Die Geschichten aus dem Berner Bremgarten-Wald
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Die Geschichten aus dem Berner Bremgarten-Wald

Zwischen Partygängern, Pilzlern und 'Pokémon Go'-Spielern: Eine Tour mit dem Oberförster des Berner Bremgartenwaldes.

Die Musik dröhnt aus den Boxen, so laut, dass mein ganzer Körper mitbebt. Samstag im Berner Bremgartenwald: Wo sonst Vögel zwitschern und der Glasbrunnen plätschert, ist heute ein normales Gespräch nicht möglich. Die Besucher sind auch nicht zum Reden da, sondern zum Tanzen. Schon am Nachmittag haben sich Hunderte Elektrofans zusammengefunden. An der Bar wird fleissig bestellt—sogar Moscow Mule gibt's im Wald. Auch die Raclettebrötchen sind fancy—mit Chutney, Haselnüssen und Sprossen.

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Das Partyvolk ist gemischt: Teenies, Alte, Kinder, Hunde. Die Hippies, Raver und Normalos strahlen um die Wette. Die einen vor Freude, die anderen wegen der Drogen. Mit einer Sonnenbrille auf der Nase geht das schon. In der tanzenden Menge treffe ich einen alten Bekannten. Chrütli ist einer der Waldmänner, die im "Bremer" leben und mittlerweile nationale Medienstars sind. Er tanzt barfuss, in der Hand einen Joint. Seine Hündin ist auch da. "Wenn es ihr zu laut wird, geht sie dann schon. Sie kennt den Heimweg", schreit er mir ins Ohr und verschwindet kurz darauf im weissen Rauch der Nebelmaschine.

Waldlichtung mit Party

Gleicher Wald, anderer Tag. Stefan Flückiger—Mitte Vierzig, Jeans, Hemd, Allerweltshaarschnitt—steht beim Kofferraum seines Offroaders und schlüpft aus seinen Halbschuhen in die Wanderstiefel. Ich will gleich loslaufen in meinen sauberen Sneakers, doch Überraschung: Wir fahren mit dem Auto—der Bremgartenwald ist so gross wie 500 Fussballfelder, zu Fuss könnte mir der Leiter der Forstbetriebe der Burgergemeinde in zwei Stunden nicht viel zeigen. Anschnallen, los geht's. Flückiger erzählt vom Privileg, im Wald arbeiten zu dürfen, einem Ort, wo die Bürger nur in der Freizeit hinkommen.

Der Oberförster sitzt aber einen Grossteil seiner Zeit im Büro, wenigstens hat er einen Fensterplatz mit Sicht auf den Wald. Schon als Kind sei er von Bäumen und Holz fasziniert gewesen, erzählt er. Einen ETH-Abschluss später ist er heute als Forstingenieur vor allem fasziniert vom Gedanken, mit seiner Arbeit etwas Gutes für die kommenden Generationen zu tun.

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Elf Millionen Kubikmeter Holz—dazu gehören Möbel sowie Brennholz—verbrauchen die Schweizer gemäss Bundesangaben im Jahr. Fünf Millionen kommen aus hiesiger Produktion, sechs Millionen werden importiert, auch aus fragwürdigen Quellen. "Oft kann man sich nicht sicher sein, ob in diesen Ländern in Zukunft überhaupt noch Wald steht", sagt Flückiger. In der Schweiz kann so etwas nicht passieren. Das Land hat eines der strengsten Waldgesetze, es wird laufend aufgeforstet. "Die Leute nehmen aber Wald meist nur als Wald wahr, wenn grosse, dicke Bäume darin stehen." Und jedes Mal wenn im "Bremer" Bäume gefällt werden, kann er sich auf Diskussionen einstellen. "Sie machen den Wald kaputt", heisst es dann. Alte Bäume müssen weichen, damit neue genug Licht und Platz zum Wachsen haben, antwortet er jeweils. Und dass diese neuen Bäume ihren Urenkeln Schatten spenden werden. Dann sind die Leute meistens beruhigt.

Der Bremgartenwald besteht aus drei Teilen: Ein Erholungsgebiet südlich der Autobahn, die mitten durch ihn durchführt. Der Norden wird weitestgehend für die Holzproduktion genutzt. Und ein weiterer Teil gilt als Reservat, was dort umfällt, bleibt liegen. Man will schauen, was passiert, wenn man eben nicht eingreift. Egal wo, so richtig allein ist man im Wald aber nirgends. Hundebesitzer und Sportler drehen ihre Runden, an den Feuerstellen wird gegrillt und die Pilzler sind sowieso überall. Flückigers Lieblingsbesucher sind die, nach deren Besuch gar nicht auffällt, dass sie da waren. Dann wurde nichts kaputt gemacht. Doch der Mensch hinterlässt Spuren.

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Egal was der Forstmeister tut, er tut es sanft. Auch bremsen. Wir steigen aus, Flückiger läuft ein paar Schritte und zeigt dann auf den Boden. "Hier fahren sie den Hang runter, zu Tausenden." Er meint die Biker. Dass man im Wald Velofahren will, kann er verstehen. Was ihn aber stört, sind die zahlreichen illegalen Biketrails. Je tiefer die Spuren werden, desto schlimmer die Erosion, der Boden geht kaputt. Auch für die Bäume bedeutet der Sport nichts Gutes: Die Reifen beschädigen die Wurzeln, der Baum stirbt und muss gefällt werden. Immerhin hat sich kürzlich eine Gruppe Fahrer mit Flückiger und seinen Kollegen zusammengetan. Sie sind dabei, eine Strecke auszuarbeiten, ein Teil wurde bereits gebaut. Übrigens war der Förster kürzlich selber auf zwei Rädern im Wald unterwegs: "Ein richtiger Kick!"

