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Wir haben mit der Crew gesprochen, deren Schiff von Geflüchteten gekapert wurde

"Terroristen sind das nicht", sagt Ingenieur Ramanan, "sondern nur Flüchtlinge."
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Foto: imago | Xinhua

Wenn sich der Italienische Innenminister Matteo Salvini eine Meldung wünschen dürfte, die perfekt zu seiner Abschottungspolitik passt, wäre es vermutlich diese: "Ertrinkende Flüchtlinge greifen Schiff an, das sie vor dem Tod im Mittelmeer rettete."

Auf den ersten Blick scheinen Salvinis kühnste Träume in Erfüllung gegangen zu sein. Am vergangenen Mittwoch geraten zwei Schlauchboote vor der libyschen Küste in Seenot, darauf 108 Geflüchtete, unter ihnen 12 Kinder, so meldet es die dpa. Die libysche Küstenwache, die eigentlich von der EU mit der Seenotrettung im südlichen Mittelmeer beauftragt wurde, ist laut italienischem Funkspruch gerade "außer Betrieb". Eine Erklärung gibt es dafür bisher nicht.

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"Italien werden sie nur mit dem Fernglas sehen"

Glücklicherweise liegt der Unglücksort auf der Route der "El Hiblu 1", eines Öl-Tankers unter Flagge des Inselstaates Palau, der die Schiffbrüchigen rettet. Doch anstatt sich zurück nach Libyen verfrachten zu lassen, befehlen sie den Seeleuten, Kurs auf Malta zu nehmen. Dem kleinsten europäischen Mitgliedsstaat. Anders als in Libyen können Sie hier Asylanträge stellen, haben immerhin den Hauch einer Chance auf ein Leben in Europa.

"Das ist Piraterie", urteilte Matteo Salvini schnell. Beinahe höhnisch prophezeit der italienische Innenminister den Menschen auf dem herumgeisternden Schiff: "Italien werden sie nur mit dem Fernglas sehen." Und behält damit vorerst Recht. Am Donnerstag stürmt die maltesische Armee mit Hubschrauber und Schnellbooten den Öltanker und eskortiert ihn in den Hafen von Valetta.


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Blöd nur, wenn ausgerechnet der Besitzer des geraubten Schiffes die Einschätzung des italienischen Innenministers über die vermeintlich aggressiven und hinterlistigen Piraten nicht teilt. Gegenüber VICE erklärt Salah El Hiblu: "Die Geflüchteten entkommen Hunger und haben das Recht zu überleben. Niemand kann ihnen die Schuld dafür geben, dass sie um ihr Leben kämpfen."

Salah El Hiblu stellt VICE Kontakt zu zwei Mitgliedern der Schiffsbesatzung her, seinem Bruder "Chief Officer" Nader El Hiblu und dem "Chief Engineer" Ramanathan Ramanan. Anhand ihrer Schilderungen lässt sich ansatzweise nachvollziehen, was in den vergangenen Tagen auf dem roten Öltanker passierte.

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"Als die Geflüchteten merkten, dass wir zurück nach Libyen fahren, sind ungefähr 30 Personen vor der Kommandobrücke aufgetaucht."

"Wir waren auf dem Weg von Istanbul nach Tripolis. Da bekam ich die Nachricht von einem italienischen Patrouillen-Flugzeug, dass wir die Leute an Bord nehmen sollen, weil kein anderes Schiff in der Nähe ist", erzählt Nader El Hiblu am Telefon. Trotzdem konnten angeblich alle Geflüchteten gerettet werden. "Geholfen hat uns dabei niemand", beklagt sich El Hiblu.

"Als die Geflüchteten merkten, dass wir zurück nach Libyen fahren, sind ungefähr 30 Personen vor der Kommandobrücke aufgetaucht", erzählt der Ingenieur Ramanan. Einige hätten sich mit Hämmern und anderem Werkzeug bewaffnet. Zu diesem Zeitpunkt ist das Schiff nur sechs Seemeilen von der libyschen Hauptstadt Tripolis entfernt. Hinter der verriegelten Tür der Schiffsbrücke habe sich die Crew verschanzt, erzählt Ramadan.

"Tam Tam, Tam Tam", imitiert der Ingenieur das Geräusch des Getrommels, das die Menschen auf den Fensterscheiben der Kommandozentrale erzeugten. Auch wenn sie vorerst nicht ins Innere des Schiffes eingedrungen wären, sei ihre Botschaft klar gewesen: "Wenn ihr zurück nach Libyen fahrt, habt ihr ein großes Problem. Was sollen sechs Crew-Mitglieder gegen 100 Geflüchtete tun?" So erinnert es Chief Officer El Hiblu.

Immer wieder hätten sie gesagt, dass sie Angst vor der libyschen Polizei und den Gefängnissen haben. Die Besatzung der "El Hiblu 1" beschloss laut Schiffsingenieur Ramanan aufgrund der akuten Bedrohung, drei Geflüchtete auf die Brücke zu lassen. Sie sollten sicherstellen, dass der Steuermann nicht doch heimlich den Kurs ändert und es zurück in das Bürgerkriegsland Libyen geht.

Offenbar gelang es dem Kapitän des Schiffs trotzdem einen Alarm abzusetzen, so berichtet es dpa. Und Malta bereitete sich in der Zwischenzeit offenbar gut auf die Ankunft der Geflüchteten vor. Unter neuer Führung erhielt die "El Hiblu 1" keine Erlaubnis, in die Hoheitsgewässer des Zwergstaates einzulaufen. "Wir übermittelten per Funk unsere Position und erklärten, dass die Geflüchteten an Bord unbewaffnet sein", sagt Ramanan.

Wenig später stürmen maltesische Spezialeinheiten das Schiff auf offener See, sie tragen Schutzwesten und Maschinengewehre. Das lässt sich auf Fotos ihrer Rückkehr in den Hafen von Valletta erkennen.

Verletzt wird dabei keiner, sagen die Mitglieder der Crew. Nur fünf Geflüchtete werden nach Angaben der dpa festgenommen. Identifiziert hat sie unter anderem der Ingenieur Ramanan. "Aber Terroristen sind das nicht", sagt der Ingenieur Ramanan, "sondern nur Flüchtlinge."

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