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Darum leiden immer mehr Schweizer Jugendliche an psychischen Krankheiten

„Untersuchungen zeigen, dass manche Probleme im Jugendalter tatsächlich zunehmen: Insbesondere depressive Störungen mit Suizidalität und Selbstverletzungen sind im Zunehmen begriffen."
Foto: ryan melaugh

Die Neuanmeldungen bei dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) der Universität Zürich haben sich in den letzten 15 Jahren fast verdreifacht.

In der Tat vernahm ich in letzter Zeit von immer mehr Bekannten aus meinem Freundeskreis, dass sie psychiatrische Hilfe beziehen. Mit zunehmender Verwunderung fragte ich mich: Wieso? Klar geht es uns mal besser, mal schlechter doch im Grossen und Ganzen haben wir überhaupt nicht das Recht über unser Leben in einem der reichsten Ländern der Welt zu klagen, oder doch?

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Um mir diese Frage aus erster Hand beantworten zu lassen, habe ich im Internet freiwillige Jugendliche gesucht, die sich momentan in psychiatrischer Behandlung befinden. Drei haben sich bei mir gemeldet, sich mit mir getroffen und mir erzählt, wieso Sie zum Psychiater gehen und ob es ihnen etwas bringt:

Fatima, 20:

VICE: Wie lange gehst du bereits zum Psychiater? Regelmässig?
Fatima: Seit dem ersten Lehrjahr, das sind jetzt etwa drei Jahre. Vor einem Jahr noch ging ich regelmässig zum Psychiater. Das bedeutet sicher einmal in drei Monaten. Mittlerweile gehe aber nur vorbei, wenn es mir nicht gut geht.

Aus welchem Grund hast du dich entschieden zum Psychiater zu gehen?
Weil meine Familie sagte, dass ich es nötig habe (lacht). Nein, ganz so war es nicht. Ich entschied mich dazu, weil ich mich am Anfang meiner Lehre immer so unsicher gefühlt habe. Dieses Problem fing eigentlich schon in meiner Kindheit an: Um Freunde zu bekommen, habe ich immer versucht, es allen Recht zu machen. Mit der Zeit verschlimmerte sich das mehr und mehr, bis ich vor fremden Leuten, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, überhaupt nicht mehr reden konnte. Während meiner Lehre musste ich aber anfangen, mich vor Kunden oder vor meiner Chefin verantworten zu können.

Würdest du sagen, dass die Sitzungen dir geholfen haben? Wieso?
Natürlich ist es nie einfach zum Psychiater zu gehen. Erstens kommst du dir ziemlich blöd dabei vor und zweitens ist es ein komisches Gefühl, deine privaten Sorgen einer völlig fremden Person anzuvertrauen. Aber ich würde schon sagen, dass diese Sitzungen mir viel gebracht haben. Wir sprachen vor Allem über meine Unsicherheiten. Wie ich mich fühle, wenn Kunden mich blöd anmachen et cetera. Er half mir, mich in diese unangenehmen Situationen hineinzuversetzen und gab mir Tipps, wie ich besser mit ihnen umgehen kann. Und er verschrieb mir Antidepressiva.

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Christina, 19:

VICE: Wie lange gehst du bereits zum Psychiater? Regelmässig?
Christina: Also zum Psychiater oder zum Psychologen? Zum Psychologen gehe ich bereits seit meinem fünfzehnten Lebensjahr. Zum Psychiater gehe ich jetzt seit etwa einem Jahr einmal pro Woche.

Aus welchem Grund hast du dich entschieden zum Psychiater zu gehen?
Ich habe mich nicht freiwillig dazu entschieden. Es wurde mir empfohlen, mich in psychiatrische Obhut zu begeben, da ein paar Sachen vorgefallen sind.

Foto: Davidmbusto | Wikimedia | CC BY 3.0

Was für Sachen?
Einerseits leide ich schon seit einem Jahr an einer Zwangsstörung, ich habe also den Drang, eine Sache mehrere Male hintereinander zu machen. Beispielsweise musste ich den Türknauf der Eingangstür immer sieben Mal rauf und runter bewegen, bevor ich schlafen gehen konnte. Mit der Zeit musste ich es bis zu 3x7 Mal machen, bevor ich Ruhe fand. Andererseits wurde ich vor zwei Jahren auch noch von meinem Chef sexuell belästigt. Ansonsten gibt es da auch noch andere Ängste in mir, die sich während meiner Pubertät entwickelt haben.

Würdest du sagen, dass die Sitzungen dir geholfen haben? Wieso?
Nein. Ich werde auch bald den Psychiater wechseln, da wir nicht den richtigen Draht zueinander haben. Zu meiner Psychologin hingegen schon. Meine Psychologin war für mich wie eine zweite Mutter, die mir noch ein wenig mehr zuhörte und auf meine Probleme einging. Nach so einer Sitzung war ich immer erlöst. Ich habe mich glücklich und verstanden gefühlt. Sonst hatte ich dieses Gefühl nicht so oft. Sie wurde für mich zu einer Vertrauensperson. Zwischen Psychologe und Psychiater stehen Welten.

