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Die Poesie der Dschihadisten

Horrorvideos von Enthauptungen und Massakern sind die eine Seite der IS-Propaganda. Die andere besteht aus Lyrik und Poesie.

Propaganda war immer schon ein wichtiger Teil von Krieg, wenn nicht gar der wichtigste. Und weil es bei ihr immer darum geht, eine möglichst breite Wirkung zu erzielen, bahnt sie sich auch immer ihren Weg in die populärsten Unterhaltungsformen einer Gesellschaft: Ob das nun YouTube-Videos sind oder, wie im Fall der Terrormiliz Islamischer Staat, Gedichte.

In der arabischen Welt ist Poesie beliebt wie kaum wo anders. Die erfolgreiche Fernsehsendung Sha'iral-Milyoon (was soviel bedeutet wie „Millionär Poet" oder aber auch „Poet des Volkes") haben 2014 weltweit mehr als 70 Millionen Menschen verfolgt. Die Sendung ist ein Talentwettbewerb für junge Dichter— ähnlich wie Starmania oder DSDS, nur eben für Lyrik. Der Gewinner bekommt umgerechnet bis zu 1,2 Millionen Euro. Zum Vergleich: Für den Literaturnobelpreis gibt es derzeit ein Preisgeld in der Höhe von ungefähr 865.000 Euro.

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„Im arabischen Raum wird Poesie immer noch sehr hoch geschätzt", erklärt der Islamforscher Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaften an der Universität Wien. „Es geht dabei um den Sprachgenuss und weniger um Informationsgewinnung. Das Spektrum geht von klassizistischen Wiederaufnahmen alter Gedichtsformen bis hin zu freien Versen."

Auch Amer Albayati, Islamexperte und Mitbegründer der „Initiative Liberaler Muslime Österreich" meint: „Gedichte und Poesie spielen im arabischen Raum bis in die Gegenwart eine große Rolle. Im kulturellen, aber auch politischen Bereich."

Es verwundert daher nicht, dass Lyrik auch ein wesentlicher Bestandteil der Propaganda dschihadistischer Gruppen ist. „Die Terrorismus-Forschung hat das bisher zu großen Teilen ignoriert", meint Professor Lohlker. „Das Hauptproblem dürfte die mangelnden Sprachkenntnisse in weiten Teilen der Forschung sein." Auch in der Propagandamaschinerie der IS-Miliz spielt Poesie eine wesentliche Rolle, wie der New Yorker bereits im Juni umfangreich berichtete. „Für die dschihadistischen Subkulturen sind gerade die klassischen Formen bedeutsam, da dadurch die Beherrschung der älteren arabischen Sprache demonstriert werden kann. Diese Beherrschung verstärkt den Anspruch das einzig wahre Verständnis des Islams zu haben", erläutert Lohlker.

Während Propagandavideos von Enthauptungen und anderen öffentlichen Hinrichtungen in erster Linie für die westliche Welt produziert werden, gibt es eine weitere große PR-Sparte der IS-Miliz für die arabische Welt: Videos von dschihadistischen Kämpfern, die gut gelaunt im Kreis sitzend Gedichte rezitieren und Lieder singen, sind beinahe genauso einfach auf YouTube zu finden wie Videos vom „heroischen" Kampf der Mudschahedin.

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Mit der Poesie wird zu den Anhängern und Verbündeten gesprochen, nicht zum Feind. Während die Videos, die wir hierzulande zu sehen bekommen, unsere eigenen Ängste und Tabus widerspiegeln und brechen, wird über Lyrik und den A-capella-Gesang—Instrumente hat die IS-Miliz verboten—die romantisierte Vorstellung des dschihadistischen Alltags und des Paradieses verbreitet.

Wie der New Yorker berichtet, gibt es mittlerweile eine eigene Haus- und Hofdichterin des Islamischen Staates, deren erste Verssammlung mit dem Titel „Flammen der Wahrheit" als Download zur Verfügung steht und in klassisch-arabischen Monoreimen geschrieben ist.

Ahlam al-Nasr ist Anfang 20, stammt vermutlich aus Damaskus und hat schon als Teenager gedichtet—damals noch in Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Im Oktober 2014 soll sie Mohamed Mahmoud geheiratet haben—jenen Austro-Dschihadisten, der seinen österreichischen Pass medienwirksam verbrannt hat, Österreich und Deutschland mit Terroranschlägen gedroht hat, in Syrien eine Geisel erschossen haben soll und der angeblich in den IS-Führungskader aufgestiegen ist.

Ahlam al-Nasrs Mutter, eine ehemalige Jus-Professorin, sagt über ihre Tochter, dass sie „mit einem Wörterbuch in ihrem Mund" geboren wurde. Ahlam al-Nasr soll sich schon zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges gegen das Regime von Bashar al-Assad engagiert haben, dann aber aus Syrien geflohen sein. Die Erlebnisse vor ihrer Flucht hat sie in Gedichten verarbeitet.

