Hand hält Pflanze in den Himmel
Foto Hand: VICE || Pflanze: Pixabay || Himmel: Pixabay 

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Klimawandel

Warum mich das Thema Nachhaltigkeit ankotzt

Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich meinen Müll nicht trenne?

Der Winter fängt an und ich trage meinen neuen Pelzmantel. Ich sehe die Blicke der Anderen, auf der Straße, im Bus. "Das ist aber schon Kunstpelz, oder?", fragt eine Freundin, als wir uns in der üblichen Runde in unserer Stammbar treffen. Der Mantel ist bodenlang, kuschelig weich und ja, natürlich aus Kunstpelz.

"Seit ich vegan lebe, ist meine Haut viel glänzender geworden", erzählt mir prompt eine Bekannte, ohne dass ich danach gefragt habe. Mein Mantel spricht für sich selbst. Ohne es zu wollen, habe ich mal wieder eine dieser Diskussionen ins Rollen gebracht. Über die Nachhaltigkeit. Ich bin genervt. Ich kenne diese Debatten. Sie eskalieren schon, bevor sie angefangen haben.

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Nachhaltigkeit. Das ist ein Wort, das heute überall verkauft wird. Im Supermarktregal wie in IT-Firmen. Ein nachhaltiges Leben zu führen, scheint ein neues, das Elfte Gebot zu sein. Veganismus, Minimalismus, fair, plastikfrei, bio, regional und in jedem Fall ethisch vertretbar. Das ist alles super, klingt zumindest so. Oft ist es aber auch nur Greenwashing, noch so ein Schlagwort. In einer Gesellschaft, die höher, schneller, weiter lebt, wird das nachhaltige Leben schnell zum Wettrüsten.

Darum, wirklich die Welt besser zu machen, geht es dabei gefühlt allerdings viel zu selten. Nach dem Motto "Ich bin ein besserer Mensch als du" predigen einige ihre Weisheiten, ob man sie hören möchte oder nicht. Und selbst wenn er oder sie die Mitmenschen damit tatsächlich sensibilisieren will. Was bei mir hängen bleibt, ist vor allem die Belehrung. Dass ich schlechter bin, ein schlechtes Leben führe.

In der Praxis sieht das richtige Leben so aus: Man darf kein Fleisch essen, soll sich vegan ernähren, keinen Kaffee trinken und am besten alles aus der Region einkaufen. Noch besser selbst herstellen. Supermärkte mit Plastikverpackungen sind zu meiden. Massenproduktion ist schlecht. Make-up aus dem Drogeriemarkt ist schlecht. Langstreckenflüge sind schlecht. Die Liste ist endlos.

Sie überfordert alle, die anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Was aber noch viel schlimmer ist: Wenn man nicht gleich alles richtig macht, sich nicht an jede Nachhaltigkeitsregel hält, wird man gescholten, angeprangert, ausgegrenzt und so bestraft. Ich bin genervt.

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Der Klimawandel ist scheiße

Jeden Tag eine Stunde zu duschen und Unmengen an Plastik zu verbrauchen, ist scheiße. Niemand von uns möchte in zwanzig Jahren an einer Ozonvergiftung sterben, im Winter ein Freibad besuchen können oder an einem tropischen Wirbelsturm zugrunde gehen. Und niemand möchte Videos von durch Plastik zusammengeklebten Eichhörnchen sehen, die sich durch unseren Plastikkonsum nicht mehr bewegen können.

Wir alle wissen, wo das Problem liegt. Und wie dringlich und verdammt ernst das Ganze ist. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, und es ist ein bisschen wie in politischen Parteien: sich radikalisieren oder sich abwenden. Man wird entweder zur Nachhaltigkeitsexpertin oder man ist die Person mit dem Pelzmantel. Als Experte lebt es sich nicht leicht. Es gibt Regeln und Vorschriften und das unersättliche Verlangen, jede andere Person von seinem Lebensstil zu überzeugen.

Vor ein paar Monaten war ich direkt an der grünen Quelle. Auf einer Nachhaltigkeitskonferenz über Fashion und Entwicklung. Menschen aus der ganzen Welt nahmen teil, Journalisten, Aktivistinnen, Radikale. Eine Designerin aus Uganda, die Klamotten aus Plastik entwirft. Ein niederländischer Unternehmer, der Nachhaltigkeitszertifikate in der giftigen Textilbranche etablieren möchte. Und viele Umweltaktivisten, die schon brennend darauf warten, uns alle zu belehren, was wir trotzdem noch falsch machen.

