Menschen

Ich wurde in meiner lesbischen Beziehung vergewaltigt

"Ich dachte, Gewalt geht von Männern aus und richtet sich gegen Frauen. Das habe ich so verinnerlicht, dass mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, dass ich vergewaltigt wurde."
Alexandra Stanic
aufgeschrieben von Alexandra Stanic
Eine Frau und Scherben
Collage: imago images | Panthermedia / imago images | Blickwinkel || Bearbeitung: VICE

Wenn ich an meine letzte Beziehung denke, denke ich: Terror. Dabei fing alles gut an. Ich hatte noch nie so jemand Spannenden wie Lydia getroffen – und ich war ehrlich gesagt auch ein wenig geschmeichelt davon, dass eine 30-jährige Frau Interesse an mir hatte. Lydia und ich heißen eigentlich anders, aber unsere echten Namen möchte ich hier nicht nennen. Sie war dominant, ich schüchtern. Ich war 18, als ich sie an der Uni kennengelernt habe. Sie war Autorin, hat mich mit ihrer selbstbewussten, charmanten Art beeindruckt.

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Aber nach zwei, drei Monaten habe ich begriffen, dass etwas nicht stimmt. Diese Erkenntnis war ein schleichender Prozess, kein plötzlicher Knall. Das erste Mal bin ich skeptisch geworden, als sich Lydia eines Abends sturzbetrunken auf eine befahrene Straße gesetzt hat und nicht mehr weg wollte. Aus Jux. Sie hatte Bock, da sitzen zu bleiben, und meine Versuche, sie wegzuziehen, hat sie ignoriert. Ich weiß heute, dass ich mich schon zu dieser Zeit hätte trennen sollen.


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Lydia hatte ein schweres Alkohol- und Drogenproblem, das sie sich nicht eingestehen wollte. War um drei Uhr morgens kein Wein mehr da, mussten wir zur Tankstelle. Meistens hatte sie nach dem Feiern so schlimme Blackouts, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte. An einem Abend ist sie mit dem Fahrrad in die Böschung gestürzt, ein anderes Mal ist sie betrunken Auto gefahren, ihr wurde daraufhin der Führerschein abgenommen. Eines Nachts ist sie aus ihrem Hochbett gestürzt. Lydia hat nicht "über den Durst" getrunken, Lydia war Alkoholikerin. Und ich dachte, ich könnte sie mit meiner Liebe retten. So bin ich in eine Co-Abhängigkeit gerutscht, die mich zwei Jahre daran gehindert hat, mich zu trennen.

Wenn ich sage, dass in meinem Kopf das Wort "Terror" schrillt, wenn ich an Lydia denke, dann meine ich das auch so. Diese Frau hat mir Nacht für Nacht meine Ruhe genommen. Wenn sie betrunken heimgekommen ist, hat sie mich jedes Mal geweckt: um mehr Alkohol zu besorgen, um irgendetwas zu besprechen, um einen ihrer Essays zu korrigieren oder um mit mir zu schlafen – auch wenn ich das nicht wollte.

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Lydia hat mich immer dann körperlich missbraucht, wenn sie alkoholisiert oder auf Drogen war. Ich habe mich zwar gewehrt und Nein gesagt, aber das hat sie nicht akzeptiert. Irgendwann habe ich aufgehört, mich zu wehren. Ich dachte, das gehört in einer Beziehung dazu und wenn eine von beiden will, dann muss die andere eben die Zähne zusammenbeißen. Diese in Alkohol getränkten Nächte gab es immer wieder und immer wieder habe ich mich halbherzig gewehrt, aber hingenommen, dass sie mein Nein nicht hinnimmt. Ich habe mir später oft gedacht, dass ich mehr hätte machen müssen: laut werden, aus dem Bett springen, aufstehen und gehen, irgendetwas.

Aber ich habe – wie viele Frauen – nie gelernt, wütend zu sein. Ich habe nie gelernt, für mich einzustehen. Und ich war mir nicht bewusst, dass mich Lydia körperlich missbraucht.

Das Bewusstsein dafür hat mir aus zwei Gründen gefehlt: Wenn ich damals über Vergewaltigungen nachgedacht habe, war da immer das Bild vom fremden Mann, der mich nachts in den Busch zieht. Ich dachte, Gewalt geht von Männern aus und richtet sich gegen Frauen. Das habe ich so verinnerlicht, dass mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, dass Lydia gewaltvoll ist. Der zweite Grund ist, dass ich mir nicht im Klaren darüber war, dass dich jemand vergewaltigen kann, mit dem du zusammen bist. Ich dachte, es gehört dazu, dass man Sex hat, auch wenn man selbst nicht will. Der Liebe wegen. Lydia war meine erste Freundin.

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Erst im November 2017, zwei Jahre nach unserer Trennung, habe ich verstanden, dass Lydia mich vergewaltigt hat. Als ich mich nach zwei Jahren Terror-Beziehung endlich getrennt habe, war ich ein halbes Jahr später in einer psychosomatischen Klinik. Insgesamt war ich innerhalb von drei Jahren vier Mal dort. Erst durch die vielen Therapiestunden und Klinikaufenthalte habe ich verstanden, was mir passiert ist. Ich weiß jetzt, dass die Vergewaltigungen nicht meine Schuld waren; dass ich nicht "krank im Kopf" bin, wie es mir Lydia oft gesagt hat; dass Ohrfeigen im Streit niemals in Ordnung sind. Unsere Beziehung war toxisch: Lydia hat mich mehrmals betrogen. Sie hat mich wie ein Stück Scheiße behandelt, wenn ich nicht das getan habe, was sie wollte. Aber ich habe trotzdem an der Idee festgehalten, dass ich sie retten kann. Durch die Therapie habe ich verstanden, dass auch ich toxische Eigenschaften in dieser Beziehung hatte, ich bin durch das viele Betrügen zum Beispiel sehr eifersüchtig geworden. Aber das ist keine Rechtfertigung dafür, wie Lydia mit mir umgegangen ist.

