FYI.

This story is over 5 years old.

News

Wir haben zwei Militärexperten gefragt, was passieren würde, wenn der Iran Atomwaffen hätte

Wäre der Iran launenhaft und unberechenbar wie Nordkorea? Würde er sofort den Großen Roten Knopf drücken und Tel Aviv wegbomben? Wovor haben alle solche Angst?

Am 9. März haben die Republikaner des US-Senats einen seltsamen offenen Brief an die politische Führungsriege des Iran veröffentlicht, in dem sie mitteilen, dass sie vorhaben, jegliches Atomabkommen, zu dem die Iraner mit Präsident Obama gelangen könnten, im Kongress in Stücke zu reißen. Wenn man nicht ganz genau hinsieht, könnte man fast auf die Idee kommen, dass die Republikaner wollen, dass der Iran Atomwaffen produziert. Sie behaupten, sie wollten einfach verhindern, dass Obama ein Abkommen eingeht, das dem Iran zu viel durchgehen lässt, und anscheinend ist absichtliches Konfliktschüren eine gute Taktik, um dies zu vermeiden.

Anzeige

Doch wovor haben alle solche Angst? Wäre der Iran launenhaft und unberechenbar wie Nordkorea? Würden sie sofort den Großen Roten Knopf drücken und im Herzen Tel Avivs zuschlagen? Würden sie ihre so vergrößerte Verhandlungsmacht einsetzen, um westliche Mächte aus der Region zu vertreiben und ihnen den Ölhahn abdrehen? Oder würde der Iran, entgegen all unserer Ängste, ein verantwortungsvolles Mitglied der internationalen Gemeinschaft werden, nur eben eines, das ein Atomwaffenarsenal sein Eigen nennt?

Um zu verstehen, wie die Welt aussähe, wenn die Islamische Republik Iran Atomwaffen zur Verfügung hätte, habe ich zwei Experten gebeten, es mir Schritt für Schritt zu erklären: William H. Tobey, leitender Forscher am Belfer Center for Science der Harvard University, und Kamran Bokhari, Berater für Nahost und Südasien bei Stratfor.

Künstlerische Darstellung zweier Kriegstreiber, nicht unserer geschätzten Experten

VICE: Bevor wir zum hypothetischen Teil kommen, wie wahrscheinlich ist dieses Szenario überhaupt?
William H. Tobey: Sie haben einige Schritte unternommen, die Anlass für ziemlich ernste Besorgnis waren, seitens der Internationalen Atomenergie-Organisation und des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Ich denke also nicht, dass es auszuschließen ist. Aber es ist auch nicht sicher.

Kamran Bokhari: Sind Atomwaffen wirklich das, was sie wollen, oder ist die geopolitische Macht, die in der Regel damit verbunden ist, für sie viel wichtiger? Den Einfluss in Syrien sichern? Die Bedrohung durch Daesh [den Islamischen Staat] nutzen, um die USA auf ihre Seite zu bringen? Sicherstellen, dass die schiitisch dominierte Regierung des Irak weiter an der Macht bleibt? Die dominante Position der Hisbollah im Libanon sichern? Garantieren, dass die Huthis weiterhin im Jemen Erfolge verzeichnen? Das sind die Dinge, die für Iraner viel wertvoller sind als Atomwaffen.

Anzeige

OK, sagen wir also, sie haben welche. Was passiert am ersten Tag?
Bokhari: Sie würden diese Tatsache für sich behalten und erst testen, wenn die Luft rein ist. Oder nicht testen. Wenn ich die Iraner wäre, warum sollte ich testen, wenn ich wüsste, dass es lediglich den Zorn der Ländergemeinschaft auf sich ziehen würde? Man hat sowieso schon Sanktionen gegen mich verhängt. Ich verhandle bereits, um die Sanktionen loszuwerden, und es erwarten mich weitere Sanktionen. Es würde all ihre Fortschritte zunichte machen, vor allem da sie jetzt seit zwei Jahren mit den Vereinigten Staaten verhandeln.

Tobey: Es würde die Risikoeinschätzung des Iran komplett verändern. Es würde Iran im Grunde einen Schild liefern, hinter dem er auf eine Art und Weise handeln könnte, die sich auf die Region destabilisierend auswirkt. Es würde dem Iran Eskalationsdominanz über seine Nachbarn verleihen. Er wüsste, dass er den extremsten Schritt machen könnte, was ihn ermächtigen würde—zum Beispiel—, erhebliche terroristische Aktivitäten in der Region auszuführen.

Ist Israel bedroht?
Bokhari: Wenn man sich die Größe Israels ansieht, wenn es ein feindliches Land gäbe, das potentiell Atomwaffen gegen sie einsetzen könnte, wäre das für sie ein Weltuntergangsszenario; sie könnten keinen einzigen Schlag in Kauf nehmen. Bei solchen Staaten ist es so, Israel kann es sich nicht leisten, seinen politischen Kurs davon bestimmen zu lassen, was die Gegenseite möglicherweise tun oder nicht tun könnte. Politiker, die eine Militärstrategie bestimmen müssen, gehen vom Worst-Case-Szenario aus.