Hier soll ich drei Tage lang alles über Recycling, Upcycling und Cradle-to-Cradle, also eine Produktion ohne Müll, lernen. Stattdessen lernte ich einiges über die Regeln und Pflichten der besser lebenden Menschen, und davon gibt es anscheinend sehr viele.

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Zugegeben war es nicht die beste Idee, meinen neuen Kunstpelzmantel genau an diesem Wochenende einzuweihen. Kunstpelz. Andererseits war das Motto "Fashion", so dachte ich, und das definiert ja jeder anders. Dachte ich falsch. Begrüßung im kleinen Kreis. Die Journalistin auf dem Stuhl gegenüber, kaum älter als ich, wirft mir feurige Blicke zu. Als könnte sie damit meinen Pelz verbrennen. Ich habe noch kein Wort gesagt, da hasst man mich schon mit Leidenschaft. Auch die anderen Gesichter schauen finster in meine Richtung. Ich war innerlich darauf eingestellt, jederzeit wie Samantha Jones aus Sex and the City mit Farbe beworfen zu werden. Drei Tage lang war ich nun die Person mit dem Pelzmantel aus Kunstpelz und sonst eigentlich gar nichts.


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Am zweiten Tag sitze ich in einem Gesprächskreis von Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus der ganzen Welt, die sich gegenseitig ihre größten Nachhaltigkeitssünden beichten. Ich lerne viele neue Sünden kennen, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren können. Den Backofen vorheizen, mit Plastikkulis schreiben, Durexkondome kaufen, Waschpulver benutzen. Dabei nickt man sich jedes Mal verständnisvoll zu, die Sünden des Anderen sind verziehen.

Ich fühle mich wohl in einer Runde, in der niemand perfekt ist und jede Sünde akzeptiert wird. Nachhaltig zu leben, scheint auch für die Nachhaltigen nicht immer nachhaltig möglich zu sein. "Ich trenne meinen Müll nicht", beichte ich. Mir nickt niemand zu. Irgendwo zwischen Flugzeugfliegen und einer elektrischen Zahnbürste (aus Plastik!) gibt es eine ökologische Grenze. Und die darf man nicht selbst ziehen. Dass ich mich vegan ernähre und noch nie ein Auto gefahren bin, interessiert niemanden.

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Meine Jugend verbrachte ich auf dem Dorf. Kondome kauft man hier in der Apotheke oder, wenn man ganz mutig ist, bei Petra an der kleinen Supermarktkasse. Anders als heute in Berlin-Mitte gibt es dort schlichtweg keine veganen Einhorn-Kondome im Sortiment. Bevor ich also gar nicht verhüte, kaufe ich doch lieber die Durexpackung. Auch mit Waschpulver dachte ich bisher, etwas richtig zu machen. Da nehme ich extra das lose Pulver in der aus recycelten Papier bestehenden Großpackung statt einzelne, in Plastik abgepackte Waschgele in giftigen Farben. Und dann ist das auch falsch. Ich frage mich, wie mein Umfeld auf ungewaschene Klamotten reagieren würde. Oder auf einen Schwangerschaftsabbruch.

Diese Radikalität der Nachhaltigen und Guten nervt. Sie demotiviert mich, das Thema Nachhaltigkeit weiter in mein Leben zu lassen. Wenn doch sowieso alles falsch ist. Dabei kann gar nicht jeder und jede den Einkauf in einem verpackungsfreien Supermarkt erledigen – es sei denn, er oder sie fährt vorher 150 Kilometer mit dem Auto. Und nicht jeder kann sich den veganen, bio-regionalen, nachhaltigen Lebensstil leisten. Vielleicht möchte jemand auch einfach nicht auf sein Steak verzichten. Ja, das finde ich als Veganerin vielleicht auch nicht geil, aber es ist OK. Dann hilft man eben woanders.

Der Punkt ist: Viele Leute essen mehrmals am Tag Fleisch, fahren täglich mit dem Auto und shoppen regelmäßig bei Primark. Wenn jeder von ihnen auf nur eines dieser Dinge verzichten würde, wäre das schon mal ein Anfang. Den man vielleicht nie gemacht hätte, wenn man das Gefühl hat, eh nichts richtig machen zu können.

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Am letzten Tag der Nachhaltigkeitskonferenz spricht dann eine Umweltorganisation zu uns, über die schlechten Produktionsbedingungen der Textilindustrie, die Probleme von Discounterprodukten und ein besseres Leben. Am Ende gibt es Applaus und ich habe noch immer nichts Anwendbares gelernt über Nachhaltigkeit. Ich weiß nun, wie wenig nachhaltig unsere Welt ist und wie dramatisch das ist und was falsch ist an meinem eigenen Lebensstil ist.

