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Erwachsenen-Malbücher sollen entspannend sein? Ich habe vor lauter Malwut meine Hose verloren

Das Kolorieren weckte das innere Kind in mir. Und mit ihm all die Dämonen, Traumata, ... scheiße, meine Fingerkuppen bluten.

Ich bin in den 80er Jahren des kommunistischen Polens groß geworden. Unsere Spielkonsolen waren Buntstifte und unsere Buntstifte hatten Bleiminen. Legos waren aus Holz und wurden "Bauklötze" genannt, Fotos von uns gab es nur in Schwarz-Weiß, nicht weil die klaren Kontraste unseren Wangenknochen schmeichelten, sondern weil Farbe für unsere Eltern ein zu teurer Luxus war; und falls doch nicht, konnten sie Farbfilm nur in den seltensten Fällen auftreiben, weil sich die Auswahl häufig genug auf Abflussreiniger oder Dosenfleisch in den Verkaufsregalen beschränkte. Ich hatte eine herrliche Kindheit, trotzdem oder deswegen.

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Es ist nicht gerade viel, was sich aus meinen Kindertagen bis ins Erwachsenenalter hinüberretten konnte. Gut, die Angst vor Spinnen ist genauso geblieben wie die Vorliebe für Kotelett mit Gurkensalat; doch nicht nur, dass meine Haare immer mehr von meinem Kopf auf den Arsch wandern, auch das Spielen mit Streichhölzern oder stundenlanges Fahrradfahren im Kreis fetzt nicht mehr so wie früher. Mittlerweile schlafe ich auch viel lieber mit ausgeschaltetem Licht und meine enorme Faszination für Buntstifte und Malbücher ist mir auch flöten gegangen. Scheiße, was habe ich früher gerne einen wegkoloriert. Lippen vor lauter Konzentration mit 30 Bar aufeinander gebissen und gib' ihm:

Der aufmerksame Betrachter erkennt meine "Notfallstifte" oben links neben dem Globus im Schrank

Wenn Mama ins Zimmer kam und fragte "Paul, willst du nicht mal an die frische Luft gehen?", war meine Antwort: "Nein, kann ich nicht machen. Hab' mit Blau noch kein einziges Feld ausgemalt. Mach' die Tür zu, wenn du gehst. Danke." Blau oder Grün oder Rot—irgendein Feld, irgendeine Farbe fehlte immer und musste zu Papier gebracht werden. Das Kolorieren war für mich eine höchst stressige Angelegenheit. Sobald ich Buntstifte in die Hände bekam, gingen die Pferdchen der Manie mit mir durch; ich konnte die hölzernen Stengel kaum schnell genug nachspitzen, wie ich sie stumpf malte. Irgendwann haben meine Eltern dann die Reißleine gezogen und mir einen Fußball geschenkt.

Umso unbegreiflicher erscheint mir heute der sich zum Boom hin entwickelnde Trend des Erwachsenenmalbuchs. Es soll entspannend und meditativ wirken. Malen als Seelenrelaxer, dies zumindest das Verkaufsrezept. Allein 2015 ist in den Vereinigten Staaten der Absatz von einer Million auf zwölf Millionen Stück explodiert. Buntstifthersteller müssen neuerdings Sonderschichten fahren, um ihre Lieferengpässe zu stopfen, und bei Amazon führen mit Platz 1 und 2 gleich zwei Erwachsenenmalbücher die weltweite Top-20-Buchbestsellerliste.

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Aber wer weiß, vielleicht steckt hinter dem Anti-Stress-Versprechen wirklich mehr als nur geschickte Werbestrategie, vielleicht ist der Griff zum Buntstift am Abend tatsächlich eine ernst zu nehmende Alternative zur sonstigen Handvoll Benzodiazepine oder den drei Gläsern Rotwein, um runterzukommen.

Nur ein Selbstversuch kann Gewissheit bringen. Ein weiteres Argument für die heilsamen Kräfte der Malbücher sind übrigens Frauen. Sie sind die Hauptabnehmerinnen der kolorierbaren Papierwelten und wie wir alle wissen, auch die besseren und klügeren Menschen. Frauen essen mehr Gemüse, lesen mehr Bücher, fangen weniger Kriege an—sie wissen einfach, was ihnen gut tut und leben deshalb auch länger als wir Männer.

Gut möglich, dass ich mit meinem Penis und der kindlichen Malwut die falsche Person für diesen Selbstversuch bin, anderseits bin ich vielleicht genau der Richtige, denn sollten die Malbücher selbst bei mir eine angenehm sedierende Wirkung erzielen, dann können die Dinger fortan als Narkosemittel für Normalsterbliche in Krankenhäusern zum Einsatz kommen. So betrachtet bin ich der Endgegner.

