Die letzten Schweizer Holocaust-Überlebenden
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Die letzten Schweizer Holocaust-Überlebenden

Eine Ausstellung mit ergreifenden Porträts und erschreckenden Lebensgeschichten erinnert uns daran, wohin Fremdenfeindlichkeit führen kann.

Um die 400 registrierte Holocaust-Überlebende leben heute noch in der Schweiz – dazu kommt eine unbekannte, wahrscheinlich aber hohe Dunkelziffer. Viele Überlebende haben wegen den traumatischen Erlebnissen ihre jüdische Identität auch nach dem Ende des Dritten Reichs versteckt oder verschwiegen. Manche sind aus Angst, dass ihnen sowas nochmal widerfahren könnte, sogar zum Katholizismus übergetreten. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg durften Juden oft nur vorübergehend in der Schweiz bleiben, um ihre Flucht in ein anderes Land vorzubereiten. 1938 forderte die Schweiz sogar eine Kennzeichnung von Juden und trug Mitschuld daran, dass deutsche Behörden den "J-Stempel" einführten. Die Schweiz wollte damit jüdische Flüchtlinge an der Grenze einfacher erkennen und zurückweisen können.

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"Es ist die Verantwortung unserer Generation, den Ruf des 'Nie wieder' weiterzutragen."

Weil die Zeitzeugen des Holocausts immer weniger werden, entschied sich Anita Winter, selbst Tochter von damals verfolgten Juden, ihre Geschichten für die Nachwelt festzuhalten. Sie will damit junge Menschen für den Wert und die Wichtigkeit von Toleranz sensibilisieren. Die Ausstellung "The Last Swiss Holocaust Survivors" vermittelt mit authentischen Porträtaufnahmen der Überlebenden des Fotografen Beat Mumenthaler und Kurzfilmen des Regisseurs Eric Bergkraut Ausschnitte aus Lebensgeschichten, die manchmal die eigene Vorstellungskraft übertreffen.

Für viele junge Menschen ist der Holocaust zeitlich so weit weg, dass seine Konsequenzen kaum noch greifbar sind. Wir empören uns zwar, wenn Politiker unpassende Holocaust-Vergleiche machen, doch die Schicksale von Betroffenen rücken immer weiter weg und drohen dadurch langsam zu etwas Abstraktem zu werden. "Immer wieder erzählten mir die Überlebenden, dass so etwas wie der Holocaust wieder passieren könnte. Es ist die Verantwortung unserer Generation, den Ruf des 'Nie wieder' weiterzutragen", erklärt die Initiantin des Projektes gegenüber VICE. Sie hat VICE einen Einblick in die Porträts gegeben, die gerade in Zeiten, in denen der Ton gegenüber Flüchtlingen und Muslimen in Europa immer weiter verroht, an das Versprechen des "Nie wieder" erinnern sollen.

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Eduard Kornfeld

"Wir wurden in einem Viehwaggon deportiert. Drei Tage waren wir unterwegs, als der Zug stoppte. Da hörte ich plötzlich ein Gebrüll auf Deutsch: 'Aussteigen!' Ich schaute aus dem Viehwaggon, sah, wie die SS die Menschen prügelten, damit sie schnell ausstiegen. Eine Mutter kümmerte sich um ihre Kinder, ging zu langsam, da nahmen die SS ihren Säugling und warfen ihn auf einen Lastwagen, auch Alte und Kranke wurden auf den Lastwagen geworfen. Sie wurden sogleich vergast."

Eduard Kornfeld wurde 1929 in der Nähe von Bratislava geboren. Er wurde nach Auschwitz und anderen Konzentrationslagern deportiert und überlebte den Todesmarsch von Kaufbeuren nach Dachau. Als er am 29. April 1945 im Konzentrationslager Dachau von den amerikanischen Truppen befreit wurde, wog er nur noch 27 Kilogramm. Seine Mutter Rosa (37) und sein Vater Simon (44) sowie seine Geschwister Hilda (11), Josef (9), Alexander (7) und Rachel (4) wurden deportiert und in den Gaskammern ermordet. Kornfeld kam 1949 in die Schweiz, wo er in Davos vier Jahre lang von einer schweren Lungentuberkulose gesund gepflegt wurde. Später machte er in Zürich eine Lehre als Juwelenfasser. Er hat zwei Söhne, eine Tochter und sieben Enkelkinder.

Nina Weil

"Dann hat man mich tätowiert: 71978. Da habe ich sehr geweint. Nicht wegen des Schmerzes, nein, wegen der Nummer. Denn ich hatte den Namen verloren, ich war nur noch eine Nummer. Da sagte meine Mutter: 'Weine nicht, nichts ist passiert. Wenn wir nach Hause kommen, besuchst du die Tanzschule und kriegst ein grosses Armband, damit niemand die Nummer sieht.' Ich habe die Tanzschule nie besucht und auch das Armband nie bekommen."

