Eine von Armut betroffene Rentnerin zeigt, wofür sie ihr Geld ausgibt

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Monatsbudget

Eine von Armut betroffene Rentnerin zeigt, wofür sie ihr Geld ausgibt

"Nach Abzug aller Fixkosten bleiben mir pro Monat noch knapp 400 Franken zum Leben."

Alle Fotos vom Autor In unserer Serie "Monatsbudget" zeigen Menschen aus den verschiedensten Schichten und Lebensrealitäten der Schweiz, wofür sie ihr monatliches Einkommen ausgeben. 

Die meisten Arbeiter freuen sich auf ihre Pensionierung: Im Alter ein neues Hobby entdecken, zusammen mit dem Lebenspartner nochmals ein bisschen was von der Welt sehen oder mit den Enkeln Glace schlürfend in irgendwelchen Zoos abhängen – klingt eigentlich ganz entspannt. Bloss: Einen unbeschwerten Lebensabend wird nur verbringen, wer sich vorher um seine Altersvorsorge kümmern konnte.

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Gemäss Judith Bucher, Medienverantwortliche von Pro Senectute Schweiz, ist jeder achte Mensch in der Schweiz im Alter von Armut betroffen. Um mehr über die Lebensrealität dieser Menschen zu erfahren, haben wir uns mit Mona Schmid verabredet, einer 76-jährigen, alleinstehenden Rentnerin, die aus Sorge vor Stigmatisierung ihren echten Namen hier lieber nicht lesen möchte. Frau Schmid empfängt mich in ihrer Genossenschaftswohnung am Stadtrand von St. Gallen mit einem kräftigen Händedruck.

Haben ein Leben lang angepackt: Frau Schmids Hände.

Sie hat viel erlebt: Frau Schmid hatte drei Männer, fünf Kinder und war bis zu ihrer Pensionierung insgesamt über 30 Jahre lang berufstätig – erst als Coiffeuse, danach als Service-Mitarbeiterin und zuletzt als Pflegerin in einem Altersheim. Obwohl ihr ein Leben lang AHV-Beiträge – und seit der Einführung der obligatorischen beruflichen Vorsorge 1985 auch BVG-Beiträge – von ihrem Lohn abgezogen wurden, kommt sie mit ihrer Rente heute finanziell mehr schlecht als recht über die Runden:

VICE: Wie hoch ist Ihre Rente?
Mona Schmid: Ich bekomme jeden Monat 2.700 Franken ausbezahlt. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben mir pro Monat noch knapp 400 Franken zum Leben.

Was sind Ihre Fixkosten?
Miete, Krankenkasse, Steuern, Internet, Telefon, Strom, ÖV sowie Billag- und Schuldenraten.

Wofür haben Sie sich verschuldet?
Nach der Pensionierung war ich mit der neuen Situation überfordert. Ich war nicht darauf vorbereitet, mit einer so kleinen Rente auszukommen. Wenn ich Ende Monat kein Geld mehr hatte, bezahlte ich kleinere Beträge mit meiner Kreditkarte. Irgendwann kumulierte sich das. Jetzt brauche ich die Kreditkarte nicht mehr und zahle jeden Monat einen Teil meiner Schulden ab.

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Das Parlament hat letzte Woche beschlossen, die AHV um 70 Franken zu erhöhen. Was halten Sie davon?
Das finde ich super, 70 Franken mehr oder weniger machen für mich einen grossen Unterschied.

Was würden Sie mit 70 Franken anstellen?
Ich würde wieder mal im Tessin auf eine Schifffahrt gehen. Das will ich schon lange, aber ich kann mir noch nicht einmal die Zugfahrt leisten. Deswegen rede ich mir jeweils ein, dass der Zug sowieso verunfallen, oder das Schiff sehr wahrscheinlich sinken würde.

Zwischen Kinderfotos und einem Trampolin: Frau Schmid in ihrer Genossenschaftswohnung.

Haben Sie sich schon mal überlegt, Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Nein, das würde ich nicht. Das Problem ist mein Stolz, ich gehe nicht betteln. Ich lasse mir noch nicht einmal von meinen Kindern helfen. So ist einfach mein Charakter. Ich habe ein Leben lang gekämpft, da kann ich mir jetzt doch nicht einfach so helfen lassen.

Wieso nicht?
Als ich von meinem letzten Schultag in der Sekundarschule nach Hause kam, hatte meine Stiefmutter meinen Koffer bereits vor der Tür deponiert. Mein Vater gab mir 50 Franken in die Hand und sagte: "Schau zu, dass du einen Job bekommst." So war das damals.

Wieso würden Sie sich nicht von ihren Kindern unterstützen lassen?
Die haben alle selber eine Familie, für die sie aufkommen müssen. Ich würde meiner Tochter eher noch 20 Franken geben, als von ihr etwas anzunehmen. Wenn ich Bettler sehe, denke ich mir: "Meine Güte, wie tief mussten die sinken?"

Leisten Sie sich manchmal auch etwas?
Wenn ich meinen Sohn besuche, dann setze ich mich in den Speisewagen und gönne mir ein Gipfeli und einen Kaffee, oder ich kaufe Blumen. Dann komme ich in Ferienstimmung. Manchmal tue ich mir auch bewusst selbst etwas Gutes, und leiste mir eine Kleinigkeit.

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Was haben Sie sich zuletzt geleistet?
Ein Handtäschchen. Ich hatte es mir aber drei Mal angeschaut, bevor ich es gekauft habe. Zuerst hatte ich mir eingeredet, dass ich es nicht brauche: "Aber das passt doch so gut zu deinem Mantel – Nein, Mona, das brauchst du nicht." Ich habe mir eingeredet, dass der Reissverschluss kaputt sei. Trotzdem ging ich wieder zum Laden. "Wenn es immer noch dort hängt, dann ist es für mich bestimmt", sagte ich mir. Schlussendlich habe ich es nach drei Tagen gekauft, es hatte mich einfach nicht in Ruhe gelassen. Ich war so stolz an diesem Tag.

Nach langem Hin und Her: Die stolze Besitzerin einer neuen Handtasche.

Wie teuer war das Handtäschchen?
20 Franken.

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder dieser Welt, wie fühlt es sich an, in einem reichen Land arm zu sein?
Ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, dass die Schweiz eines der reichsten Länder ist. Wo ist denn das ganze Geld? Bei mir auf jeden Fall nicht (lacht).

Haben Sie sich vor der Pensionierung jemals Gedanken gemacht, wie sie im Alter finanziell durchkommen?
Nein, nie. Ich steckte mitten im Leben und lebte im Moment. Ich habe mein Geld unbeschwert ausgegeben und mich immer nur auf die nahe Zukunft fokussiert.

Welchen Tipp geben Sie jungen Leuten, die nicht ans Alter denken? Würden Sie rückblickend etwas anders machen?
Ja, ich würde einfach ein bisschen mehr sparen. Nicht viel, aber bei jeder Auszahlung etwas. Aber ich habe halt gelebt. Hätte ich nur einen Teil davon gespart, was ich damals ausgegeben hatte, dann würde es mir heute gut gehen.

Was ist Ihr grösster Wunsch?
Eine Reise nach Lourdes in Frankreich. Dorthin gehen viele Pilgerer, denn dort gab es eine Marienerscheinung. Ich möchte erfahren, wie sich dieser Ort anfühlt. Zudem würde ich gerne nach Zürich zu meinen Kindern ziehen, dann hätten sie mehr Zeit mich zu besuchen. Aber die Wohnungen in Zürich sind zu teuer. Philippe auf Twitter.
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