Wir haben mit einem Pathologen über den Tod gesprochen

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Tod

Wir haben mit einem Pathologen über den Tod gesprochen

"Ich glaub ja, das Sterben ist schlimmer als der Tod selbst."

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Zugegeben, ich habe unfassbare Angst vorm Tod – und zwar gerade weil er für mich nicht fassbar ist. Ich komme mit Eventualitäten ohnehin schon schwer zurecht. Und das Einzige, was am Tod wirklich klar ist, ist ausgerechnet, dass er jedem bevorsteht – zumindest irgendwann. Sehr beruhigend. Ich würde mir wohl am ehesten eine Art "Todes-To-Do-Liste" wünschen, die ich dann Punkt für Punkt, Jahr um Jahr abhaken kann.

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Ich will genau wissen, wann ich anfangen sollte, mich auf mein Ableben vorzubereiten. Ich will wissen, wann es passiert, wo es passiert, wie es passiert, von wem ich mich noch verabschieden sollte, wer meinen Groll eigentlich nicht verdient hat, was mich nach dem Tod erwartet, ob da überhaupt noch etwas kommt und ob "friedlich entschlafen" wirklich der unumstößliche Hauptgewinn, der Traumtod ist. Vor allem: Sollte es tatsächlich ein Leben nach dem Tod geben, ist das dann auch wieder endlich? Es wär schon nicht unessenziell, das zu wissen. Jedenfalls, wenn ich darüber nachdenke, dass ich bereits über ein Viertel meines Weltendaseins verlebt habe, wird mir schlecht. Ich weiß zwar schon genau, wie mein Begräbnis auszusehen hat, aber der Gedanke an den Weg bis dort hin, lässt mir die Kehle zuschnüren.  Auch wenn mein geliebter Opa Jahr um Jahr zu Weihnachten feierlich – und nach dem vierten Schnaps – verkündet, dass dies jetzt aber wirklich die letzte Familienfeier sein wird, die er noch erlebt, kann ich nicht wie der Rest meiner Verwandtschaft lachen und gleich noch einmal ordentlich anstoßen, sondern habe eine warme, ehrliche Wut im Bauch; und Angst.

Das führt so weit, dass ich meine Großeltern in letzter Zeit immer seltener besuche, weil mich ihr stetiger, unaufhaltsamer Verfall so hilflos macht. Aber ganz ehrlich: mein Opa ist 86, müde und schon zum Frühstück trinkt er einen halben Liter Most – seine Prophezeiung wird früher oder später tatsächlich eintreffen. Nur wahrhaben will ich das nicht.

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Mein Neujahrsvorsatz war es aber, endlich erwachsen zu werden. Dazu gehört wohl auch die Auseinandersetzung mit dem eigentlich Natürlichsten der Welt – ja, vermutlich sogar noch natürlicher als Sex, weibliche Nippel und Schweiß zusammen – dem Tod.

Ich bin deshalb in den Zehnten gefahren, um mich dort am pathologisch-bakteriologischen Institut mit Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Klimpfinger zu treffen, und mit ihm über den Tod zu sprechen.

Es ist einer der ersten schönen Frühlingstage, doch je näher ich dem KFJ-Spital komme, desto mulmiger wird mir zumute. Ich habe das Gefühl, gar nicht richtig schlucken zu können. Krankenhäuser mag ich nämlich auch nicht. Bei meinem letzten Krankenbesuch bin ich aufgrund dieses nicht unerheblichen Umstands sogar kollabiert und hing schließlich selbst an einer Infusion – allerbeste Voraussetzungen also.

Das Institut erstreckt sich über drei Stockwerke. Mit dem Lift fahre ich bis ganz nach oben, wo mich der Primar Klimpfinger, der sich selbst als "einen der fröhlicheren Pathologen" bezeichnet, empfängt. Statt der ansonsten immer ein bisschen abgestandenen Krankenhausluft schlägt mir beim Öffnen der Lifttür der feine Duft von frisch gebrühtem Kaffee entgegen.

