Warten an der Schweizer Grenze: Geflüchtete erzählen ihre ganz persönlichen Geschichten

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Warten an der Schweizer Grenze: Geflüchtete erzählen ihre ganz persönlichen Geschichten

In Como warten immer mehr Flüchtlinge darauf, in und durch die Schweiz zu kommen. Klaus Petrus hat sich zu ihnen gesetzt und ihnen zugehört.

Wenn es nicht überall zu lesen wäre, man könnte meinen, es laufe eines dieser Afrikafeste im Park hinter dem Bahnhof Como San Giovanni. Doch es ist anders. Waren es Mitte Juli noch zwischen 50 und 150 Geflüchtete, so sind es jetzt, knapp ein Monat später, schätzungsweise über 500, die hier an der Grenze zur Schweiz festsitzen. Viele von ihnen stammen aus Äthiopien, Eritrea, Somalia oder Gambia. Und sie alle sind auf der Flucht.

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An die 8.200 Geflüchtete ohne gültige Papiere hat das Schweizer Grenzwachtkorps (GWK) dieses Jahr nach Italien zurückgewiesen. Fast die Hälfte davon allein im Juli im Tessin. Die meisten wollen bloss die Schweiz durchqueren, und von da aus weiter: nach Deutschland, Skandinavien, England. So stand es in vielen Medien. Was aber nur bedingt stimmt. Redet man mit den Leuten vor Ort—den Hilfswerken, Freiwilligen oder Geflüchteten selber—, dann gibt es offenbar viele, die in die Schweiz möchten. Darunter solche, die bereits einen Antrag auf Asyl gestellt haben, aber trotzdem abgewiesen wurden. So erzählte das etwa vor einigen Tagen auch Lisa Bosia Mirra, die Tessiner SP-Politikerin und Leiterin des Hilfswerks Firdaus.

Dass dies sogar Minderjährige betrifft, die von der Grenzwache unbegleitet nach Italien zurückgeschickt werden, obschon sie Angehörige in der Schweiz haben, wurde auch von Amnesty International kritisiert. Auch Politikerinnen und Politiker reisen dieser Tage viel nach Como. Justizministerin Simonetta Sommaruga findet die Situation dort "schwer erträglich", der Tessiner Regierungsrat Manuele Bertoli gar "inakzeptabel und zivilisierten Ländern unwürdig".

Und die Leute in Como, die Geflüchteten? Wer seine Kamera, das Aufnahmegerät und die abstrakten Politanalysen für ein Weilchen wegpackt, sich stattdessen hinsetzt und ihnen zuhört, wird bald bemerken: Es geht ihnen um etwas Anderes. Um etwas viel Menschlicheres. Um die Frage etwa: Wie weiter, damit es überhaupt noch weitergehen kann? Ich habe mich mit den Wartenden in Como über ihre Wünsche, Ängste und ihren Alltag unterhalten:

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Elnatan, 24, aus Äthiopien, verheiratet

"Mein grösster Wunsch? Das weiss ich nicht mehr. Ich bin ganz wirr im Kopf, mein Hirn will gar nicht recht funktionieren. Seit ich flüchten musste, ist mein Gefühl für die Zeit weg. Ich frage mich oft: Ist heute Montag oder Mittwoch oder Freitag, ist jetzt Vor- oder ist schon Nachmittag? Ich glaube, das kommt vom vielen Warten. Und das geht ja immer weiter so. Das ewig lange Warten. Die Schweiz wird ihre Grenzen nicht öffnen, ganz sicher nicht. Das hat man mir gesagt. Obwohl: Manche gehen rüber und kommen nicht wieder. Ob ich noch Hoffnung habe? Allah hat mich losgesandt und er wird mich lenken."

Almaz, 24, aus Eritrea, unverheiratet

Almaz steht auf dem Foto links

"Ich verstehe das nicht. Hat die Schweiz nicht auch Menschenrechte? Wieso macht sie dann die Grenze zu? Die meisten Leute dort haben doch Arbeit, ein Haus, Familie, sind angesehen und glücklich. Oder nicht? Nein, das verstehe ich nicht. Sag du es mir, du kommst doch aus diesem Land. Wo sollen wir denn sonst hin?"

Hawi, 21, aus Äthiopien

"Ich schlafe schlecht. Manchmal kriege ich kein Auge zu und habe Angst. Dann lausche ich den Geräuschen im Park und bin froh, dass ich nicht alleine bin. Morgens stehe ich früh auf und laufe ein wenig herum, das tut mir gut. Dann gibt es zu essen, dann putze ich mir die Zähne, dann versuche wieder zu schlafen. Am Nachmittag spiele ich Fussball, aber ich weiss gar nicht wieso. Zuhause bin ich einer der Besten auf dem Platz, frag meinen Bruder dort drüben. Der mit dem gelben T-Shirt. Keiner ist schneller mit dem Ball als ich. Das wird er dir sagen. Aber hier? Ich mag nicht recht, bin ständig müde. Aber vielleicht kommt das wieder. Ich bin jetzt zwei Wochen hier und muss mich langsam daran gewöhnen."