Der Terror hat nicht aufgehört, als ich mich getrennt habe. Lydia hat mich mit Anrufen und Nachrichten überflutet, vor meiner Haustür auf mich gewartet. Es war so schlimm, dass ich das Haus kaum noch verlassen habe. Wenn jemand geläutet hat, bin ich in Panik ausgebrochen. Ich hatte in meiner alten Wohnung Milchglas an der Eingangstür, einmal habe ich jemanden vor der Tür stehen sehen: Ich habe mich daraufhin hinter der Couch versteckt. Die meiste Zeit habe ich alle Lichter in der Wohnung abgedreht und mich mucksmäuschenstill verhalten, damit sie nicht weiß, dass ich daheim bin. Jede Ecke in der Ortschaft in der Nähe von Hannover, in der wir zusammengelebt haben, hat mich getriggert.

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Noch heute bekomme ich es mit der Angst zu tun, wenn ich die Türklingel höre.

Wenn ich doch einmal draußen war, habe ich die Umgebung rund um ihre Wohnung gemieden, auch wenn das bedeutete, dass ich einen großen Umweg mit dem Rad gefahren bin. Ich bin nicht mehr zur Uni gegangen, habe kaum noch Freundinnen getroffen und mich zu Hause verbarrikadiert. Lydia ist ein Jahr später weggezogen, meine Angstzustände sind geblieben. Das war auch der Grund, warum ich nach Wien gezogen bin. Ich habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten. Noch heute bekomme ich es mit der Angst zu tun, wenn ich die Türklingel höre.

Vier Jahre ist unsere Beziehung her. Nicht nur die Türklingel versetzt mir noch immer einen Stich; vier Jahre später bin ich auch noch immer nicht fähig, intime Beziehungen zu führen. Lydia hat mein Liebesleben nachhaltig ruiniert. Ich schaffe es noch nicht einmal, Händchen zu halten. Nach der Trennung war das OK, weil ich dachte, ich brauche Zeit, um alles zu verarbeiten. Aber nach so vielen Jahren sehne ich mich nach Intimität, selbst wenn es nur ein One-Night-Stand ist – ich schaffe es aber einfach nicht. Alleine der Gedanke versetzt mich in Panik. Auch deswegen, weil ich noch immer mit Flashbacks zu kämpfen habe. Ganz viele Situationen mit Lydia habe ich vergessen und verdrängt, aus Selbstschutz. Trotzdem fehlt mir die körperliche Nähe. Vor ein paar Wochen hatte ich mein erstes Tinder-Date und nachdem die Frau und ich uns zwei Stunden lang nett unterhalten habe, musste ich das Treffen ohne wirklichen Grund abbrechen. Mein verstörtes Verhältnis zu Liebe und Intimität ist auch einer der Gründe, warum ich wieder in Therapie bin.

Das alles ist ermüdend und macht mich wütend. Anders als früher kehre ich die Wut nicht nach innen, ich hasse mich selbst nicht mehr für das, was passiert ist. Aber ich denke oft daran, dass ich Lydia gerne vor die Tür spucken würde – auch wenn ich weiß, dass das verschwendete Energie wäre. Ich habe den Schuhkarton mit Erinnerungen an Lydia vernichtet. In einer Therapiestunde habe ich eines der Bücher, die sie geschrieben hat, zerrissen. Das war ein befreiendes Gefühl, obwohl ich mir sehr sicher bin, dass sie sich noch nicht einmal bewusst ist, dass sie mich körperlich missbraucht hat. Sie konnte sich am nächsten Tag meistens an nichts mehr erinnern – nicht einmal an die ganzen heftigen Auseinandersetzungen.

Auch Frauen können gewaltvoll sein

Ich bin nicht nur wütend auf Lydia. Ich bin auch wütend auf die Gesellschaft, die Gewalt, die von Frauen ausgeht, unter den Tisch kehrt. Natürlich bin ich mir bewusst, dass die Statistiken für sich sprechen und Männer demnach häufiger gewalttätig sind. Ich weiß auch, dass die Machtstrukturen ganz anders sind und Männer von patriarchalen Verhältnissen profitieren. Aber auch Frauen können gewaltvoll sein; auch Frauen vergewaltigen; auch Frauen verüben verbale und psychische Gewalt. Mir hat dieses Bewusstsein gefehlt, um das gewalttätige Verhalten von Lydia als solches einzuordnen. Wenn über Gewalt gegen Frauen berichtet wird, kommt oft noch nicht einmal in einem Nebensatz vor, dass das zum Beispiel auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen passieren kann. Wenn Medien und Politik nicht darüber sprechen, dann fühlen sich Betroffene zwangsläufig alleine und im Stich gelassen. Das muss sich ändern. Hätte ich mit 18 mehr darüber gewusst, hätten meine Lehrer und Lehrerinnen in der Schule darüber gesprochen, hätten es Medien sensibilisierter aufgegriffen, wäre ich vielleicht gar nicht erst in der Situation gelandet. Ich hätte womöglich nicht zugelassen, dass Lydia mich vergewaltigt.

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