Los geht's. Wer die Wirkung von Erwachsenenmalbüchern testen will, braucht ein Erwachsenenmalbuch. Die Auswahl ist groß und auch auf uns Herren haben es die Verlage seit einiger Zeit abgesehen. Die Köder, derer sie sich hierbei bedienen, sind ebenso billig wie effektiv. Das Malbuch für Männer "Mal meine Möpse aus" ist zum Beispiel in allen Berliner Thalia-Filialen vergriffen:

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Screenshot: Thalia

Und auch der Kassenschlager "Wer hat hier gefurzt?" ist nicht mehr zu haben:

Screenshot: Thalia

Trotzdem hat Thalia mein Interesse geweckt, dort soll es hingehen, dort bin ich Menschen, dort darf ich sein. Noch bevor ich beim Einkaufszentrum Alexa ankomme, steht für mich fest: Ich werde auf keins von diesen für uns Männer produzierten Surrogate reinfallen; es musste ein authentisches Erwachsenenmalbuch sein, mit Worten im Titel wie "Zen" oder "Gartenzauber" oder "Inspiration"—kein Methadon, wenn, dann der echte, ungestreckte Stoff.

Als ich den dreistöckigen Büchertempel betrete, kommt mir schon die lokale Dealerin entgegen: "Suchen Sie etwas Bestimmtes?" Na aber so was von. "Ich hätte gerne ein Malbuch." Keine Gesichtsentgleisung, kein Schmunzeln, nichts. Die Verkäuferin scheint diese Anfrage wohl öfter zu hören: "Ja, da hätten wir gleich einen ganzen Stand dort drüben." Gemeinsam bewegen wir uns zur Auslage, ich frage: "Werden mittlerweile stark nachgefragt die Malsachen, oder?"
"So richtig erst seit drei, vier Monaten. Also klar, diese Mandalas gibt es ja schon länger, aber die Vielfalt an den Erwachsenenmalbüchern ist zumindest bei uns im Sortiment relativ neu." Aha, OK, interessant. Am Erwachsenenmalstand angekommen lässt die freundliche Dame mich mit Angebot und Qual der Wahl alleine. Gut Ding will bekanntlich Weile haben.

Ich bleibe meinen Vorsätzen treu, nehme zwar das Werner-Malbuch in die Hand …

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… kann aber dem kleinen Jungen in mir widerstehen. Auch will ich weder verwässerte Tötenschädel-Hipster-Malbuchvarianten …

… noch bin ich 40, trage schwarze Rollkragenpullover, fahre einen alten Saab und kriege Spontanerektionen, sobald ich das Wort "Stadtplanung" höre.

Allmählich werde ich bei der Auswahl nervös; so müssen sich trockene Alkoholiker in der Vinothek fühlen. Schließlich nähre ich mich dem Stoff, für den ich gekommen war. Ich finde ein Entspann-Mal-Buch …,

… dann auch noch ein Fantastisches Tropenmalbuch, bei dem ich mich frage, wie es sein Anti-Stress-Versprechen einlösen will, wenn man bereits beim Anblick des Covers beginnt, Optik zu schieben?

Dann gibt es auch noch die Apothekenvarianten: Wer etwa nachts nicht einschlafen kann, für den haben die Buchverlage ebenfalls die perfekte Lösung parat:

Was fehlt, ist nur noch ein Buch gegen Rheuma oder Blasenschwäche, dann wäre das Angebot komplett. Während ich genau danach suche, fällt mir plötzlich ein orgiastisches Farbfeuerwerk von Buchcover ins Blickfeld:

Zencolor, 333 Motive, Gold-Edition, gekauft! Doch als ich das gute Stück umdrehe und den Preis auf dem Buchrücken entdecke, verliere ich für einen Moment fast die Sehkraft:

19,99 Euro? Und in Österreich sogar mehr als einen Zwanziger? Alles klar, das scheint das Koks unter den Erwachsenenmalbüchern zu sein, nur bin ich nicht bereit, so viel Geld für Goldapplikationen auszugeben. Ich merke, wie meine Kräfte und innere Ruhe allmählich "Lebe wohl" zu mir sagen, glücklicherweise gibt es auch für dieses Gebrechen das passende Malbuch:

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Ruhe & Kraft tanken, 100 Bilder, 10 Euro und dann auch noch mit dem Wort "Zen" im Titel? Gekauft, ganz sicher diesmal. An der Kasse entdecke ich noch ein zwölfteiliges STAEDTLER Farbstifte-Set, plus Radiergummi, plus Bleistift, das auf wahnwitzige 2,29 Euro reduziert ist—damit nicht genug: Die Buntstiftminen sind genau wie heutige Autos mit ABS ausgestattet. Kein Scheiß:

