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Wir wollten wissen, wie ekelhaft das „schockierendste Theaterstück aller Zeiten“ wirklich ist

In Sarah Kanes Werk ‚Cleansed' sind vor allem Folter, Analsex und abgeschnittene Zungen an der Tagesordnung. In Ohnmacht fallende Zuschauer sagen heutzutage jedoch mehr über das Publikum als über das eigentliche Stück aus.
Hannah Ewens
London, GB

Schockierender Horror! Ekelerregende Szenen! Ein widerliches Schmutzfest für verrückte Linke! So reagierte die entzückte Presse auf die Inszenierungen von Sarah Kanes erstem Theaterstück Blasted. Darin zu sehen waren unter anderem Darstellungen von Vergewaltigungen, Bombenanschlägen, Selbstmord, Masturbation. Außerdem hat jemand ein totes Baby gegessen. Mit der Zeit entwickelte Kane ihre Schreibfertigkeiten immer weiter und die Kritiker bereuten ihre impulsiven und blindwütigen Reaktionen. Plötzlich wurde die Theaterautorin als einzigartiges Sprachrohr gefeiert.

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Inzwischen liegen diese Aufführungen schon über 20 Jahre zurück und das englische National Theatre inszeniert nun Kanes Stück Cleansed. Wie wir bereits letzten Monat geschrieben haben, kann dieser Schritt als die endgültige Aufnahme Kanes in den britischen Theaterkanon angesehen werden.

In Bezug auf Stil und explizite Szenen sind sich Cleansed und Blasted doch sehr ähnlich. Im erstgenannten Stück mit politischen und abstrakten Zügen geht es um einen Mann namens Tinker, der andere Leute in einer Art Gefängnis für Körper und Geist einsperrt und dabei foltert. Jeder Charakter hat dabei eine verzerrte Vorstellung von Liebe und will diese Liebe auf eine eigene Art und Weise für sich beanspruchen.

Die Reaktionen auf Cleansed fallen unheimlicherweise genauso aus wie damals auf Blasted. In der Rezension der Daily Mail (in der auch nur ein Stern vergeben wurde) heißt es, dass ein Pärchen aus dem Saal eilte und darüber lachte, dass Cleansed das schlechteste Theaterstück seit Jahren sei. In einer anderen Zeitung ist zu lesen, dass in den ersten sechs Voraufführungen gut 40 Leute das Theater vorzeitig verließen. Dazu kam dann noch, dass fünf Leute medizinisch behandelt werden mussten, weil sie während des Stücks in Ohnmacht fielen. Ein Blogger, der sich das Ganze ebenfalls angeschaut hatte, beschrieb das vorzeitige Verlassen des Zuschauerraums als „unumgänglich" und wusste nicht mal nach dem Ende der Inszenierung, worum es bei dem Stück eigentlich ging.

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Analysieren wir das Ganze doch mal schnell. Wenn man schon eine Menge Geld ausgibt, um sich ein Theaterstück von Sarah Kane anzuschauen, dann sollte man sich auch darüber im Klaren sein, worauf man sich da einlässt. Falls dir der Name der Theaterautorin nichts sagt, dann sollte der Warnhinweis des National Theatres ausreichend Aufschluss geben: „Enthält explizite Szenen von körperlicher und sexueller Gewalt".

Ich will hier nicht rumprahlen, aber ich bin noch nie durch ein Theaterstück, einen Film oder ein Videospiel ohnmächtig geworden. Ich bin wohl einfach nur Teil der demographischen Gruppe, die sich A Serbian Film mit etwas Gras und Haribo-Naschzeug angeschaut und Sodomie-Filmchen im Klassenzimmer herumgereicht hat. Ein ungeschriebenes Gesetz der Kunstkritik besagt, dass sinn- und zwecklose Anzüglichkeit ohne Botschaft unnötig ist und sinnbildlich für ein schlechtes Stück steht. Da ich mit dem zugrundeliegenden Text und Kanes anderen Werken vertraut bin, konnte ich mir nicht vorstellen, dass das hier zutrifft. Ich wollte jedoch auch die Reaktionen auf das Stück verstehen und habe mich deshalb selbst aufgemacht, um herauszufinden, ob ich die harte Ästhetik von Cleansed verkraften würde.