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Wer übernimmt die Kosten für deine Sitzungen?
Ehrlich gesagt habe ich mich noch nie so richtig damit befasst. Einen Teil übernimmt glaube ich die Krankenkasse. Ach ja, und als das mit meinem Chef passiert ist, wurde ich nach dem Gerichtsverfahren bei der Opferhilfe angemeldet. Das ist eine Organisation für Leute, die sexuell missbraucht wurden. Die nächsten fünf Jahre werden deswegen alle meine psychiatrischen Sitzungen von der Opferhilfe bezahlt, quasi als Schadenersatz.

Sebastian, 23:

VICE: Wie lange gehst du bereits zum Psychiater? Regelmässig?
Sebastian: Das erste Mal war ich mit neun Jahren beim Psychiater. Damals musste ich einmal pro Woche in eine Sitzung gehen. Das zweite Mal war vor etwa einem Jahr. Da hatte ich aber nur fünf Sitzungen.

Aus welchem Grund hast du dich entschieden zum Psychiater zu gehen?
Als ich klein war, war ich eines dieser „auffallend künstlerisch begabten" Kinder. Meine Lehrerin kam damit nicht klar, und deswegen musste ich zur Schulpsychologin. Die hat mich dann mit Ritalin vollgestopft, dass ich Ruhe gab. Weil das aber nichts gebracht hat, bekam ich Concerta (ein weiteres Amphetamin) verschrieben—was auch nichts half. Schliesslich fing ich an zu kiffen und gut war's. Das zweite Mal war nach meinem militärischen Einsatz im Kosovo. Ich fing an unter stressbedingten Panikattacken zu leiden, fing an zu hyperventilieren. Sobald ich bei Vorgesetzten rapportieren musste, wurde mir schwarz vor Augen.

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Foto: Yuliya Libkina | Flickr | CC BY 2.0

Würdest du sagen, dass die Sitzungen dir geholfen haben? Wieso?
Jain. Sie haben mir auf jeden Fall geholfen, weil ich alles an einer Fachperson auslassen konnte. Er hat mir gezeigt, was mit mir passiert und weshalb es passiert. Andererseits stand mein Psychiater kurz vor seiner Pensionierung und wollte gar keine neuen Patienten aufnehmen. Ich hätte lieber einen jungen, innovativen Burschen gehabt, der mich mehr gepusht hätte.

Würdest du heute in einer ähnlichen Situation wieder zum Psychiater gehen oder würdest du versuchen, das Problem aus eigener Kraft zu bewältigen?
Ich probiere immer zuerst, meine Probleme selbst zu bewältigen. Aber wenn ich merke, dass es keinen Sinn mehr hat, würde ich sofort wieder zum Psychiater gehen. Ich finde es ist keine Schande, sich helfen zu lassen und man muss das auch nicht verheimlichen. Lieber geht man zum Psychiater, bevor man sich etwas antut.

In der Tat ist es Fakt, dass Wohlstand und Bildungsgrad Hand in Hand mit psychischer Labilität einhergehen. Die Sensitivierung von psychischen Krankheiten ist in Erstweltländern wie der Schweiz deutlich höher, als in Drittweltländern wie beispielsweise Ghana.

Um mir die Sensibilisierung von Jugendlichen auf psychische Krankheiten genauer erklären zu lassen, habe ich Fr. Dr.med. Dagmar Pauli, Chefärztin der KJPD der Universität Zürich zu diesem Thema befragt. Frau Pauli erklärte mir diesen Umstand so: „Es gibt sehr gute Informationskampagnen, die über psychiatrische Störungen kompetent und jugendgerecht informieren. Auch Präventionsbemühungen an Schulen haben zugenommen. Gesamtgesellschaftlich wird in verschiedenen Medienkanälen immer häufiger über psychische Störungen sachlich informiert. Alle diese Ansätze zeigen bereits positive Wirkungen."

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Pro Woche hat die KJDP etwa 1600 Patienten, von denen circa die Hälfte zwischen 15 bis 18 Jahren alt ist. Auch für den drastischen Anstieg psychischer Labilitäten in den letzten 15 Jahren hat Frau Pauli eine Erklärung: „Untersuchungen zeigen, dass manche Probleme im Jugendalter tatsächlich zunehmen: insbesondere depressive Störungen mit Suizidalität und Selbstverletzungen sind im Zunehmen begriffen."

Und weiter: „Das hat einerseits mit einem erhöhten Bewusstsein über psychische Störungen in der Gesellschaft zu tun. Psychische Störungen werden heute weniger stigmatisierend erlebt. Die Schwelle für Jugendliche und deren Familien sich in psychiatrische Behandlung zu begeben wird also niedriger."

Während psychische Krankheiten vor 40 Jahren nahezu bedeutungslos waren (2%) liegt der Anteil psychischer Erkrankungen am Arbeitsunfähigkeitsgeschehen in Europa heute bei 14.7%. Mit 40.1 Tagen ist die durchschnittliche Dauer psychischer Krankheiten heute drei mal so hoch wie bei anderen Erkrankungen (13 Tage). Ausserdem sind psychische Krankheiten heutzutage die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Frühpensionierung.

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Titelbild: ryan melaugh | Flickr | CC BY 2.0