Dank des Kaffees und des luftig-hellen Büros des Pathologen stellt sich bei mir deshalb schon bald eine gewisse Ruhe ein. Die Wände sind dicht behangen mit Sporturkunden, Fotos von Dr. Klimpfinger beim Tennis, beim Hochseefischen, mit seinem roten Sportwagen. Er hat die Art von Ausstrahlung, die es einem schwer macht, sich ihm zu entziehen. Jenny, die Sekretärin, serviert den Kaffee an die massive, schwarze, etwas klischeehafte Ledercouch, auf der wir mittlerweile Platz genommen haben.

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Sowieso scheint es, als wäre hier der Tod gar nicht so allgegenwärtig, wie ich mir das anfangs vorgestellt habe. "Die Krimis zeichnen da meistens ein falsches Bild, deshalb wird der Beruf des Pathologen oft mit dem des Gerichtsmediziners verwechselt", klärt mich Dr. Klimpfinger gleich zu Anfang auf. Die Gerichtsmedizin beschäftigt sich – grob gesagt – fast ausschließlich mit Verbrechensopfern und Vaterschaftsstreits.

Damit hat die Pathologie nur mehr wenig am Hut. Hier wird zwar die Todesursache ermittelt, sollte diese unklar sein, aber eigentlich sei die Pathologie die "Lehre vom Leiden" und beschäftigt sich somit vielmehr mit den Lebenden. Nur um die 250 Leichen von insgesamt über 1000 Verstorbenen werden hier im Jahr durchschnittlich obduziert – eine Leichenbeschau muss aber in jedem Fall erfolgen, dafür ist im Krankenhaus sehr wohl der Pathologe zuständig.

Klimpfinger selbst hat in seinem Leben über 1800 Obduktionen durchgeführt. Das macht also logischerweise minimum genauso viele Tote, die er bisher vor sich liegen hatte. Und das, obwohl er seit 21 Jahren nur mehr in absoluten Notfällen selbst obduziert, und ansonsten eher deligiert. "Ich mag das eigentlich nicht", sagt er direkt. "Wenn ich nicht unbedingt muss, warum sollte ich dann?" Histologische Diagnosen und Mutationsanalysen seien da schon mehr seines. Überhaupt sei er ursprünglich eher durch Zufall zur Pathologie gekommen, eigentlich wollte er Chirurg werden, erklärt mir der Primar, während wir einen Stock tiefer gehen, um uns die verschiedenen Labors anzusehen.

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Ich erzähle ihm von meinen Großeltern und meiner schon fast irrationalen Angst vor ihrem Tod. Ob er denkt, dank seines Berufs besser mit dem Thema klarzukommen, frage ich. "Natürlich habe ich mich zwangsweise mehr mit dem Tod auseinandergesetzt als Andere, man gewöhnt sich sicherlich daran, entwöhnt sich aber gleichzeitig auch wieder sehr schnell." Auch macht es für ihn einen großen Unterschied, welchen Patienten er vor sich hat.

"Bei einem 95-Jährigen, der an Altersschwäche gestorben ist und schon recht gebrechlich war, hat man nach dem Tod oft das Gefühl, dass da gar nichts mehr da ist. Ganz anders ist das bei einem Mittzwanziger, der beim Motorradfahren gestorben ist und noch voll im Leben stand. Ich habe auch nie einen Menschen obduziert, den ich kannte. Das könnte ich nicht." erzählt mir Dr. Klimpfinger zwischen Petrischalen und monströsen, hochmodernen Maschinen.

Ich im Gegensatz habe wohl das romantische Bild der letzten Ehrerweisung vor Augen und meine, mir nicht vorstellen zu können, diese Aufgabe abzugeben. "Ich behalte mir die Person lieber so vor Augen, wie ich sie aus Lebzeiten kenne. Wenn es um Diagnosen am Lebenden innerhalb meines Fachspektrums geht, helfe ich aber gern."