Beim Hinsetzen höre ich, wie sich die zwei Frauen neben mir darüber unterhalten, warum sie das Stück sehen wollen. Die eine hat in der Daily Mail gelesen, dass Leute ohnmächtig geworden sind, und daraufhin sofort Tickets besorgt, um zu sehen, was die ganze Aufregung überhaupt soll. Sie wäre wohl auch ohne ihre Begleitung gekommen. Das Ganze erinnert mich an damals, als die Leute nach den ersten Kritiken von Blasted ins Theater gingen, um sich empört zeigen und vielleicht sogar aus dem Vorführungssaal stürmen zu können. So war auch die Sarah-Kane-Herausforderung geboren. Jegliche künstlerische Intention wurde ab diesem Zeitpunkt von genau dieser Herausforderung überschattet.

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Das Stück fängt an. Schon nach wenigen Minuten spritzt Tinker, der Arzt und gleichzeitig patriarchale Herrscher, einem jungen Mann eine tödliche Dosis Heroin ins Auge. Wir blicken quasi in eine düstere Krankenhaus-Folterkammer—ein direktes Abbild der Mikro-Gesellschaft, die Kane im Sinn hatte. Es ist auch sofort klar, dass die Regisseurin Katie Mitchell im Gegensatz zu der abstrakten und halb-stilisierten Originalinszenierung eine eher intuitive Herangehensweise gewählt hat.

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Während der Suche nach Liebe lässt dann bald jeder Darsteller die Hüllen fallen. Bei jeder Gelegenheit spitzt irgendwo ein Penis hervor, Tinker holt sich auf eine eingesperrte Frau zuerst einen runter und schläft später noch mit ihr, die Liebhaber Carl und Rod simulieren Schwulensex, Grace schläft dann ebenfalls noch mit irgendjemandem und die Schauspieler werden durch erzwungene Striptease-Einlagen ständig erniedrigt. Am Anfang des Stücks verlangt Grace nach dem Tod ihres Bruders, dessen Klamotten zurückzubekommen. Tinker führt daraufhin einen Mann herein, der besagte Klamotten trägt. Grace weist diesen Mann an, sich auszuziehen, entledigt sich dann ebenfalls ihrer Kleidung und schlüpft anschließend in den Anzug und die Boxershorts ihres verstorbenen Bruders, um ihm näher zu sein. Dabei stellt sie sich allerdings so ungeschickt an, dass ihre Brüste während des gesamten restlichen Stücks zu sehen sind.

Simulierter Sex mit schlaffen Penissen und nackte Schauspieler sind jetzt nichts Neues. Warum also die ganze Aufregung? Wahrscheinlich, weil Tinker und seine maskierten Schergen bei dieser Reise in der Welt der Liebe und des Geschlechtsverkehrs alles und jeden foltern—und das augenscheinlich ohne jegliche Logik. Carl wird aufgrund seiner Homosexualität eine Stange in den Hintern geschoben (OK, hier habe selbst ich das Gesicht verzerren müssen), während eine Maschine auf seine Hände und Füße einhackt. Wir werden Zeuge einer Geschlechtsumwandlung. Irgendjemandem wird ein Messer oder ein Stift in den Hals gerammt. Wenn man jedoch schon mal einen Horrorfilm wie etwa Saw oder Hostel gesehen oder einen etwas brutaleren Roman gelesen hat, dann ist das Ganze kein bisschen schockierend. Wer auch nur einen Funken Fantasie besitzt, wird bei diesen Theaterszenen wohl eher keine Miene verziehen.

Katie Mitchells Inszenierung hinterlässt den Eindruck eines endlosen Albtraums. Im Grunde handelt es sich dabei jedoch nur um eine interessante und fundierte Interpretation von Cleansed, die auch als ein weniger explizites Hostel für Theaterbühnen durchgehen könnte. Aber Zuschauer, die in Ohnmacht fallen oder die Vorführung vorzeitig verlassen? Völlig überzogen. Eigentlich wird dadurch nur gezeigt, dass wir uns in 20 Jahren kulturell gesehen kein bisschen weiterentwickelt haben.

Die Menschen, die nach einem simulierten Gewaltakt oder einer Schwulensexszene ärztlich behandelt werden müssen, sind entweder so alt oder haben sich so sehr in ihrer Hochkultur verschanzt, dass sie so etwas einfach nicht gewöhnt sind. Das sensationslüsterne Medienecho—„Handelt es sich hier um das schockierendste Theaterstück aller Zeiten?" oder „Das neueste National-Theatre-Stück ist so grauenvoll, dass das Publikum OHNMÄCHTIG wird"—sorgt natürlich genauso wie damals trotzdem dafür, dass diese Leute ins Theater strömen und dort dann erwarten, sich irgendwie auf den Schlips getreten zu fühlen. Jeder will schließlich wissen, was es mit der Aufsehen erregenden Inszenierung auf sich hat. Anders gesagt: Cleansed schließt den Kreis, der mit Blasted angefangen wurde.