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Kopftuch

Reaktionen auf die neue deutsche Boxmeisterin nach Augenpipi sortiert

Besorgte Bürger, wütende User und Islam-Erklärer: Weil die Berliner Boxerin Zeina Nassar im Kopftuch die deutsche Meisterschaft gewann, hyperventiliert das Internet.
Foto: Twitter | Lara Fritzsche

Es gibt Momente, in denen es eigentlich nicht schwer fällt, sich einfach mal zu freuen: Etwa, wenn 65.000 Menschen ein friedliches Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen; Mails deines Arbeitgebers auf dem Desktop aufploppen, in denen er deinen Kolleginnen und dir hitzefrei gibt – oder wenn sich eine 20-jährige Boxerin ihren Lebenstraum erfüllt und die deutsche Meisterschaft gewinnt. Eine angemessene Reaktion darauf wäre zum Beispiel, sich in seinen Sessel fallen zu lassen und einer jungen Frau solch einen Titel vom Herzen zu gönnen. Doch das sieht das Internet ein wenig anders.

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Am Wochenende wurde die Berliner Boxerin Zeina Nassar Deutsche Meisterin im Federgewicht, also der Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm. Schnell verbreitete sich das Foto der Gewinnerin im Internet: Auf dem Bild lacht Nassar und trägt einen blauen Kampfanzug, dazu einen Gürtel in Deutschlandfarben. Stolz präsentiert sie in ihrer linken Hand einen glockenförmigen Pokal, ihre rechte umklammert die gerade gewonnene Siegermedaille (ebenfalls in Schwarz-Rot-Gold). So weit, so gut.

Weil die libanesischstämmige Berlinerin auf dem Foto aber ein Kopftuch trägt, fühlen sich Internet-Wutbürger und Wutbürgerinnen dazu ermutigt, zu ragen wie Tom Morello in den 90ern mit seiner Band gegen die Maschine. Ihre Reaktion: Hass statt Herzen. Wir haben die aufgebrachten Kommentare nach ihrer Weinerlichkeit sortiert.

Am wenigsten weinerlich: Wir gratulieren – wie normale Menschen

Die logischste, gängigste und häufigste Reaktion auf den Gewinn der deutschen Meisterschaft ist es: zu gratulieren. Mit ein paar netten Worten, gerne in Verbindung mit ein einigen Emojis.

Wir spielen Twitterpolizei

Es gibt Internetnutzer, deren erste Reaktion auf den Titelgewinn einer jungen Boxerin darin besteht, erstmal anzuprangern, dass das Gewinnerfoto überhaupt verbreitet wird. Sie argumentieren, dass andere Titelgewinne nicht abgebildet würden – und es nur am Kopftuch läge, dass man Nassar Aufmerksamkeit schenkt.

Um es nochmal klar und deutlich zu machen: Es sollte eigentlich scheißegal sein, was eine deutsche Frau auf dem Kopf trägt (oder nicht trägt), wenn sie dabei wie ein Champion boxt.

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Selbstverständlich ist es dennoch spektakulär und sehenswert, wenn eine Boxerin mit Kopftuch einen Titel gewinnt. Erstens, weil es gar nicht mal so viele Sportlerinnen (oder gar Boxerinnen) mit Kopftuch gibt, es deshalb einzigartig ist, und zwar so einzigartig, dass sogar der Deutsche Boxverband 2013 extra die Wettbewerbsordnung änderte, damit Nassar mitboxen kann. Zweitens, weil es andere Musliminnen dazu ermutigt, Sport zu machen und ihren Träumen nachzueifern. Und drittens, weil es zeigt, dass auch Frauen mit Kopftuch deutsche Meisterinnen werden können – und ein religiöses Kleidungsstück nicht über ihre nationale Identität entscheidet.

Der Frau müssen wir doch helfen!

Man hat sie zwar nicht gefragt, und ihre Hilfe will man auch gar nicht haben, trotzdem fühlen sich manche User dazu auserwählt, im Alleingang die muslimische Frau zu retten. Eine Boxmeisterin, die Dutzende Stunden pro Woche trainiert, seit fünf Jahren (!) unbesiegt ist und es in die neueste Werbekampagne von Nike geschafft hat, muss befreit werden, Leute! Endlich kommt der Ritter auf seinem Ross mit 280 Twitter-Zeichen angerauscht und befreit die arme, unterdrückte Frau. Dass Nassar womöglich ihr Kopftuch aus freien Stücken trägt, ist für ihn nebensächlich.

Ist die Hilfe wirklich nötig? Nassar sagte mal in einem taz-Interview: "Zu Beginn hat es mich schon sehr genervt, dass ich nur aufs Äußere reduziert wurde. Mir ist wichtig, dass man mich als Sportlerin sieht. Das Kopftuch macht mich nicht als Menschen aus." In einem Portrait von Bento sagte Nassar aber auch, dass das Kopftuch "Schutz und Geborgenheit" für sie bedeute.

