, unsere Beziehung zu öffnen. Aber es hat noch eine ganze Weile gedauert, bis ich wirklich einschätzen konnte, was Betrug ist und was nicht. Am Ende stellte ich fest: Für mich heißt Betrug vor allem, wenn andere Menschen zu sehr das Paarleben stören. Die Affäre sollte einen nicht in ein Gefühlschaos stürzen – und das Leben des Paars belasten.
Man muss auch nicht für immer in einer offenen Beziehung bleiben. Wenn einer sagt: "Ich kann das gerade nicht mehr", muss der andere sagen können: "OK, dann lass uns wieder mehr zueinander finden." An diesem Punkt sind wir gescheitert. Ich habe gesagt, dass ich die Beziehung schließen will, und er hat es nicht hinbekommen. Unterm Strich war er ein Depp und hat mich verloren [lacht].

Adam: Für mich war es kein Betrug, solange es keine negative Dynamik in unsere Beziehung hineingebracht hat. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nur etwas mit Leuten haben, die der andere nicht kennt. Milan Kundera – ein französischer Autor – sagt, um zu verhindern, dass aus Lust Liebe wird, solltest du jemanden zwei, drei Mal in kurzen Abständen sehen, und dann nie wieder. Oder nur mit Abstand von mehreren Wochen.

Bei Untreue geht es immer um verletzte Erwartungen. Wenn du jemanden heiratest und dir vor der Familie und allen Freunden die ewige Treue schwörst, dann wird der andere sauer sein, wenn du das Versprechen brichst. Wenn die Beziehung auf Freiheit aufgebaut hast, wird sich der andere nicht hintergangen fühlen.

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