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Junge Russen haben uns erklärt, wie sie auf Instagram gegen die Polizei protestieren

Wir haben mit jungen Russen, die bei den Demos festgenommen wurden, über Korruption und Unrecht in Russland gesprochen.

Sie sind so jung, dass sie nicht mal Bartwuchs haben, und sie sind wütend. Ein paar tausend Demonstranten auf der Straße wären in anderen Staaten nicht weiter ungewöhnlich – in Russland ist das ein Schock. Das letzte Mal, dass so viele Menschen demonstrierten, ist schon sechs Jahre her – und damals reagierte das Putin-Regime mit aller Härte. Aber am vergangenen Sonntag sind laut behördlichen Angaben über 8.000 Menschen in Moskau gegen Korruption auf die Straße gegangen, die Organisatoren sprechen von über 25.000 Menschen in ganz Russland. Die Hälfte der Demonstranten war jünger als 30 Jahre, viele davon Schüler und Studenten im ersten oder zweiten Semester. Von der Demo in Tomsk gibt es ein Video, auf dem der Fünftklässler Gleb Tokmakov eine Rede mit Megafon hält und gegen die korrupte Regierung wettert: "Das Wichtigste ist, das ganzes Machtgefüge zu ändern; auch das Bildungs- und das Gesundheitssystem."

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Nicht wenige dieser jungen Menschen wurden festgenommen. Allein in Moskau waren unter den 1.000 Festgenommenen laut Angaben der Polizei 46 Minderjährige. In den sechs Jahren nach den Bolotnaja-Protesten hatten Demonstrationen in Russland etwas verzweifelt ausgesehen: Meistens kamen nur ein paar hundert ältere Leute zu angemeldeten Kundgebungen. Klar, es gab spektakuläre Kunstaktionen: Pussy Riot hat den Punk Prayer aufgeführt und und Pjotr Pawlenski die Tür des russischen Geheimdienstes angezündet. Aber abgesehen von einem Trauermarsch nach dem Mord an einem der wichtigsten oppositionellen Politiker, Boris Nemzow, herrschte vor allem politische Apathie.

Die alte Opposition der 90er und 2000er war zerstritten, tot, im Exil oder verängstigt. Wenn man die Leute in Moskau fragte, was sie von der Politik halten, sagten die meisten etwas wie: "Nicht so schlimm wie in den 90ern." Seit der Krim-Annexion kamen dazu noch ein paar Imperiums-Nostalgiker, die feierten, dass sie wieder auf ihrer Krim Urlaub machen können. Diese Mischung aus Patriotismus der Mehrheitsbevölkerung und Einschüchterung aller Andersdenkenden wirkte wie ein dicker Eisblock, der den politischen Status Quo in Russland konservierte.

Jetzt könnte es sein, dass das Eis zumindest ein paar Risse bekommt. Nachdem der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny und seine NGO ein Video über den russischen Premierminister Dimitri Medwedew veröffentlicht hatten, rief er zur Protesten gegen Korruption  auf.

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In dem Video sind Weinberge und Chateaus in Italien zu sehen, zwei Yachten und Villen in der Nähe Moskaus, die Medwedew gehören sollen. Eine davon hat ein sehr hübsches Gartenhäuschen – für die Zierenten, die Medwedew dort anscheinend zu seiner Belustigung halten lässt. In den Videos ist auch zu sehen, dass Medwedew eine Vorliebe für neue Nike-Sneaker hat.

Weil zumindest die Demonstration in Moskau kurzfristig abgesagt wurde, hatte Nawalny zum "Spazieren" in der Innenstadt eingeladen. In Anspielung auf die Zierenten und Sneaker brachten viele Demonstranten Gummienten und alte Turnschuhe mit, die sie über Stromkabel und Ampeln warfen. Einige hatten auch ihre Gesichter grün angemalt – in einer Anspielung auf ein kürzliches Farbattentat auf Nawalnys Gesicht.

Doch alle Demonstranten, die zu offensichtlich nach Kritik aussahen, wurden ziemlich schnell in die Gefängnis-Autos "Awtosak" der Polizei gesperrt. Darunter auch einige, die einfach nur Essen aus dem nächsten McDonalds holen wollten.

Die Jugend, die am Sonntag auf den Straßen war, wird oft als "Generation Putin" bezeichnet. Nicht, weil sie unbedingt Putin unterstützt, sondern weil sie nie jemanden außer Putin in dieser Rolle gesehen hat. Putins Regierungszeit ist in eine für Russland relativ stabile Zeit gefallen – so wie an Putin hat man sich auch an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt. Abgesehen davon, dass dieser Standard jetzt immer schwieriger zu halten ist, geht es den Jungen auch um Grundsätzlicheres: Wer hat die Macht? Wie kämpft man gegen die Korruption? Werden wir von alten Leuten regiert?

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Jetzt schwappt der Protest ins Netz über. Einige junge Menschen, die am Wochenender demonstrieren waren, haben unter #Awtosak Selfies aus den Gefängnis-Bussen auf Instagram gepostet – und in den Kommentaren darunter geht die Diskussion weiter. Wir haben mit ein paar Demonstranten gesprochen.