Dasselbe denken sich wohl auch jene, die mitten im Bremer ihr Gras anbauen. Immer mal wieder findet jemand eine Hanfplantage. "Bevor sich die Polizei darum kümmert, rauchen wir selbst noch was davon." Flückiger lacht laut. "Das war natürlich ein Scherz", sagt er und rückt seinen Hosenbund zurecht. Das grösste Problem an diesen Feldern ist für ihn der Dünger, den die Leute einsetzen. Dieser hat im Wald nämlich nichts zu suchen. Apropos Dünger: Dazu gehört auch, dass man sein Geschäft nicht hinter den nächsten Baum machen soll.

Mit den zahlreichen Kindergärten und Kitas, die den Bremgartenwald für ihren Unterricht nutzen, gibt es die Vereinbarung, dass sie den Abfall, den sie machen, auch wieder mitnehmen. Dazu gehören eben auch Exkremente. Flückigers Tipp, um herauszufinden, ob man sich im Wald angemessen verhält: "Würde es mich stören, wenn jemand dasselbe in meinem Garten macht?" Ist die Antwort auf diese Fragen ja, sollte man es bleiben lassen. Ebenso sollte man nicht regelmässig zur gleichen Zeit die gleiche Route durch den Wald nehmen. So bleibe man für Leute, die nichts Gutes im Schilde führen, unberechenbar. Leichen wurden schon länger keine mehr gefunden im Bremer. Erst kürzlich sei aber aber eine Joggerin von einem Vermummten angefallen worden. Die Frau schrie, so konnte Schlimmeres verhindert werden.

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Während wir weiter durch den Wald fahren—die Fensterscheiben sind unten, es riecht nach Sommer—erzählt Flückiger von den illegalen Waldsaunas. Es funktioniert ganz einfach: Loch graben, Tannenäste darüber legen in Form eines Iglus, in der Mitte ein Feuer, dann der Aufguss. Im Moment sei jedoch keine in Betrieb, die letzte hätten sie entfernen lassen. Überhaupt müsse immer mal wieder etwas abgebaut werden, weil die Leute ihre Baumhäuser oder Erdhütten nicht selbst entsorgen. Umso mehr entsorgen Menschen hingegen ihren Grünabfall und Kompost im Wald. Dadurch kommen Pestizide in den Waldboden oder Samen fremder Pflanzen, die sich dann wie Unkraut vermehren und kaum kontrolliert werden können.

Die Kontrolle hat im Dickicht auch schon manch Liebespaar verloren. Etwa jene, die Sex haben und die Flückiger bei der Arbeit antrifft. Der Förster zeigt zu einem Waldabschnitt, an dem eine Strasse vorbeiführt. Manchmal breche dann im Auto "e hölle Hektik" aus, sagt er und streicht gleichzeitig sanft mit der Hand eine Fliege aus seinem Gesicht, als wolle er sie an einen besseren Ort geleiten.

Flückiger läuft voraus zum Auto zurück und hebt dabei die Arme, als würde er sich ergeben. Noch bevor ich fragen kann, was das soll, wird mir klar, dass wir mitten durch Brennnesseln laufen. Wow, das tut weh. Und auch das angesagte Hochkrempeln der Jeanshose hätte ich mir sparen können, meine Knöchel würden nicht brennen wie die Kehle nach dem Verzehr einer Flasche Tabasco. Ich hätte wohl keine Chance, im Wald zu überleben.

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Waldlichtung ohne Party

Wir sitzen wieder im Wagen, ich kratze mich und Flückiger erzählt von den Friedbäumen. Wer will, kann seine letzte Ruhe im Bremgartenwald finden. Dazu wird die Asche des Toten bei den Wurzeln eines Baums vergraben. Dies ist selbst für den Förster eine Option. Bereits vor Hunderten von Jahren wurden Menschen im "Bremer" bestattet, damals noch konventionell unter der Erde. "Es gibt hier Keltengräber", sagt er. Kleine Grabhügel, nur schwer als solche erkennbar.

Während unserer Tour durch den Wald begegnen uns zahlreiche Radfahrer, Hundeführer und Spaziergänger. Künftig dürften es noch einige Besucher mehr sein: "Ich hoffe, dass die 'Pokémon Go'-Spieler nicht querbeet durch den Wald laufen, sondern auf den Wegen bleiben", sagt der Vater zweier Teenager. Der Handyempfang ist hier auf jeden Fall ausgezeichnet.

Letzte Station der Tour: Flückiger parkiert auf einer riesigen Lichtung. Dass hier eine Elektroparty stattfand, sieht man nicht. Er schaut zufrieden: "Die Veranstalter haben den Platz sauber zurückgelassen, die Tiere haben die Ruhe zurück." Man hört die Vögel zwitschern und den Glasbrunnen plätschern. Ein Reh huscht durchs Gebüsch.

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