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Nina Weil wurde 1932 in Klattau (heute Tschechien) geboren, lebte in Prag und wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Später kam sie mit ihrer Mutter Amalie nach Auschwitz. Sie war zwölf Jahre alt, als ihre Mutter (38) dort an Erschöpfung und Entkräftung starb. Nina Weil überstand eine Selektion durch den KZ-Arzt Josef Mengele und überlebte anschliessend in einem Arbeitslager. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings fanden ihr Mann und sie Asyl in der Schweiz. Sie war Laborantin am Universitätsspital Zürich.

Klaus Appel

"Wir waren zu Hause, als es an der Tür läutete. 'Sind Sie Herr Appel? Dann kommen Sie mit.' Mein Vater drehte sich zu mir um und sagte: 'Du gehst in die Schule.' Das war das Letzte, was er mir sagen konnte. Ich habe ihn nie mehr gesehen."

Klaus Appel wurde 1925 in Berlin geboren. Nach der Verhaftung seines Vaters kamen er und seine Schwester Ruth in einem der letzten Kindertransporte nach England. Sein älterer Bruder Willi-Wolf (20) wurde verhaftet und wie der Vater Paul (45) in Auschwitz umgebracht. Nach dem Krieg lernte Klaus Appel eine Schweizerin kennen. Er war als Uhrmacher tätig und lebte in der Westschweiz, wo er im April 2017 verstorben ist. Er hat zwei Kinder und drei Enkelkinder.

Christa Markovits

"Ich hatte immer Glück. Meine Cousine, meine Tante, mein Onkel, sie alle wurden ermordet. Und wir sind ohne Verdienst am Leben geblieben – versteckt im Kloster, versteckt in Budapest. Das habe ich nicht verdient. Ich habe das Glück nicht verdient."

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Christa Markovits wurde als Krisztina Barabás 1936 in Budapest geboren. Die ganze Familie konvertierte vor dem Krieg zum Katholizismus. Trotzdem galten sie unter den Rassegesetzen als Juden, weshalb sie und ihre Schwester im Kloster Sacré-Coeur versteckt wurden. 1956 flüchtete sie in die Schweiz, wo sie Physik studierte und am Forschungsinstitut Paul Scherrer tätig war.

Egon Holländer

"Dann kamen die britischen Truppen. Als sie uns befreiten, war ich praktisch tot. An was ich mich noch erinnern kann, sind die Berge von Leichen – das kann man nicht vergessen."

"A little white-skinned Slavonic person of about six years old lay very quietly in his cot. He neither moved nor spoke. He had had typhus; he was all skin and bones", schreibt der Kinderarzt Robert Collis im Buch "Straight on". Collis hat Egon Holländer (geboren 1938 in Martin, heutige Slowakei) nach seiner Befreiung in Bergen-Belsen gerettet. Egon Holländers Mutter Elisabeth ist dort im Alter von 34 Jahren an Typhus verstorben. Als die Truppen des Warschauer Paktes 1968 den Prager Frühling niederschlugen, flüchtete der diplomierte Ingenieur Egon Holländer nach Zürich und arbeitete in leitender Position in einem Technologiekonzern. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und drei Enkelkinder.

Eva Koralnik-Rottenberg

"Die erste Station unserer Flucht war Wien. Dort am Bahnhof wurden wir von der Gestapo abgeholt zum Übernachten im berühmt-berüchtigten Hotel Métropole, dem Gestapo-Hauptquartier. Dies hatte Harald Feller für unsere kleine Gruppe zu unserem Schutz so organisiert. Unsere Mutter verbrachte die Nacht in Angst und Panik. Ich erinnere mich an polierte Stiefel, Schäferhunde an der Leine der Offiziere und das riesige Hakenkreuz in der marmornen Eingangshalle."

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Eva Koralnik wurde 1936 in Budapest geboren. Ihre Mutter, Berta Passweg aus St.Gallen, hatte ihr Schweizer Bürgerrecht verloren, als sie den Ungaren Willi Rottenberg heiratete. Dank dem Einsatz des Gesandtschaftssekretärs Harald Feller gelang Eva Koralnik mit ihrer Mutter und ihrer sechs Wochen alten Schwester Vera im Oktober 1944 die Flucht aus Ungarn in die Schweiz. Eva Koralnik leitete in Zürich die international tätige Literaturagentur Liepman. Sie ist verheiratet, hat einen Sohn und eine Tochter und vier Enkelkinder.

Bronislaw Erlich

"Wenn ich zu Bett gehe und das Licht ausmache, dann denke ich an meine Eltern und meinen kleinen Bruder, die alle ermordet wurden. Ich habe schlafose Nächte. Eine Frau aus Bern meinte einst, ich solle Baldriantropfen nehmen. Ich habe mir eine Flasche gekauft. Es nützt nichts."

Bronislaw Erlich wurde 1923 in Warschau geboren und überlebte unter falschem Namen als Zwangsarbeiter bei einem deutschen Bauern. Sein Vater Nachum, die Mutter Brandl und der jüngere Bruder Jakob wurden ermordet – wohl 1942 im Warschauer Ghetto oder in Treblinka. 1961 wurde Bronislaw Erlich von einem Berner Unternehmen als Fachmann der Druckindustrie angeworben. Später wurde er erfolgreicher Lieferant für polygrafische Maschinen. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, fünf Enkel und zwei Urenkel.

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