Warum ich jetzt nicht mehr im Supermarkt klaue
Foto: imago | Jochen Tack

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Diebstahl

Warum ich jetzt nicht mehr im Supermarkt klaue

Unser Autor stahl jahrelang Lebensmittel. Dann wurde er erwischt.

Neulich haben sie mich endlich beim Klauen erwischt. Endlich, weil ich seit Jahren darauf warte. Nicht sehnsüchtig. Eher in weiser Vorahnung. Bevor es passierte, hatte ich schon ordentlich Beute gemacht. Ich hatte Lebensmittel geklaut, ausschließlich in großen Supermärkten. Mein System war simpel: Wenn ich mit einer Tasche in den Laden ging, blieben die letzten drei Produkte am Kassenband zufällig drin. Manchmal waren es wirklich die am tiefsten in der Tasche liegenden Produkte, manchmal handelte ich mit Kalkül. Eine Packung Frischfleisch eignet sich zum Beispiel hervorragend dafür, recht unauffällig im Rucksack zu verschwinden und kostet auch noch richtig Kohle.

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Dabei habe ich nicht geklaut, um Geld zu sparen. Die paar Euro, die ich durch meine Diebstähle gespart habe, hätte ich auch noch gehabt. Ich tat es, weil mir Klauen einfach Spaß machte.

Ladendiebstahl ist das Verbrechen des kleinen Mannes und der kleinen Frau. 2015 taten es die Deutschen rund 26 Millionen Mal. An jedem Tag wurde also 71.000 Mal geklaut. Das ist mehr als Menschen in meiner Geburtsstadt wohnen.

Ich bin wie vermutlich viele dieser Hunderttausenden Diebe an sich ein recht ehrlicher und fairer Mensch. Im Traum würde mir nicht einfallen, ein Auto zu knacken oder eine Tür aufzubrechen. Mir hat es vollkommen gereicht, zwei Mangos aus dem Supermarkt zu schmuggeln, um mich ein wenig wie ein Bond-Bösewicht zu fühlen.


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Auf 3,9 Milliarden Euro beliefen sich 2015 die sogenannten "Inventurdifferenzen" im deutschen Einzelhandel, hat das Kölner Handelsforschungsinstitut EHI errechnet. Mehr als die Hälfte davon ging auf das Konto von mir und meinen Mittätern. Außerdem klauten Mitarbeiter Ware im Wert 900 Millionen. Lieferanten waren für weitere 300 Millionen verantwortlich und die restlichen 600 Millionen entstanden durch Fehlbuchungen oder verlegte Ware.

Bei 26 Millionen Diebstählen ist das durchschnittliche Diebesgut damit etwa 4,70 Euro wert. Was auch auf mich zutrifft. Ungefähr 30 Mal habe ich geklaut, im Schnitt vielleicht 5 Euro pro Raubzug. Macht 150 Euro verteilt auf die vergangenen vier Jahre. Pfand wegbringen lohnt sich vermutlich mehr. Aber beim Pfand wegbringen fühlt man sich wie ein Streber, nicht wie ein Bond-Bösewicht.

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Weshalb Menschen Spaß am Klauen haben

Der Mediziner Peter Ernst Spindler hat in seiner Doktorarbeit versucht herauszufinden, warum Menschen wie ich gerne klauen. Der Titel: "Verhaltensanalyse von Ladendiebstahl mittels Täterbefragung". Stehlen, heißt es da, kann unterschiedlichste Gründe haben.

Es kann eine Entladung "von Drangzuständen, Unruhe und Angst" sein. Oder man tut es "als Abwehr gegen zwanghafte Impulse, aus Lust am Abenteuer, als sexuelle Ersatzhandlung bzw. Lustgewinn mit Orgasmen des fetischistischen und masochistischen Diebstahls, als Ausdruck des Kastrationswunsches vom Sohn gegen den Vater oder des 'Penisneides', als Nicht-verzichten-wollen auf die mütterliche Brust."

Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich gegen den Kastrationswunsch und für die Lust am Abenteuer. Spindler kommt in seiner Arbeit übrigens zu dem Ergebnis: "Ziel und Antrieb von Ladendiebstahl ist Konsum." Stimmt in meinem Fall ebenfalls, wobei ich wohl bemerken darf, dass ich häufig meine gestohlene Ware an den nächsten Bettler weitergegeben habe – ich bin nicht nur Möchtegern-Bösewicht, sondern auch Möchtegern-Robin Hood. Oder wollte ich mich nur nicht allzu schlecht fühlen? "Solange wir der Meinung sind, dass sich unsere Taten als moralisch legitim darstellen lasse", beschreibt es Dan Ariely, ein amerikanisch-israelischer Psychologieprofessor, "fühlen wir uns nicht schuldig."

