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Es ist OK, einen Erstklässler zu schlagen, sagt ein deutsches Gericht

Der Pausenaufseher soll den Schüler aus Notwehr geschlagen haben.

Foto: Hannah | Flickr | CC BY 2.0

Eine Bande Erstklässler kann wild sein. Niemand, der selbst zur Schule gegangen ist, wird das bestreiten, und viele von uns würden wohl auch niemals auf unser jüngeres, lautes und gnadenloses Grundschüler-Ich aufpassen wollen. Ob der Langzeitarbeitslose, der an der Düsseldorfer Ganztagsschule arbeitete, diese Aufgabe wollte, wissen wir nicht. Was wir aber wissen: Für ihn war die Aufsicht im Pausenhof ein Ein-Euro-Job. Der Ein-Euro-Job, der kürzlich auch in Österreich von Außenminister Kurz vorgeschlagen wurde, existiert in Deutschland seit der Hartz-IV-Reform.

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Die"Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung", wie es in der deutschen Politik heißt, abzulehnen, bedeutet eine Kürzung der Sozialleistungen. Das ist unschön. Viel schlimmer ist allerdings, wie er mit den Kindern umgegangen ist.

Um sich die tobenden Erstklässler vom Leib zu halten, teilte der Ein-Euro-Jobber eine Ohrfeige aus. Der Mann arbeitete als Schulhofaufsicht und spielte mit etwa fünf bis zehn Jungen aus der ersten Klasse. Dabei ging es "wild" zu, heißt es im Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf, das VICE vorliegt.

Dem Mann wurde es allerdings zu wild und er zog sich in den hinteren Teil des Hofs zurück. Die Kinder realisierten nicht, dass er nicht mehr mit ihnen spielen wollte und folgten ihm. Ein Schüler, "der zuvor bereits häufiger Verhaltensauffälligkeiten gezeigt hatte, begann den Angeklagten zu schlagen", so das Gericht, und "einige weitere Jungs der Klasse stürmten auf den Angeklagten ein". Sie spuckten ihn an und einige schlugen ihn. Um sich zu befreien, "entschied er sich, dem ihm am nächsten befindlichen Aj. eine Ohrfeige zu versetzen". Er fügte dem Kind dabei "nicht unerhebliche Schmerzen" zu, so das Gericht. Der Mann rief: "Ich lasse mich nicht anspucken. Ich bin nicht euer Fußabtreter." Der Vorfall ereignete sich im Juni 2014.

Das Landgericht hatte den Mann zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 Tagessätzen zu je 10 Euro wegen Körperverletzung verurteilt. Der Mann wehrte sich gegen das Urteil. Nun wurde er von der nächsthöheren Instanz—dem Oberlandesgericht—freigesprochen.

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Das Oberlandesgericht Düsseldorf erklärt: "Der Angeklagte befand sich, im Tatzeitpunkt in einer Notwehrlage". Er wollte, so das Urteil, den Schüler nicht durch "körperliche Züchtigung (…) bestrafen. Vielmehr wollte der Angeklagte (…) die Situation insgesamt beenden."

Das alles wirkt wie aus der Zeit gefallen. Und wir fragen uns: Kann eine Ohrfeige je angemessen sein? Und warum arbeitet überhaupt jemand ohne pädagogische Ausbildung auf einem Pausenhof?

Der Mann fühlte sich von Kollegen als Ein-Euro-Jobber schlecht behandelt

Der Mann hätte, als es ihm zu viel wurde, problemlos in das Schulgebäude gehen können, meint der Rechtsanwalt Udo Vetter, der auf seinem Lawblog als Erster über den Fall berichtete. Das tat er nach eigenen Angaben nicht, weil er Ärger wegen des "Verlassens seines Arbeitsplatzes" fürchtete. Er hätte auch einen hauptamtlichen Pädagogen rufen können, der ebenfalls mit ihm auf dem Pausenhof Dienst hatte. Das machte er nicht, weil er sich als Ein-Euro-Kraft von dem Pädagogen herablassend behandelt fühlte.

Für das Oberlandesgericht Düsseldorf waren diese Handlungsalternativen nicht in gleicher Weise geeignet, den "rechtswidrigen Angriff" der Kinder zu stoppen—das Gericht formuliert es wirklich so. Ein Ausweichen in das Schulgebäude sei nicht erfolgversprechend gewesen, weil die Kinder dem Mann auch schon vorher gefolgt seien. Außerdem hätten die Kinder schon vorher nicht auf den Angeklagten gehört, deshalb sei es fraglich, ob ein Einschreiten des hauptamtlichen Pädagogen gewirkt hätte.

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Das Gericht glaubt, die "körperliche Integrität" und "Ehre" seien beeinträchtigt gewesen. Das Ohrfeigen sei nicht maßlos gewesen. Der Junge habe nach zehn Minuten keine Schmerzen mehr verspürt.

Das Jobcenter Düsseldorf weiß nichts von dem Fall

Im Jobcenter weiß man nichts von dem Fall. Generell seien die Ein-Euro-Jobber als Aufsichtskräfte an Schulen nicht dazu da, mit den Kindern zu spielen, sagt ein Sprecher des Jobcenters Düsseldorf zu VICE. Sie seien dem Hausmeister unterstellt und sollen etwa den Schulhof aufräumen. Das Jobcenter würde zwar darauf achten, dass die Aufsichtskräfte soziale Kompetenz mitbringen, aber mit Kindern zu spielen sei definitiv nicht ihre Aufgabe. Das zu kontrollieren sei Aufgabe der Schulleitung und des Hausmeisters.

In Düsseldorf sind laut dem Jobcenter der Stadt rund 9.000 Menschen langzeitarbeitslos, unter ihnen arbeiten knapp 700 als Ein-Euro-Jobber. Zehn von ihnen arbeiten als Aufsichtskräfte an Schulen.

Ein-Euro-Jobs bringen die Arbeitslosen oft nicht weiter

Die Arbeitsmaßnahme für Langzeitarbeitslose hat einen großen Makel: Für kaum jemanden ist sie ein Sprungbrett in den richtigen Arbeitsmarkt. Sie können lediglich helfen, Struktur zu geben, den geregelten Alltag nicht zu verlernen, und das Gefühl geben, gebraucht zu werden. Das ist auch einer der Gründe, warum der Vorschlag von Außenminister Kurz bei anderen Parteien eher auf Ablehnung bis hin zum Unverständnis traf.

Als Ein-Euro-Kraft an der Schule darf der Mann aus Düsseldorf mittlerweile nicht mehr arbeiten. Offensichtlich war er für die Aufgabe, die ihm zugeteilt wurde, auch alles andere als geeignet. Schlimm ist an diesem Fall vieles: Ein Ein-Euro-Jobber muss einen Job machen, den er nicht kann; Kollegen behandeln ihn mies und nehmen ihn nicht ernst; und eine Ohrfeige gegen einen Erstklässler bleibt im Jahr 2016 folgenlos. Man kann sich kaum entscheiden, was das größte Übel ist.

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