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Ode an die Langstrasse

Die Langstrasse ist der radikale Hort der Freiheit. Nirgends sonst kannst du sein, was du schon immer sein wolltest.
Foto von Alex Schröder | Flickr | CC BY-SA 2.0

Ein Freund von mir fasste seinen ersten Zürich-Besuch mal mit den Worten zusammen, hier sähen sogar Germanistik-Studenten aus wie Jus-Studenten—und ich konnte ihm nicht widersprechen. Ich habe Zürich nicht wirklich gemocht. Zu glatt, zu sauber, zu Business erschien mir das grosse Dorf an der Limmat. Zürich war für mich sowas wie ein real gewordener Instagram-Account. Doch diese Fassade ist mindestens so falsch wie jene der in Kameras weinenden Social Media-Stars—und die Langstrasse ist der Beweis dafür.

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Vor fast einem halben Jahrzehnt liess ich meine Bachelor-Stadt Wien hinter mir und machte mich vom Tor zu Osteuropa auf in Richtung Westen. Knappe acht Zugstunden Richtung Sonnenuntergang warteten mein Master-Studium und meine neue Heimat auf mich. Dort lebte ich in Zürich für einige Jahre im idyllischen Öko-Kinderwagen-Quartier Wipkingen und in einer campusähnlichen Studentensiedlung in Oerlikon.

Am vergangenen Ostersonntag stopfte ich schliesslich meine ausgebleichten Jeans und Pullis in Altkleidersäcke und den Rest meines bescheidenen Besitzes in ein Auto, fuhr Richtung Kreis 4 und lud an der Langstrasse alles wieder aus—eine der besten Entscheidungen in meinen 26 Jahren auf dieser Welt. Denn im darauffolgenden halben Jahr sollte ich gefühlt mehr vom Leben mitbekommen, als im Vierteljahrhundert zuvor.

Die Langstrasse ist für mich sowas wie der einzig wirklich urbane Fleck der Schweiz. Zwar ist sie im Grunde durch irgendeinen beliebigen Szenebezirk ersetzbar, doch wird hier das erfüllendste Klischee einer Stadt real: Du hast die Freiheit, das zu sein, was du sein möchtest. Egal, ob das der Typ ist, der am Montagmorgen auf der Suche nach dem nächsten High Studenten-WGs aus ihrem Schlaf poltert. Der Typ, der mit den längsten Rooftop-Partys der Welt die Nachbarn um ihren Schlaf bringt. Oder der Typ, der in schwarze Kapuzenpullis gehüllte Demonstrationen mit Pyros in roten Rauch tränkt. Die Langstrasse akzeptiert jeden—vom Club-Besucher, dessen Kiefer in einen schier endlosen Kampf gegeneinander verwickelt scheinen, bis zum Magic Turniere ausfechtenden Nerd.

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Foto von TomZH3030 | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Für die meisten ist sie aber trotzdem bloss ein Ort der zwischenzeitlichen Flucht. Sie starten am Freitagabend in Orten wie Uster oder Schwamendingen ihren Ausflug in die hedonistische Realität des Kreis 4. Suchen in Clubs und Bars nach ihrem Ausbruch aus dem Alltag—was erfahrungsgemäss damit endet, an meine Haustüre zu urinieren, kotzen oder zu koten.

Doch sogar das mag ich irgendwie. Nirgendwo sonst ist die Schweiz so ehrlich wie hier. An der Langstrasse verspürt sie nicht den Drang, das gesellschaftliche Elend zu verstecken. Jeder sieht die viel zu jungen Frauen in viel zu kurzen Röcken, die mit viel zu alten Männern mit viel zu dicken Bäuchen hinter viel zu massiven Metalltüren verschwinden. Die mit zerzausten Haaren an Bushaltestellen nach Kleingeld fordernden Heroinabhängigen. Und die Abend für Abend ihren Kampf mit der mit Rayonverboten wedelnden Polizei ausfechtenden Psychosen.

Hier wird das Elend nicht hinter jährlich aufs Neue weiss gestrichenen Hausfassaden und millimetergenau gestutzten Hecken versteckt. Hier läuft es durch die Strasse, sitzt auf der zentralen Piazza Cella und mischt sich mitten unter das Partyvolk—und am wichtigsten: Es wird nicht als Elend bemitleidet, sondern als Teil eines grossen Ganzen respektiert.

Doch langsam verändert sich die Strasse. Im neu eröffneten Migrolino kaufen Menschen zu Jazz überteuerte Soja-Chai-Lattes. Der Kunstraum Perla Moda verwandelte sich zuerst in eine Baustellengrube und wird demnächst als Veggie-Restaurant wiederauferstehen. Und in meinem Briefkasten landen Flyer von unbezahlbaren Neubauwohnungen in der Nachbarschaft. Die Menschen, die dem Leben alles abringen wollen, werden über kurz oder lang durch Menschen ersetzt, die dem Leben zumindest Geld abringen können.

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Trotzdem habe ich an der Langstrasse gefunden, was ich seit meiner Jugend gesucht habe: Einen Ort, an dem du auf dich aufpassen musst. Wo die Rutsche der Freiheit schnell mal ins gesellschaftliche Nichts führt. Wo ich froh sein kann, dass ich dieses Nichts am Hotspot der Psychosen und der Faustkämpfe, des Koks und der Prostituierten noch miterleben darf. Und wo, so hoffe ich, die Langstrasse für ein paar weitere Jahre so radikal dreckig und laut bleiben wird wie sie es seit Jahrzehnten schon ist.

Sebastian auf Twitter: @nitesabes

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelfoto von Alex Schröder | Flickr | CC BY-SA 2.0