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Omar, 32, aus Gambia

"Du willst wissen, wie das ist, seit mehr als zwei Jahren ein Geflüchteter zu sein? Ich frage dich: Wie viel Zeit hast du mitgebracht? Denn meine Geschichte ist eine lange Geschichte. Und eine, die keinen Anfang und noch immer kein Ende hat. Du willst sie hören? Die Wahrheit ist: Ich bin müde darüber zu reden. Vielleicht ein andermal. Kommst du wieder? Wir sind bestimmt noch hier."

Taye, 19, Oromo aus Äthiopien

Taye sitzt in der Mitte

"Ich heisse Taye, und ich musste vor zwei Monaten aus Äthiopien fliehen. Erst in den Sudan, dann nach Libyen, ein paar mal hin und her, dann übers Meer nach Sizilien, nun bin ich hier. Meinen Atem, meine Seele, die habe ich daheim gelassen. Jetzt ist nur noch mein Körper da und ich fühle mich so leer."

Hawi, 33, Oromo aus Äthiopien, verheiratet, zwei Kinder

"Die Menschen in Como sind so freundlich, sie helfen uns, dafür sind wir dankbar. Trotzdem fehlt es an vielem. Zum Beispiel: Habt ihr in der Schweiz Badezimmer? Also wir in Äthiopien schon. Die in Eritrea auch, und die im Sudan, im Senegal, sogar im Jemen. Und die in Saudi-Arabien sowieso. Egal ob gross oder klein oder mit Luxus oder ohne: Im Badezimmer bist du für dich, du kannst dich waschen, dich pflegen, dich rausputzen, zu dir schauen. Das ist wichtig, das hat mit Stolz zu tun. Nein, ich wollte sagen: mit Würde. Weisst du, was ich meine?"

Makeda, 19, aus Eritrea, verheiratet, ein Kind

"Ich versuche so zu tun, als wäre alles wie immer. Ich mache mich zurecht, gehe spazieren, rede mit den Leuten, lache, mache Blödsinn. Das tue ich alles für mein kleines Mädchen. Sie soll spüren, dass alles gut ist. Wie es in mir drinnen aussieht? Frag das nicht. Darüber kann ich nicht reden."

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Haile, 30, Oromo aus Äthiopien, verheiratet, vier Kinder

"Wenn ich abends die Augen schliesse, denke ich an meine Mutter. Der Vater, habe ich gehört, ist tot. Er wurde wohl umgebracht, von der Regierung. Oder sie haben ihn in die Verzweiflung getrieben. Zwei Jahre haben wir um unser Land gekämpft, immer und immer wieder. Irgendwann—sie hatten meinen kleinen Bruder entführt—hat uns der Mut verlassen. Die Mutter blieb da, wir anderen mussten fliehen. Und die Regierung hat unser Land an diese reichen Äthiopier in der Diaspora verkauft, die jetzt in ihrer alten Heimat das grosse Geld machen. Auf unsere Kosten, auf dem Buckel der Oromo. Gut, das ist nicht euer Problem. Ich will nur sagen: Wir haben in Äthiopien keine Perspektive mehr. Und ich habe Angst um meine Mutter."

Farah, 23, Somalia, verwaist

"Ob ich Hoffnung für die Zukunft habe? Schau dich mal um: Nein. Ob ich jene verstehe, die Angst vor uns Flüchtlingen haben? Schau uns an, wir haben nichts. Also wieder Nein. Ob es eine Lösung für all das gibt? Ich sage dir, es wird noch schlimmer werden. Hundertmal Nein also auch hier. Ob ich, trotzdem ein Gefühl von Glück verspüre—wenigstens manchmal? Ja, manchmal. Wenn da nicht diese Zahnschmerzen wären, die mich seit Tagen plagen. Und nein, sie kommen nicht vom Essen, denn das ist gut hier: Reis mit Gemüse, weisses Brot, eine Banane. Und ja, du stellst seltsame Fragen."

Makele, 19, und Jonas, 22, beide aus Eritrea, ohne Familie

"Du willst ein Bild von uns? Dann komm mit zum Bahnhof, wir setzen uns hin und reden über etwas, ganz normal, wie alle anderen auch. Und tun so, als würden wir in den nächsten Zug Richtung Schweiz steigen. Wie alle anderen auch."

Alaji, 28, aus Gambia, ohne Familie

"Ich lebe jetzt seit zwei Jahren in Italien, eine Arbeitsbewilligung habe ich immer noch nicht. Es wäre so schön hier, wenn ich nur arbeiten könnte. Dann hätte ich mein eigenes Geld, könnte was aufbauen, mir ein richtiges Leben machen. Aber so hat das Heute kein morgen. Gut, ich könnte hier und dort für ein paar Euro Schwarzarbeit machen. Aber das will ich nicht riskieren. Eigentlich möchte ich den Geflüchteten hier sagen: Geht zurück, dieses Europa ist ein zu hartes Pflaster für uns. Aber das geht nicht. Wer von uns sein Land verlässt, der hat keine Wahl. Er muss es verlassen. Und kann nicht wieder zurück. Wie alles weitergeht? Ich mag nicht daran denken."

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