Anzeige

Tobey: Sie hören, wie die Leute im Iran Dinge sagen wie: „Israel ist ein Ein-Bomben-Land", und sie befürchten, dass eine Regierung übernehmen könnte, die noch extremer ist als die aktuelle, angetrieben von irgendwelchen theologischen Überzeugungen, die eine Apokalypse als irgendwie positiv darstellen. Das sind Haltungen, die es in Israel gibt, und das steckt zum Teil hinter der Ansicht, es handle sich hierbei um eine Existenzfrage für Israel. Und wenn in Israel eine Atomwaffe eingesetzt würde, dann wären die Menschen sehr viel weniger gewillt, dort zu leben. Diese Waffen verursachen enormen Schaden.

Welche Auswirkungen hätte ein Atomangriff tatsächlich auf Israel?
Tobey: Die Hauptauswirkungen, von denen die Menschen sprechen, sind politische und wirtschaftliche. Es würde die Überlebenden zu dem Schluss bringen, dass sie nicht sicher sind. Es ist nicht buchstäblich ein Ein-Bomben-Land. Eine Atombombe kann Israel nicht buchstäblich zerstören, aber wenn man dem Land die wirtschaftliche und politische Stabilität entzieht, indem man jegliches Gefühl der Sicherheit eliminiert, und dann könnte Israel einknicken. Es ist für uns natürlich unvorstellbar, aber es gibt Menschen, die sich das vorstellen. Es hat weniger damit zu tun, wie viele Kilotonnen die Bombe hat, und mehr damit, wie die Sekundärfolgen aussehen.

Bokhari: Es gibt seit vielen Jahren diese Vorstellung, dass die Israelis die kerntechnischen Anlagen des Iran angreifen werden. Lassen Sie uns darüber sprechen, wie das aussehen würde: Man braucht dazu eine gewisse Anzahl Luftfahrzeuge, Treibstoff, Fähigkeit zur Luftbetankung, Flugrouten. Und wird die Sprengkraft ausreichen, um durch die weiß Gott wie vielen Meter Beton zu dringen, unter denen die iranischen Kernanlagen verborgen sind—Anlagen, die dazu noch geografisch weit verstreut sind? Und vergessen wir nicht, dass der Iran 1900 Kilometer von Israel entfernt ist. Wenn man das alles ausrechnet, dann gibt es physische und logistische Einschränkungen, die man mit einberechnen muss, bevor man irgendwelche Schlüsse darüber ziehen könnte, ob Israel die Kernanlagen erfolgreich angreifen könnte oder nicht.

Anzeige

Tobey: Ich denke, eine greifbare Bedrohung wäre, dass es Teheran mehr Spielraum geben würde, was seine Unterstützung von Gruppen wie Hisbollah angeht, und man würde die Bedrohung eines Vergeltungsschlags seitens der USA oder Israel niedriger einschätzen, da es eine Atomwaffe gäbe, die vor Angriffen auf die Streitmächte des Iran abschreckt. Die Hisbollah ist nun sowohl im Libanon als auch in Syrien. Was einen [nicht-atomaren] Angriff auf Israel angeht, würde der aus dem Norden kommen.

Bokhari: Die USA werden in diese Richtung nichts unternehmen, denn—aber da kann man sich wie gesagt nie sicher sein—durch die Verhandlungen mit dem Iran kann man das Land weiterhin als „Bösewicht" darstellen. Ein Angriff ist nicht erwünscht, weil dem Iran so die Sympathie der ganzen Welt sicher wäre. Die Chinesen und die Russen würden dann nicht weiter verhandeln und ich bin mir sicher, dass Europa auch geschockt wäre.

Tobey: Die Iraner argumentieren damit, dass sich die Landesgrenzen seit gut 300 Jahren im Grunde nicht verändert haben. Der Iran führt ihrer Aussage nach keine Aggressionskriege. Wenn es nur um die Invasion von Nachbarländern während der letzten paar Jahrhunderte geht, dann ist das so gesehen wohl auch wahr. Der Iran hat jedoch Stellvertretergruppen oder andere Regierungen dazu benutzt, seinen Einfluss zu vergrößern. Im Jemen, in Irak, in Syrien und im Libanon besitzt der Iran viel Macht. Darunter zu leiden haben die sunnitischen Länder der Region. Die Verbreitung des Schiismus ist ein strategisches, aber wahrscheinlich auch nicht das einzige Ziel des Irans. Ich bin mir sicher, dass Teheran über eine friedlich gestimmte Regierung in Bagdad viel glücklicher ist als zum Beispiel über die Saddam-Hussein-Regierung—die hat nämlich einen sehr kostspieligen und langwierigen Krieg gegen den Iran geführt.

Anzeige

Hätte das Ganze irgendwelche wirtschaftlichen Folgen für die anderen Länder?
Bokhari: Mit den schwerwiegendsten wirtschaftlichen Folgen hätte wohl der Iran selbst zu kämpfen, denn es würde dann auf jeden Fall noch weitere Sanktionen regnen.