Das Klischee des gefühlskalten, eigenbrötlerischen Pathologen erfüllt mein Gegenüber damit so gar nicht. "Die klassischen Sezierpathologen, die nicht die Verantwortung für einen lebenden Patienten tragen und viel mehr wissenschaftlich tätig sein wollten, gibt es heute nur noch selten – mittlerweile kann man bei einer Obduktion nur mehr bedingt wissenschaftliche Erkenntnisse erzielen, dafür ist die Medizin schon zu weit fortgeschritten."

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Mittlerweile haben wir uns senfgelbe Arztkittel übergestreift, um keine Keime aus dem bakteriologischen Labor nach außen zu tragen. Mir ist heiß unter dem viel zu großen Mantel und kann eigentlich nur noch an das denken, was uns einen Stock tiefer erwarten wird. Auch wenn hier die toxischen Dämpfe andauernd abgesaugt werden, riecht es chemisch und genau nach dem Krankenhausgeruch, der mich damals direkt zum Notarzt befördert hat.

Ich kann mich kaum konzentrieren, während der Primar von Mycobakterien, Meningokokken und Massenspektrometern erzählt. Ich kann mir am Schluss aber zumindest so viel zusammenreimen, dass einer der Ärzte hier wohl auch schon einmal ein Pröbchen von mir unter die riesigen Mikroskope hielt, als man vermutete, dass ich multiresistente Erreger von meiner Indienreise mitgebracht habe. Auch das Händewaschen am Ende wird zu einer Staatsaffäre. Das strenge Regelwerk und das kalte Wasser beruhigen mich allerdings wieder ein bisschen und ein Blick in den Spiegel bestätigt mir, dass meine Gesichtsfarbe durchaus im Bereich des Normalen rangiert. Bevor wir in die Kellerräume gehen, möchte ich noch mehr von Dr. Klimpfingers Einstellung zum Tod wissen.

"Ich glaube ja, dass das Sterben schlimmer ist, als der Tod selbst", setzt er an. Das ist nicht das was ich hören wollte. Das sieht man mir vermutlich auch an, beschwichtigt er daraufhin doch sofort: "Stirbt ein Patient, weicht meistens alle Anspannung aus seinem Gesicht. Der Tod wirkt friedlich, das will ich damit sagen. Natürlich kann keiner wissen, was danach ist, aber gerade Menschen, die schon einmal kurz vorm Tod standen, haben danach oft keine Angst mehr, gehen sehr pragmatisch und zufrieden mit dem Thema um und wirken auf eine Art abgeklärt."

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Ob er an ein Leben nach dem Tod glaubt, wo doch immer wieder von solchen Nahtoderfahrungen die Rede ist, frage ich. "Manche erklären sich das gehirnphysiologisch, also mit Sauerstoffmangel und schlechter Durchblutung und dann muss man natürlich auch noch bedenken, dass viele dieser Patienten zu dem Zeitpunkt unter extrem starker Medikation stehen." Dass da das Leben noch einmal an einem vorbeizieht, ist somit wohl nicht einmal so abwegig. Nicht umsonst wird mit Morphium auch als Droge auf der Straße gehandelt.

"Stirbt ein Patient, weicht meist alle Anspannung aus seinem Gesicht. Der Tod wirkt friedlich."

Er erzählt mir auch von zeitlebens sehr existentialistischen Menschen, die bei längerer Krankheit und im höheren Alter doch noch religiös werden und sozusagen ihren Frieden mit Gott schließen. Vermutlich liegt es in der Natur des Menschen etwas zu finden, an das man sich in Zeiten der Unsicherheit halten kann – Religion kann da durchaus hilfreich sein. Auch ich, die sicherlich keinen verklärten Blick auf die Welt hat, werde bei dem Gedanken, dass da irgendwann einmal etwas Höheres auf mich wartet, etwas entspannter.

Dann gibt es laut dem Arzt auch noch die Patienten, die nicht mit ihrem Leben abschließen wollen und bis zum Schluss einen regelrechten Kampf führen. Das sei dann besonders für die Angehörigen schwierig. Bei Anderen lässt sich beobachten, dass sie oft nur noch darauf zu warten scheinen, sich von bestimmten Personen verabschieden zu können. Danach können sie friedlich gehen.