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Ihre Kugeln zerschmetterten unsere Gehirne wie ein
Erdbeben,
sogar starke Knochen brachen auseinander.
Sie bohrten unsere Kehlen heraus und verstreuten
unsere Glieder
es war wie eine Lehrstunde für Anatomie!
Sie säuberten die Straßen, während das Blut noch
floss
wie Flüsse die herunterfallen von den
Wolken.

Im Herbst 2014 soll Ahlam al-Nasr nach Syrien zurückgekehrt sein. In die Hauptstadt des IS-besetzten Gebietes, nach Ar-Raqqa. Schnell stieg sie zu einer offiziellen Propagandistin auf und fungiert nun als die „Poetin des Islamischen Staates".

Ahlam al-Nasr schreibt Elegien über Kämpfer, Lamentos für Gefangene, Siegesoden über gewonnene Schlachten und Lobreden auf den selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi. Nach der grausamen öffentlichen Ermordung des jordanischen Piloten Moaz al-Kasasbeh schrieb sie außerdem ein 30-seitiges Essay, in dem sie die Verbrennung des Mannes bei lebendigem Leibe rechtfertigte.

In ihren Gedichten beschreibt sie das Kalifat als frommes Paradies: „Im Kalifat sah ich, wie Frauen den Schleier tragen, wie jeder den anderen mit keuscher Rechtschaffenheit behandelt, und Menschen, die ihre Geschäfte zur Gebetszeit schließen." Sie berichtet von den gefüllten Regalen der Händler, ihrer Freude, die Kämpfer in Raqqa bekochen, und fordert all ihre „Schwestern" auf, es ihr gleich zu tun und nach Syrien zurückzukehren.

Austrodschihadist Mohamed Mahmoud links im Bild. Screenshot via YouTube

Die Kultur des Dschihads ist ohne Poesie nicht vorstellbar. Die dschihadistische Poesie ist der Ausdruck der islamistischen Utopie und der Krieg wird durch sie romantisiert und künstlerisch verarbeitet. Die Geschichten beschreiben oft geografische Vorstellungen vom großen Reich aller Muslime. Ein generell propagandistisch wichtiges Thema, wie etwa auch die in Szene gesetzten Passverbrennungen ausländischer Kämpfer, oder die Zerstörung von Grenzbefestigungen an der syrisch-irakischen Grenze zeigen. „Gerade auch die Vielfalt der Anhänger und Anhängerinnen ist ein wichtiges Kapital für Daesh [die IS-Miliz, Anmerkung], eine Vielfalt, die auch immer wieder propagandistisch betont wird", bestätigt auch Rüdiger Lohlker.

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Auch die anachronistische Vorstellung der Wiedergeburt des Kalifats zu überwinden und im Hier und Jetzt für ein Reich aller Muslime zu kämpfen, ist Teil der IS-Propaganda. „Es gibt hier viele Dinge, die wir nie erlebt haben, außer in unseren Geschichtsbüchern", schreibt etwa Ahlam al-Nasr.

Doch dass Poesie von Dschihadisten zu Propagandazwecken genutzt wird, ist nichts Neues. Von allen modernen dschihadistischen Dichtern war Osama bin-Laden wohl der beliebteste. Seine Werke wurden tausendfach verbreitet und er war ein gern gesehener Redner auf Hochzeiten. Flagg Miller, Professor für religiöse Studien an der University of California, hat in seinem Buch „ The Audacious Ascetic" einige davon analysiert. Auch für die Attentäter von 9/11 hat bin-Laden ein Gedicht geschrieben:

Den Tod umarmend fanden die Ritter der Herrlichkeit ihre Ruhe. / Sie haben die Türme mit Händen voll Zorn ergriffen und brachen durch sie hindurch wie ein Sturzbach.

Mit der Poesie verbreiten die Dschihadisten nicht nur ihre Propaganda, sondern schlagen auch die Brücke zur arabisch-muslimischen Tradition. So entsteht für jeden ein Anknüpfungspunkt: Für westliche Rekruten werden actionreiche Propagandavideos produziert, während Kämpfer aus islamischen Ländern mit lyrischen Versprechungen vom Paradies gelockt werden.

Die Poetik des radikalen Islamismus wird dabei hauptsächlich via Internetforen diskutiert und verbreitet. Es gibt aber auch Lyrikwettbewerbe und Poesie-Duelle, sowie literarische Sammelbände mit durchaus ernst zu nehmenden, wissenschaftlichen Anmerkungen und Abhandlungen.

Doch kann eine solche Propaganda noch als Kunst verstanden werden? „Propaganda hat ihre eigene Ästhetik. Für Daesh ist das Anknüpfen an kulturindustrielle Produktionen offenkundig", meint dazu Professor Lohlker.

Während man sich im Westen weitestgehend einig ist, dass diese dschihadistische „Kunst" aus brutaler Propaganda und blutiger Poesie den Namen nicht verdient hat, ist aber auch Selbstreflexion angebracht. Schließlich hat jede Gesellschaft ihre eigene Form von poetischer Propaganda. Die große Kunst ist es, diese vor ihren jeweiligen sozialen, kulturellen und politischen Hintergründen zu erkennen und in keine Richtung blind zu sein.

Diskutiert mit Paul auf Twitter über Kunst und Propaganda: @gewitterland