Ich war dennoch nicht unbedingt stolz darauf, im Supermarkt zu klauen. Das wussten nur sehr wenige Menschen in meinem Umfeld. Meiner Mutter und meiner Freundin werde ich es niemals erzählen, auch wenn sie vermutlich darüber lachen würden. Der Name, unter dem ich diesen Text schreibe, ist daher auch nicht mein echter. Ich zeige Reue wegen Hackfleisch. Ich bin ein mieser Krimineller. Trotzdem oder vielleicht auch deshalb klaute ich weiter. Bis sie mich erwischten.

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Wie mir zwei Tüten Flips zum Verhängnis wurden

An jenem Tag vor einigen Wochen hatte ich Freunde, Freundin und Geschwister zum Grillen im Park eingeladen. Als die ersten Gäste kamen, ging ich noch einmal kurz rüber zum Rewe. Ich war recht stoned und just in diesem kurzen Abschnitt der grasbedingten Orientierungslosigkeit betrat ich den Supermarkt. Leider hatte ich vergessen, was ich eigentlich besorgen wollte und irrlichterte durch die Gänge. Schließlich packte ich drei Tüten Flips und zwei Packungen Grillkäse in den Rucksack. An der Kasse war eine Schlange. Und auf meiner Schulter tauchte der kleine Bond-Bösewicht auf und flüsterte mir einen waghalsigen – und absolut dämlichen Plan – ins Ohr.

Ich packte zwei Tüten Flips aus, legte sie auf irgendein Regal, machte ein Gesicht von wegen "Tja, nix dabei heute für mich und Flips machen fett", und ging zum Ausgang. Als ich gerade die zweite Schiebetür passieren wollte, raus in die Freiheit von Berlin-Friedrichshain, legte mir ein Mann seine Hand auf die Schulter und sagte: "Kannst du mal bitte stehen bleiben?" Zuletzt habe ich mich so gefühlt, als mich der Freund meiner Mutter beinahe beim Wichsen überrascht hätte. Der kriminelle Teil meines Gehirns war wacklig und nun brach dieses Kartenhaus zusammen. Ich würde alles gestehen.

Wirklich unangenehm war der Weg zurück durch den Laden in sein Hinterzimmer. Ich musste an die Simpsons-Folge denken, wo Bart beim Stehlen eines Videospiels erwischt wird und vom grimmigen Laden-Sheriff durch den Wolf gedreht wird. Als mich die Supermarkt-Mitarbeiter bei meinem Gang nach Canossa vorbei an Erbsen und Möhrchen musterten, lächelte ich freundlich und hoffte, sie würden mich für einen Kumpel des Security-Mannes halten. In seiner Kabine – links ein Fax-Gerät, rechts kalter Kaffee und ein Computer aus vergangenen Zeiten, also exakt so wie bei den Simpsons – sprachen wir über mein Vergehen. Weil mir doch ein wenig die Eier geschrumpft waren, erzählte ich ihm nicht die Wahrheit. Ich sagte, es täte mir leid, ich sei nur sehr stoned und etwas orientierungslos und war mir eigentlich sicher, dass ich alles aus meinem Rucksack gepackt hätte, aber offenbar hätte ich wohl doch was übersehen und das ginge natürlich gar nicht, das müsste ich bezahlen, klar.

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Der schlimmste Dieb des Landes

Er merkte, dass ich nur ein harmloser Gelegenheitsdieb war und ließ Gnade walten. Er verzichtete auf eine Anzeige, ich musste 75 Euro zahlen. Inzwischen hatte ich mich regelrecht mit ihm angefreundet, wir unterhielten uns über seinen Job. Er erkenne zu 80 Prozent, ob ein Mensch im Supermarkt klaue, behauptete er. Die Augen, der Gang, die Gestik, mit der Zeit habe sich da für ihn ein Muster ergeben. Ich fragte ihn, ob er das denn schlimm finde, wenn Menschen Joghurt oder Grillkäse klauen. Ich müsse das so sehen, meinte er, da käme was zusammen. Wir Supermarkt-Diebe hätten zusammen fast so viel Geld erbeutet, wie der FC Bayern wert ist. Zusammen seien wir der schlimmste Dieb des Landes. So müsse man das auch mal sehen.

Ich fand seine Argumentation logisch und als wir uns vor dem Markt verabschiedeten, taten wir das mit einem Handschlag und einer angedeuteten Umarmung, obwohl er mir gerade versprochen hatte, mich anzuzeigen, wenn ich in den kommenden zwei Jahren Märkte betreten würde, in denen er Dienst hat. Ich habe jetzt für zwei Jahre Hausverbot bei Rewe, Penny und Toom. Deutschlandweit. Das ist die größte Strafe, die ich jemals erhalten habe.

Ich ging zurück zu meinen Freunden. Wir grillten das Fleisch, das ich zwei Stunden zuvor im Edeka geklaut hatte. Ich habe seitdem nie wieder gestohlen.

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