Schnell zahlen, ab nach Hause, Schuhe ausziehen, Hände waschen, auf YouTube den Inception-Soundtrack in zehnstündiger Dauerschleife über die Anlage flimmern lassen, Stifte in die mittlerweile stark zitternde Hand und ab dafür. Doch bevor es losgeht, will mir Lacy Mucklow, die Autorin im Buchintro, noch ein paar Tipps für die Farbwahl geben:

Lacy, ist nett von dir, aber du hast es hier mit einem Vollprofi zu tun. Seitdem ich fünf bin, weiß ich um die beruhigende Wirkung von Blau. Als Motiv habe ich die Eule gewählt. Beide können wir nachts nicht schlafen, außerdem wird bei dem vielen Himmel der beruhigende Blaustift reichlich zum Einsatz kommen:

Jetzt aber! Vollgas! Ich greife nach Gelb und fange mit den Sternen an—ich war schon immer ein Träumer. Dann der Mond. Läuft gut. Nur die Kack-Ränder nerven genauso wie früher. OK, reicht mit Gelb. Ich rege mich nur zu sehr auf. Lacy hat es ja selbst gesagt: Genau wie Rot und Orange ist Gelb eine warme und aktivierende Farbe. Noch nicht mal 10 Minuten am Malen und ich fange zu schwitzen an. Gut, dann eben Grün wie die Hoffnung, ich koloriere die Blätter. Nein, hilft alles nichts. Zu viel Kleinklein, zu viel Fummelarbeit bei Unmengen von weißer Fläche drum herum. Das geht alles zu langsam. Das Weiß muss weg. Ja und wenn ich bedenke, dass ich hier erst bei Bild 1 von 100 bin, dann fangen meine Schläfen so richtig zu krampfen an. Minute 15, das Blau muss her. Jetzt schon? Ja, jetzt schon. Gott, tut das gut. Verschafft Linderung, schön mit der groben Kelle über das Weiß rüber. Es soll ja Malbuch-Enthusiasten geben, die an einem mickrigen Vogel ganze 10 Minuten rumkolorieren können. Mit Schattierungen, Farbüberläufen und so—das volle Programm.

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Ein solcher Farbakt kommt meiner Vorstellung von Hölle schon ziemlich nahe. Präzise Farbüberläufe: das ist nichts für mich. Ich bin ja auch mehr so der Draufgänger-Typ; schere mich nicht um Linien und Grenzen, sind eh nur dazu da, um gebrochen zu werden. Aber ich schweife ab, weiter im Programm. Der Kamm der Eulen muss koloriert werden. Ich nehme Orange. Ist es hier so warm oder bin ich das? Hosen sind ohnehin stark überbewertet, ich ziehe sie aus.

So ist viel besser. Das Gefieder muss auch angemalt werden. Ich wähle Rot: Ja, ja, ja, sehr gut, nein, nein, doch nicht, mir wird wieder heiß—aber warum nicht einfach in die linke Hand Blau mit dazunehmen, das sollte helfen, beidhändig malt man auch schneller, das Weiß muss weg, scheiße, jetzt bricht mir tatsächliche die Mine vom blauen Buntstift ab—ausgerechnet Blau! Meine Ruhefarbe! 2,29 Euro wie in den Arsch geblasen. Ich müsste eigentlich was essen, Abendbrotzeit, Mama würde schimpfen mit mir, zum Glück wohne ich mittlerweile allein und kann entscheiden, wann ich was esse und ob ich Hosen trage. "Mach Tür zu, wenn du gehst, Mama!", ach ja, ist niemand mehr da, ich führe Selbstgespräche, meine Fingerkuppen bluten und ich habe mir die Unterlippe durchgebissen. Ich glaube, Erwachsenenmalbücher sind doch nichts für mich.

Ich stehe auf, trinke Wein, Korken war zu, aber den kann man ja mit dem Daumen leicht reindrücken, geht doch, schmeckt heute irgendwie metallisch, wo sind eigentlich die Kellerschlüssel? Hier. Beim Runtergehen immer schön die Treppenstufen in Dreierschritten abzählen, 1…2…3, 1…2…3… nein, Kolorieren ist echt nichts für mich, mal schauen, ob ich zwischen all den Umzugskartons noch irgendwo meinen alten Fußball wiederfinde. Vielleicht hat er noch Luft drauf.

Paul hat ein Malbuch und ABS-Buntstifte zu verschenken. Anfragen via Twitter.