Digitale Pubertät – Wie unsere Eltern bei WhatsApp zu Teenies werden

FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

Digitale Pubertät – Wie unsere Eltern bei WhatsApp zu Teenies werden

Plötzlich ploppen wieder Dinge auf, die wir eigentlich mit unserem ICQ-Account für tot erklärt haben: Kettenbriefe, animierte Videos und eine Armee aus lachenden Smileys.

Wir kämpfen jahrelang erfolgreich dagegen an, dass Mama oder Papa sich bei Facebook anmelden. Damit sie nicht unter unser neues Profilbild schreiben "Machst du eigentlich nur Party oder studierst du auch mal?", "Seit wann rauchst du?", "Schön dich wenigstens hier mal zu Gesicht zu bekommen". Und dann haben sie plötzlich ein Smartphone. Und WhatsApp.

Zuerst tippten sie ihre Botschaften langsam mit dem Zeigefinger ein, einen Buchstaben nach dem anderen, während sie leicht zurückgelehnt mit zugekniffenen Augen auf den Bildschirm starrten. Da kam nicht viel mehr als ein "Hallo Fabian, wie geht es dir?". Aber sie entwickelten sich weiter. Jetzt tippen sie mit beiden Daumen, leiten Nachrichten weiter und wissen, wo sich dieses ach so entzückende Schildkröten-Emoji versteckt.

Anzeige

WhatsApp schmeißt diese weisen, vorbildlichen Menschen, die uns beigebracht haben, "bitte" und "danke" zu sagen, und immer Wert auf korrekte Kommasetzung gelegt haben, zurück in eine digitale Pubertät – in einen von Smileys verseuchten Chat-Wahnsinn, den wir mit ICQ, MSN und Knuddels durchlebt haben. Jetzt müssen wir ihn bei unseren Eltern nochmal mit ansehen.

Kettenbriefe, Schlümpfe und Emojis

Eine Freundin erzählt, wie sich zwei Damen um die 60 letztens im ICE in den Vierer neben sie setzten. "Schau mal, ich habe eine Warnung bekommen, vor einer Ute Christoff mit der Nummer 01719626509", sagt die eine mit Blick auf ihr Smartphone. Die andere schaut verunsichert und bittet ihre Freundin, die Nummer nochmal langsam vorzulesen. Konzentriert nickte sie jede Ziffer ab, um am Ende erleichtert festzustellen: "Die Nummer kenne ich nicht." Daraufhin versuchen sie zusammen, die Warnung an all ihre Kontakte weiterzuleiten.

Manchmal erreicht uns auch ein "witziges" Video, das sonst nur in WhatsApp-Gruppen wie "Nordic-Walking-Mädels 2015" oder "Bundesliga-Treff" herumgeistert: Da plärrt am Essenstisch (ja, Eltern benutzen ihr Handy am Essenstisch mehr als ihre Kinder) ein ätzender Schlumpf entzücktes Gelächter. Er schreit: "Egal aus welcher Position ich gucken tu, so oder so, du bist einfach ein hässlicher Vogel". Zum Geburtstag bekommen wir anstatt eines herzlichen Anrufes nur eine fucking plüschige Animation, die uns "Happy Birthday" trällert und uns an den ganzen Jamba-Mist (Crazy Frog, Sweetey das Küken) erinnert, dabei haben unsere Eltern Jamba so gehasst, als wir unser Taschengeld noch in die Klingeltöne gesteckt haben.

Anzeige

Das alles erinnert uns an ICQ-Zeiten. Ja, auch ich habe mal geglaubt, dass mein geliebtes ICQ einfach so von heute auf morgen kostenpflichtig werden könnte. Und ja, und auch, dass ich das verhindern könnte, indem ich einen Kettenbrief an 18 Freunde weiterschicke. Die Nachricht fing schließlich mit "Bitte ernst nehmen!!!!" an. Vier Ausrufezeichen!!!! Ich war aber 13 Jahre alt, nicht 54.

Warum machen sich unsere Eltern so lächerlich? Klar, sie hegen immer noch eine (manchmal gesunde) Skepsis gegen dieses vermaledeite Internet. Kreditkarte bei Amazon angeben? Da könnte man sein Geld ja direkt an den nächstbesten Kleinkriminellen verschenken. Auch ein Online-Ticket scheint für sie nie so sicher zu sein wie ein per Post geschicktes Papier-Ticket. Aber reicht das, um einen Kettenbrief, der vor der Datendiebin "Ute Christoff" oder ihrer Freundin "Ute Lehr" warnt, ernst zu nehmen? Müssten nicht gerade diese Menschen mit ihrer Lebenserfahrung vermuten, dass Kettenbriefe, die es so ja auch schon vor dem Internet gab, die Welt vor gar nichts retten?

Eine digitale Pubertät

"Wir erleben gerade, was passiert, wenn sich eine bestimmte Altersgruppe eine Technologie aneignet", erklärt Jan-Hinrik Schmidt, Medienforscher an der Universität Hamburg, "die Generation 50plus entdeckt gerade die Möglichkeiten von WhatsApp, ähnlich wie Teenager, die ihr erstes Smartphone in der Hand halten."

Es hat also nichts damit zu tun, dass Mama und Papa sich jung und frisch fühlen, wenn sie drei Emojis in einem Satz benutzen, dir einen Schlumpf schicken oder dich vor gemeinen Datendieben warnen. Sie stecken in einer digitalen Pubertät, bestätigt sogar der Wissenschaftler: "Da gehört das Ausprobieren und Über-das-Ziel-Hinausschießen dazu", tröstet Jan-Hinrik Schmidt. Und er fügt hinzu: "Die Erfahrung, die die Generation 50plus mit WhatsApp macht, könnte dazu führen, dass die Vorwürfe gegenüber Jugendlichen aufhören, weil sie merken, dass sie selbst das tun, was sie bei ihren Kindern kritisierten." Für uns kommt das zu spät.

Das Schöne ist, dass auch unsere Eltern sich mit der Zeit ausgetobt haben und lernen werden, wie sie vernünftig mit WhatsApp umgehen. Das könnte unserem ach so geschmack- und stilvollen Gebrauch sehr ähnlich werden. Lassen wir die Eltern also in Ruhe digital-pubertieren. Bald chatten sie vermutlich wieder wie Erwachsene.

P.S. Bitte ernst nehmen!!!! Schicke diesen Artikel an 18 Freunde bei WhatsApp. Wenn du es nicht machst, wird VICE ab morgen für dich kostenpflichtig!! Das ist kein Scherz!!!! Und du musst VICE auf Facebook folgen und Fabian auf Twitter!!!!!