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Zeuge der Zerstörung: Dieser Mann zählt die zivilen Opfer des Kriegs gegen den IS

Der investigative Journalist Chris Woods kämpft gegen das Wegsehen. Mit seiner Organisation Airwars.org dokumentiert er die Luftschläge gegen den Islamischen Staat sowie ihre zivilen Opfer.

Titelfoto: Porträt von Jonnie Craig

Aus der They Come Out at Night Issue

Der ehemalige BBC-Produzent und investigative Journalist Chris Woods ist Autor des Buchs Sudden Justice, in dem er den Einsatz von Drohnen im Krieg, bei geheimen Luftschlägen und gezielten Tötungen untersucht. Auch war er Leiter des Projekts Covert Drone War des britischen Bureau of Investigative Journalism, das geheime Drohnenkriegsführung aufdeckt. 2014 gründete er Airwars.org, ein Kollektiv von Journalisten und Forschern in Nahost und Europa, das Luftschläge gegen den Islamischen Staat aufzeichnet. Dabei dokumentieren sie zivile Opfer und setzen sich für Transparenz und Verantwortlichkeit im Krieg gegen den Terror ein. [Stand der in diesem Interview genannten Daten: 20. November 2016]

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VICE: Was genau macht Airwars?
Wir verfolgen Berichte über Zivilisten, die internationalen Luftschlägen gegen den Islamischen Staat (IS) zum Opfer fallen. In den letzten Jahren hat uns die westliche Darstellung, Luftschläge würden heute keine Zivilisten mehr töten, Sorgen bereitet. Russland und die Koalition haben mit ihren Luftschlägen mutmaßlich schon mehr als 2.000 zivile Opfer zu verantworten.

Welche Quellen verwenden Sie?
95 Prozent unserer Quellen sind auf Arabisch, all unsere arabischsprachigen Forscher sind syrisch oder irakisch. Traditionelle Medien im Irak und in Syrien gibt es eigentlich nicht mehr, doch die Informationen sind noch da. Wir nehmen alles auf—von Aktivisten, NGOs, selbst die IS-Propaganda zu Luftschlägen. Wir verlinken alles, fügen Fotos und die Namen der Toten hinzu, und machen uns ein eigenes Bild. Das sollen andere auch gern tun. Die Koalitionsländer veröffentlichen auch Pressemitteilungen, die in der Qualität stark auseinandergehen. Die britischen und kanadischen sind bisher sehr gut, aber andere sind schockierend schlecht.

Wie viele zivile Opfer haben Luftschläge gegen den IS bisher gefordert?
Bisher wurden in mehr als 16.000 Schlägen über 60.000 Bomben und Raketen eingesetzt. Nur die USA haben überhaupt schon zivile Opfer eingestanden. Die anderen zwölf Koalitionsmitglieder behaupten, nicht einmal Zivilisten verletzt zu haben. Hier bewegen wir uns schon im Bereich der Militärfantasie.

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Ich muss auch sagen, dass die Koalition sich sehr bemüht, Zivilisten zu verschonen. Sie behaupten, sie hätten etwa 40.000 IS-Kämpfer getötet. Wir haben hieraus etwa vier Prozent zivile Opfer errechnet. Die meisten Militäranalysten würden bestätigen, dass das für eine Luftkampagne sehr gut ist.

"Russland und die Koalition haben mutmaßlich schon mehr als 2.000 zivile Opfer zu verantworten."

Gibt es Pläne, nicht nur die der Koalition, sondern alle Luftschläge in Syrien und im Irak festzuhalten? Also auch russische Luftangriffe, oder türkische auf kurdische Positionen?
Wir haben unsere Dokumentation internationaler Luftangriffe und ziviler Opfer erweitert, sodass wir nicht nur Russland und die Koalition im Irak und in Syrien abdecken, sondern auch türkische Luftangriffe. Seit Kurzem verfolgen wir auch US-Angriffe auf den IS in Libyen. Man hat uns auch gebeten, Luftangriffe im Jemen und in der ägyptischen Sinai-Wüste zu verfolgen, aber dazu fehlen uns aktuell leider die Kapazitäten.

Welche Aspekte Ihrer Arbeit mit Airways haben Berührungspunkte mit Ihrer Arbeit zu Drohnen?
Drohnen gehören noch immer zu meiner Arbeit. Sie finden im Irak und in Syrien starken Einsatz—in manchen Monaten sind mehr als die Hälfte der britischen Luftschläge im Irak Drohnenangriffe. Drohnen sind nur eine weitere Waffenplattform. Beides sind rein luftbasierte Reaktionen des Westens auf ein Terrorproblem.

Sehen Sie Ihre Arbeit zu Drohnen sowie Airwars eher als Verteidigung von Zivilisten oder als versuchte Einflussnahme auf Regierungen? Lassen sich diese Ziele trennen?
Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Ich schätze, wie alle Journalisten habe ich am Anfang geglaubt, ich könne die Welt ändern. Doch das geschieht sehr selten. Ein Produzent sagte mir einst: "Manchmal können wir nichts anderes tun, als Zeugnis ablegen." Wir zeichnen auf und berichten, und wenigstens gibt es dann Daten, die sich jemand eines Tages vielleicht ansieht. Regierungen können unsere Berichte ignorieren, aber sie können später nicht behaupten, es hätten ihnen keine Informationen vorgelegen.

Angenommen, der Westen hört nicht bald auf, seine Feinde zu bombardieren—auf welche Veränderungen hoffen Sie?
Uns geht es um Ehrlichkeit. Ich bin aus Großbritannien und das ist ein kriegerisches Land. Krieg ist etwas, das wir anderen Menschen antun; es ist nichts, das uns angetan wird. Das ist einer der Gründe, warum wir so oft Krieg führen. Unsere Politiker haben sich daran gewöhnt zu behaupten, unsere Bomben würden nur böse Menschen töten. Wenn wir das Bewusstsein der Leute für die Realität des Kriegs schärfen, dann sind wir vielleicht nicht mehr so geneigt, Krieg als erste Option zu wählen. Ich habe über mehrere Kriege berichtet, und jeder einzelne zerreißt das Land. Es gibt keinen sauberen Krieg. Ich war bei der Invasion des Irak 2003 dabei und bin jedes Jahr bis 2009 dorthin zurückgekehrt. Ich habe gesehen, wie sich alles entwickelt hat. Alle wussten, was passieren würde, und dann passierte es … al-Qaida ist aufgrund unserer Intervention im Irak erstarkt, und der IS ist ein Nebenprodukt dieser Intervention und unseres Abzugs aus dem Land. Es passiert immer wieder; der Westen handelt und sieht die Konsequenzen nicht. Der Druck zur Veränderung muss aus der Bevölkerung kommen.

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