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Unser Selbstbestimmungstrip geht nach hinten los

Die Schweizer sehnen sich nach der EU. Die Fasnacht der Souveränität ist vorbei.
Foto von Evan Ruetsch

Die offizielle Schweiz beeinflusst für einmal unseren Alltag: Der Wegfall der Euro-Mindestkurses und der starke Franken verändern das Verhalten der Schweizer. Das sieht man daran, dass ich plötzlich in Deutschland einkaufe, daran, dass das sehr viele andere Leute auch tun. Das sieht man daran, dass selbst Banken wie Julius Bär trotz riesigen Gewinnen 200 Leute entlassen und Jobs ins Ausland verlagern. Das sieht man auch am Verhalten von Politikern und Journalisten.

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Die Mehrheit der Schweizer begreift wieder, dass wir nicht in einem Alpen-Luftkissenboot, das vier Elefanten durchs Universum tragen, leben. Die Mehrheit der Schweizer würde sich gerne wieder in irgendeinen Mutterschoss begeben. Der Grund ist so einfach wie real: Der Franken ist so stark, dass unsere Exportwirtschaft leiden wird. Der Franken ist so stark, dass nicht nur ich nach Deutschland einkaufen gehe, sondern auch die Konsumentenschützerin Sara Stalder. Der Franken ist so stark, dass wir eine Rezession erwarten müssen. Das sage nicht ich, sondern die Konjunkturforschungsstelle der ETH.

AUNS-Mitglieder stimmen Ecopop zu; Foto von Diana Pfammatter

Vor vier Monaten erklärte mir der Psychoanalytiker Peter Schneider noch „Fasnacht der Souveränität"—die Feier von Willkür in der direkten Demokratie—während er sein Entrecote zerkaute und 20 Minuten prophezeite in einer Umfrage eine Mehrheit für Ecopop. Das JA zur Masseneinwanderungsinitiativewar der grosse Knall in der Fasnacht der Souveränität. Griff die Minarettinitiative Symbole an, nämlich die vier Minarette, die in diversen Agglo-Gegenden der Schweiz verstreut stehen, griff die Masseneinwanderungsinitiative das reale Leben an. Das war dann manchen doch zu viel: Plötzlich stand das Erasmus-Programm auf der Kippe, die europäische Hochschulzusammenarbeit oder auch die Filmförderung. (Das sind die Nachteile aus Schweizer Sicht. Ausgeklammert habe ich all die EU-Bürger, die hier arbeiten und die Grenzgänger—alleine in Basel sind es über 60.000—die im Ausland leben und in der Schweiz arbeiten.

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Peter Schneider beim Essen; Foto von Claude Hurni

Bisher ist von der Masseneinwanderungsinitiative aber trotzdem nicht mehr als ein halber Sack Konfetti geblieben: Über die Umsetzung wird weiterhin gestritten; die nächste Fasnachtsinitiative—„ Landesrecht vor Völkerrecht" ist schon in der Pipeline. Die Guggemusig bringt sich also wieder in Position, aber trotzdem wurde die Live-Übertragung unserer „Das Boot ist voll"-Fasnacht für eine dringende Meldung unterbrochen: Dem starken Schweizer Franken.

Und plötzlich dreht und wendet und windet sich der Arbeitnehmer im Bürger, der Materialist im Idealist und der Unternehmer … Im Unternehmer. CVP-Präsident Christophe Darbellay (Gegner der Masseneinwanderungsinitiative, aber sonst sehr flexibel in seinen Positionen) spricht von der „explosiven Wirkung der Frankenstärke".

Auch Befürworter der Masseneinwanderungsinitiative sehen diese Veränderung, so schrieb der Schweiz am Sonntag-Chefredaktor Patrik Müller in der aktuellen Ausgabe: „ … Der 15. Januar 2015, der Tag, an dem die Nationalbank den Euro-Mindestkurs aufgehoben hat. Seither ist nicht mehr von zu viel, sondern von zu wenig Wachstum die Rede, ja von Wirtschaftskrise und Arbeitsplatzabbau."

Wie Schweizer Kinder früh auf Einkaufstourismus konditioniert werden — Patrik Müller (@patrik_mueller)25. Januar 2015

Am gleichen Tag publizierte die Sonntagszeitung eine repräsentative Umfrage, nach welcher die Fasnachtsfreude bei der Mehrheit der Schweizergesunken ist: Nur noch 35% halten die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative für wichtiger als die Bilateralen Verträge mit der EU. 71% halten die Bilateralen bis heute für „eher positiv" oder „sehr positiv". Ganze 52% würden heute für eine Vertiefung der Beziehungen zur EU stimmen. So rennt der Arbeitnehmer, der Materialist und—vielleicht auch—der Unternehmer in den Schoss der guten Mutter Europa.

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— limes raetia (@limes_raetia)1. Februar 2015

Das Gewerbe hat Angst, dass Sara Stalder und ich unser Duschgel künftig immer in Deutschland kaufen. Betriebe und Universitäten habe Angst, dass hochqualifizierte EU-Bürger zuhause bleiben. Denn für jeden deutschen Studenten ist die WG-Miete im letzten Monat um 20% gestiegen. Und genauso wird es für berufstätige EU-Bürger unattraktiver in die Schweiz zu ziehen.

Ein zynischer Facebook- oder Twitterkommentar, den ich leider nicht mehr finde, lautete: „Die SNB hat heute die Masseinwanderungsinitiative umgesetzt." Wir haben Angst. Plötzlich sind wird nicht mehr in Landsgemeinden- oder Fasnachtsstimmung, plötzlich wären wir froh um eine Institution, die uns Sicherheit bietet. Wir haben Angst, weil wir für einmal die Folgen unserer Dauer-Fasnacht spüren. Weil Politik, Mythos und Mythenpolitik konkrete negative Folgen auf unser Leben haben.

Typ am Argovia-Fäscht 2014; Foto von Emanuel Niederhauser

Das ist der dümmste Artikel, den ich je geschrieben habe. Und ich habe schon über das Argovia-Fest und die besten Kifferplätze Basels geschrieben. Er ist deshalb so dumm, weil ich genau dasselbe sage, wie jeder sagt, der nicht zur Fasnachtsgesellschaft gehört: Das Boot ist nicht voll. Fremde Richter sind ein Schiller-Thema. (Und auch gut für die Drehbücher von Mel Gibson-Filmen.) Wir gehören zu Europa. Vielleicht gehören wir nicht zur EU, aber wir gehören zu Europa. Es ist schön, dass das wieder eine Mehrheit der Schweizer so sieht. Es ist schade, dass es eine drohende Wirtschaftskrise braucht, damit es eine Mehrheit der Schweizer so sieht.

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