Tobey: Schon seit Langem herrscht zwischen dem Iran und Saudi-Arabien ein kalter Krieg. Wenn dieser Krieg plötzlich nicht mehr kalt wäre, könnte das Auswirkungen auf den Ölfluss haben, denn saudi-arabische Ölraffinerien könnten in Mitleidenschaft gezogen werden, was wiederum den Ölpreis und die wirtschaftlichen Interessen der USA beeinflussen würde. Zur Zeit kümmert es Amerika nicht so sehr, weil dort viel Öl selbst produziert wird, und tatsächlich ist sogar China der wichtigste Ölkunde Saudi-Arabiens. Da die Strukturen der Weltwirtschaft jedoch so eng miteinander verflochten sind, würde eine Rezession in China auch die USA treffen.

Weiß der Iran, wie man mit Atomwaffen umzugehen hat, oder könnten da auch etwaige Dummheiten passieren?
Tobey: Bei der Einführung von Atomwaffen steigt natürlich auch das Risiko eines unbeabsichtigten oder nicht autorisierten Abschusses. Das Land ist im Umgang mit diesen Raketen ja nicht geübt. Man weiß nicht, wie ihre Doktrin im Bezug auf den Einsatz lautet, Überprüfungen wären unumgänglich—die amerikanischen Systeme haben zum Beispiel Schutzmechanismen, die einen eigenmächtigen Abschuss unmöglich machen. Wäre das bei iranischen Waffen genauso? Und selbst wenn: Wie würde die iranische Befehls- und Kontrollstruktur aussehen? Wer hat das Kommando? Der „Oberste Führer" [Ayatollah Chameini]? Der Präsident?

Anzeige

Könnte eine einzige Person den Befehl zum Einsatz von Atomwaffen geben?Bokhari: Man kann sich zwar verschätzen, aber absichtlich macht man keine Dummheiten. Als der Islamische Staat damals den Pilot bei lebendigem Leib verbrannt hat—was auch den Gipfel der Gewalt darstellte—, steckte da mit Sicherheit auch eine gewisse Logik dahinter. Man denkt sich ja nicht: „Weißt du was, heute schneide ich mir mal ins eigene Fleisch und verbrenne einen jordanischen Piloten!" Das ist methodischer Wahnsinn.

Besteht die Chance, dass der Iran Atomwaffen an Organisationen wie die Hisbollah oder die Hamas weitergibt?
Tobey: Es gibt Leute, die sich genau deswegen Sorgen machen, und es gibt Leute, die dagegen halten, dass so etwas sehr unwahrscheinlich wäre. Man könnte die Waffen ja bis zum Iran zurückverfolgen und die Konsequenzen für das Land—ein militärischer Angriff—wären dann so schlimm, dass der Iran es gar nicht erst so weit kommen lassen wird. Das ist trotzdem eine schwierige Frage. Wir wissen, dass der Iran schon terroristische Anschläge auf Zivilisten unterstützt hat. Aber bedeutet das dann auch, dass sie Atomwaffen an Terroristen weitergeben würden? Ich weiß es nicht.

Bokhari: Es ist ja jetzt nicht so, dass Atombomben einfach so in einem Regal stehen und du sie dir dann holst und einsetzt. So einfach ist das nicht. Sie sind entschärft, außer die Situation verlangt, dass die Atomwaffen zum Einsatz bereit sein müssen. 2006 haben wir das Ganze untersucht und eine Studie über chemische, biologische und radiologische Raketen sowie nichtstaatliche Akteure erstellt. Offen gesagt macht die Infrastruktur, die nichtstaatliche Akteure für Atomwaffen aufbauen müssten, ein solches Szenario quasi unmöglich. Man braucht das richtige Gelände, die Ressourcen, das technische Know-How und die Einrichtungen. Deswegen ist es für die Hisbollah oder die Hamas auch nicht möglich, an Atomwaffen zu kommen. Dann könnte man auch gleich behaupten, dass die Taliban in Pakistan so etwas durchziehen könnten, was einfach nur unrealistisch ist.

Kann ein solches Szenario überhaupt auch positive Seiten haben?
Bokhari: Es liegt tatsächlich im Bereich des Möglichen, dass die USA mit dem Iran zusammenarbeiten, um gegen den IS und damit auch gegen die Dschihadisten zu kämpfen. Irgendeine Art Übereinkommen ist nicht komplett ausgeschlossen. In der Vergangenheit hat das ja auch schon geklappt. Die USA haben schon öfters mit eigentlich verfeindeten Parteien kollaboriert. Beispiele wären Amerika und Stalin gegen Nazi-Deutschland, Amerika und China gegen die Sowjetunion oder Amerika und eben der Iran gegen die Taliban und auch gegen Saddam Hussein. Schwarz-Weiß-Denken ist hier unangebracht.

Tobey: Ich bin mir da nicht so sicher und hoffe, dass man das Ganze vermeiden kann.

Illustrationen: Sam Taylor