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Solch ein Erfolg macht uns Sorgen

Nicht jeder und jede Deutsche empfindet bei einem Pokalsieg Freude für die Gewinnerin. Das ist ok, schließlich ist Neid die deutscheste Erfindung seit … der Kleingartennutzungsverordnungen. Aber Angst zu empfinden? Das halten wir doch für sehr weinerlich.

Für viele Internetuser scheint der Anblick von Zeina Nassar, wie sie stolz in die Kamera lächelt, nicht das Ende eines Wettkampfes zu sein, sondern vielmehr der Anbeginn einer düsteren Zeit. Sie machen sich eben ernsthafte Sorgen über die Zukunft von Deutschland: Wenn demnächst Nazis Frauen mit Kopftuch verprügeln, müssen sie nun damit rechnen, dass sie sich wehren! Stellt euch nur vor, es kommen jetzt noch mehr Mädchen mit Kopftuch auf Idee zu boxen! Dann muss der Verfassungsschutz demnächst ja auch noch Geld für Selbstverteidigungskurse ausgeben!

"Ich sehe was, was du nicht siehst"

Eine besonders krude Art, von sportlichen Erfolgen abzulenken, ist es, einfach kurzerhand das Thema zu wechseln. Menschen, die sich dieser Taktik bedienen, stellen gerne mal eine absurde Verbindung auf, die so eigentlich nicht existiert. Sie fragen dann die Journalistin des Süddeutsche Zeitung Magazins, Lara Fritzsche, ob sie selbst kein Kopftuch trage, und fordern sie auf, ihre Landsleute zu respektieren und deshalb eins aufzuziehen (was zum Teufel?). Um Lara Fritzsche geht es aber bei der ganzen Sache herzlich wenig – und es kann Usern auch herzlich egal sein, ob und wie und wann sie Kopftuch trägt.

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Eine noch groteskere Vermischung von Themen schaffen nur User, die eine Verbindung zwischen den Ereignissen von Chemnitz und einer Athletin in Kopftuch konstruieren. Pro-Tipp der VICE-Redaktion: In Kopftuch spät abends durch Chemnitz zu laufen, scheint aktuell nicht die beste Idee. Zeina Nassar repräsentiert mit ihren sportlichen Erfolgen hingegen Deutschland in vielerlei Hinsicht besser als der wütende Mob, der "Frei! Sozial! National!" gröhlend durch ostdeutsche Städte grassiert.

"Ich erklär dir jetzt mal den Islam"

Es tummeln sich nicht nur ausgewiesene Deutsch-Experten und -Expertinnen im Internet. Auch zum Islam haben sie einiges zu sagen. Sie haben die Haddhite gelesen, rezitieren Suren wie Goethe-Gedichte und scheitert die selbst verordnete Schlagerkarriere, haben sie immer eine Bewerbung als Muezzin in der Hinterhand. Schließlich wollen sie, die versierten deutschen Islam-Experten, ihr Wissen preisgeben, in die Welt hinausschreien! Die Stunden mühevoller Internetrecherche wären sonst schließlich umsonst. Und umsonst darf in Deutschland nur das Bockwurst-Mittagessen sein, nicht aber emsig investierte Zeit. Deshalb: Vorhang auf für die große Islam-Know-How-Show, präsentiert von yours truly: Almans.

Am weinerlichsten: Wir begeben uns auf Spurensuche und sprechen ihr die deutsche Identität einfach mal ab!

Sie spitzen die Ohren und schärfen den Blick, den Spurensuchern entgeht nichts. Am besten halten sämtliche Deutsche schon mal den Arierpass der Urgroßmutti bereit, denn die Spurensucherinnen schwärmen aus, um alles nicht-deutsche zu identifizieren. Das sind Herkunft, Name, Aussehen – aber in erster Linie natürlich das Kopftuch.

Ihre Logik: Im Kopftuch manifestiert sich der politische Islam, es ist der erbrachte Beweis, dass sich jemand der deutschen Kultur nicht annähern kann – und im Endeffekt ist Nassar deshalb auch keine deutsche Meisterin, sondern ein "schlecht integriertes Kopftuchmädchen".

Dass Nassar als Schauspielerin am Maxim-Gorki-Theater auftritt, in Potsdam Soziologie studiert und sich ehrenamtlich in Vereinen einbringt, wird mir nichts, dir nichts ignoriert. Das würde schließlich darauf schließen lassen, dass die These nicht haltbar ist, wonach die Integration von Frauen mit Kopftuch zwangsläufig scheitert. Was genau das jetzt sein soll, dieses Deutschsein, darauf haben die Spurensucher selbst wenige Antworten.

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