Was ist denn jetzt nachhaltig? Bei meiner Recherche erfahre ich, dass ich als Erstes mal auf Palmöl verzichten soll. Eine WWF-Studie sagt mir, dass für den Palmölanbau in großem Ausmaß Regenwälder gerodet, bedrohte Arten wie der Orang-Utan vertrieben und Landnutzungsrechte missachtet werden. Gleichzeitig heißt es aber, dass "der Austausch des einen Öls durch ein anderes das Problem nicht löst, sondern nur verlagert und teilweise gar verschlimmert. Es würden mehr Flächen benötigt, es entstünden mehr Treibhausgasemissionen und es wären mehr Arten bedroht". Stattdessen sollen die Anbaubedingungen verbessert werden. Ich weiß nicht genau, wie ich das anstellen soll und bin verwirrt.

Aber es gibt die Guten, die wissen, wie man richtig und nachhaltig lebt. Oder die sich zumindest nach und nach informieren und versuchen, jeden Tag die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen. Aktivistinnen, die sich für die Umwelt einsetzen und versuchen, mit ihrer Lebensführung andere zu inspirieren. Man nehme zum Beispiel die Influencerin Madeleine Daria Alizadeh, die regelmäßig Podcasts auf Soundcloud veröffentlicht, in denen sie ihren Followern erzählt, wie man seinen Kleiderschrank ausmistet oder wie nachhaltig Palmöl wirklich ist. Oder die Bloggerin Pia Kraftfutter. Von ihnen habe ich gelernt, dass man mit Roggenmehl seine Haare waschen kann und wie man aus Pfirsichen Donuts macht. Letzteres lässt mich zweifeln, aber ich verstehe den Punkt.

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Als ich durch ihre Artikel scrolle, habe ich das Gefühl, mehr über ein nachhaltiges Leben zu erfahren als nach drei Tagen Ökokonferenz. Weil ich nicht andauernd das Gefühl habe, angegriffen oder verurteilt zu werden. Fast wendet sich meine trotzige Meinung zum Thema Nachhaltigkeit. Ihre Blogs faszinieren mich, ihre Leidenschaft und ihr friedlicher Wunsch, etwas verändern zu wollen.

Dann lese ich ein Interview mit Madeleine und bin wieder genervt. Nach der ersten Frage muss sie sich schon rechtfertigen. Für ihre Reisen. Für ihre faire Modekollektion, die trotzdem in Bangladesh produziert wird. Wie begründet sie das? Und wie begründet Pia ihre Vorliebe für Honig? Der ist nicht vegan und auch Pia muss sich in einem Video erklären. Unter so gut wie jedem Blogpost gibt es mindestens einen Kommentar, der irgendetwas zu kritisieren hat. Auf dem letzten Bild trägt sie ein Zara-Oberteil. In dem Video trinkt sie aus einem To-Go-Kaffeebecher. Tupperware ist auch Plastik.

Kein Wunder also, dass vielen von uns die Lust an der Nachhaltigkeit vergeht

Ich habe keine Lust, mich für alles, was ich mache, zu rechtfertigen. Und so schön Madeleines und Pias Blogs auch sind, ich möchte meine Haare lieber mit Shampoo waschen, statt mit Mehl. Genauso wie ich keinen Echtpelz tragen möchte, egal wie schön die Winterkollektion von Fendi ist.

Ich will nicht gehässig klingen, aber während der Konferenz sind mir einige Dinge aufgefallen. Die Aktivistin, die mich von ihrem plastikfreien Badezimmer überzeugen wollte, trägt Schuhe von Deichmanns Eigenmarke. Die Sprecherin, die ihren Hund vegan ernährt, trinkt Kaffee in Dauerschleife. Der Veranstalter, der die große Eröffnungsrede gehalten hat, kommt jeden Tag mit dem Auto zur Konferenz.

Es ist schlichtweg unmöglich, durch und durch nachhaltig zu leben. Das ist in Ordnung. Viel sinnvoller ist doch ein Konzept, in dem jeder ein bisschen beiträgt, eben, wie er kann. Und bestenfalls nach und nach mehr, denke ich, fast versöhnlich, als ich die Konferenz in meinem Kunstpelz verlasse. Vor der Tür treffe ich die Aktivistin. "Der Tod steht dir gut", flüstert sie mir zum Abschied zu.

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