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Wir gehen ein letztes Mal die Stiegen hinunter. Er erzählt mir, dass hier bereits für den Tatort und Kommissar Rex gedreht wurde. Hier unten ist es tatsächlich kühler – und ähnlich steril wie in einem Operationssaal, alles ist abwaschbar. Wir durchqueren den Verabschiedungssaal mit einer kleinen, metallenen Kanzel. Hier können sich vor allem jene Angehörige verabschieden, die nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus kommen konnten. Was auffällt: In jedem Raum gibt es einen Abfluss in der Mitte des Bodens – auch hier.  Entgegen meiner Erwartungen ist es in den Räumlichkeiten allerdings völlig geruchsfrei.

Es empfängt uns einer der Obduktionsassistenten, ein großgewachsener, junger Mann, der hier völlig in seinem Element zu sein scheint. Als wir ihm von meinem Grund des Besuches erzählen, schüttelt er nur lachend den Kopf, geht direkt zu der metallenen Wand mit den vielen, großen Schubladen und will mir eine Leiche zeigen. Ich erstarre. Aber Dr. Klimpfinger will mich erst noch durch die Räumlichkeiten führen und rät mir ohnehin von einer Obduktion ab: "Betrachtet man eine Obduktion nicht unter dem medizinischen Aspekt, kann das eine harte Erfahrung sein." Ich widerspreche ihm nicht und bin insgeheim ein bisschen froh. Das Wissen, was sich in den Särgen und hinter den Wänden verbirgt, reicht mir für den Anfang. Der Tod ist mir gerade nahe genug.

Der Obduktionssaal selbst ist dann tatsächlich so, wie man es aus dem sonntäglichen Tatort kennt, auch wenn mich die bereitgestellten Laubsägen etwas irritieren. Ansonsten wirkt alles fast freundlich und hell – Angst müsste man hier alleine keine haben. Es gibt auch einen extra Saal für kontaminierte Leichen – wie alles im Krankenhaus ist auch hier jeder Handgriff streng geregelt. So auch die verschiedenen Sarggrößen, die man hier findet. Von hier aus werden sämtliche Leichen des Krankenhauses von der Bestattung abgeholt. Nicht umsonst gibt es hier zwei große Kühlräume, die heute aber nur mäßig gefüllt sind.

Am Ende finde ich auch hier keine Patentantworten auf meine Fragen. Für Dr. Klimpfinger hat die Angst vorm Tod aber viel mit der eigenen Lebensplanung zu tun und meint, dass man durchaus freudvoll und bewusst zu Werke gehen sollte. "Man kann das Schicksal nicht zwingen - aber herausfordern sollte man es gleichzeitig auch nicht." Er rät mir, nicht länger zu verdrängen, sondern mich bewusst mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen – auch mit der meiner Großeltern. "Es kommen immer wieder Angehörige, die fragen, woran der Patient gestorben ist und bereuen, zu wenig Zeit mit ihm verbracht zu haben. Sie konstruieren dann oft absurde Kausalitäten, um sich selbst für das Ableben verantwortlich zu machen." Mehr Zeit mit den Großeltern verbringen also, eigentlich logisch. Den Anstoß von außen schien es allerdings gebraucht zu haben. In mir stellt sich das Gefühl ein, heute doch viel gelernt zu haben.

Trotzdem bin ich froh, als ich das Gebäude in der Kundratsstraße verlasse und endlich wieder das Gefühl habe, frei atmen zu können. Meine Ängste sind nicht weg, ich kann noch nicht mal behaupten, dass ich ab heute bewusster lebe, meine Familie öfter anrufen werde, oder endlich wieder anfange, regelmäßiger laufen zu gehen, aber ich bin auf eine Art beruhigt. Beruhigt, dass ein Mann, der tagtäglich mit dem Tod konfrontiert ist, noch immer Respekt davor hat … und auch keine Antworten findet.

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