Alisa, 20, Bäckerin, und Mark, 23, Videoblogger, aus Krasnodar

VICE: War es eure erste Demo?
Alisa: Ja.
Mark: 2011 und 2012 war ich bei "Molodaja Gwardija" dabei ["die Junge Garde" ist eine Pro-Kreml Jugendbewegung, Anm. d. R.]. Ich habe für Putin Wahlwerbung gemacht und an regierungstreuen Aktionen teilgenommen. Nun bin ich auf der anderen Seite der Barrikaden.

Warum?
Mark: Ich bin eher kein Nawalny-Anhänger, aber ich habe verstanden, dass das heutige Regime für Unterdrückung, Mobbing und Heuchelei steht. Wenn man in einem normalen Staat friedlich auf eine Demo geht, weiß man, dass man keine Probleme kriegt. In Russland sind die Mächtigen bereit, jeden festzunehmen. Damit die Menschen Angst haben, etwas völlig Legitimes zu machen.
Alisa: Wir müssen unsere Leute unterstützen. Ich mag die Situation im Land nicht.

Wie hat euch die Polizei behandelt?
Alisa: Wir wurden nicht geschlagen. Sie haben nur unsere Pässe genommen und uns sie erst im Polizeiauto zurückgegeben. Aber vor uns waren da schon andere Demonstranten, die heftig verprügelt wurden.

Was denken eure Freunde und Verwandte über die Festnahme?
Alisa: Einige Freunde haben gesagt, es sei alles Schwachsinn und dass die Demo nichts ändern wird. Meine Mutter hat ruhig reagiert, weil ich ihr erst am nächsten Tag Bescheid gesagt habe.
Mark: Meine Freunde unterstützen mich, aber meine Familie fragt sich jetzt, wie sich die Festnahme auf meine Zukunft auswirkt.

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Nikita, 19, Student aus Moskau

VICE: War es deine erste Demo? 
Nikita: Es war die erste Massenaktion, die ich live gesehen habe. Vorher war ich kein richtiger Aktivist.

Warum bist du dann hingegangen?
Ich war mit einem Kumpel unterwegs und irgendwann haben wir uns einfach den Menschenmassen angeschlossen.

Warum wurdest du festgenommen?
Die Polizisten haben auf einen Typen gezeigt, der neben uns stand, und gesagt: "Du kommst mit uns." Als er festgenommen wurde, habe ich zufällig seine Jacke berührt. Der Polizist hat mich daraufhin auch gepackt und zum Polizeiauto gezerrt. Dabei hat er meinen Pullover zerrissen und war ziemlich aggressiv, auch wenn ich keinen Widerstand geleistet habe.

Hat er dich geschlagen?
Er nicht, aber als wir an einem Bereitschaftspolizisten vorbeigelaufen sind, hat einer von denen mir heftig in den Bauch geschlagen. Im Protokoll habe ich das nicht erwähnt, weil ich keine Beweise dafür habe und es niemand gesehen hat.

Auf dem Foto im Polizeiauto sieht du aber ganz fröhlich aus.
Ich habe den Mut nicht verloren. Ich war sicher, dass ich bald freigelassen werde, weil es ja keinen Grund gab, mich festzuhalten. Nach einer halben Stunde haben sie mich auch gehen lassen.

Julia, Tierärztin

VICE: Warum warst du am Sonntag protestieren?
Julia: In Russland ist man schon gewöhnt, dass die Mächtigen klauen. Aber bevor ich Nawalnys Film gesehen habe, konnte ich mir nicht vorstellen, wie viel! Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, wie man jetzt schweigen kann. Fast alle meine Bekannte sagen: "Na und? Ich kann eh' nichts machen. Wenn nicht der Gangster Medwedew, dann kommt ein neuer und klaut genauso. Außerdem ist das besser als ein Maidan wie in der Ukraine." Aber ich will, dass unsere Aktion Menschen dazu bewegt, auf weitere Demos zu gehen.

Wann und warum wurdest du festgenommen?
Mein Freund Schenja und ich wurden festgenommen, weil wir Protestplakate gehalten haben. Es gibt ein beliebtes Meme von einem Bären, der einer Frau "Schlampe" hinterherruft. Auf meinem Plakat hat er "Korruption" gerufen. Zwei riesige grobe Männer haben mich und Schenja zum Auto geschleppt. Ich habe "Hilfe!" gerufen und sofort einen Schlag mit einem Knüppel bekommen. In dem Moment war ich eher überrascht. Auf meine Frage, warum sie mich geschlagen hätten, hat er geantwortet: "Das war noch kein Schlag." Ein Polizist hat meinen Rucksack durchsucht. Dann haben sie mir den Ausweis abgenommen und mich ins Polizeiauto geschubst.

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Bist du selbst schon Korruption in Russland begegnet?
Ich bin doch nicht blind! Korruption ist eine Norm in unserer Gesellschaft. Als Schenjas Oma letztens einen Gehirnschlag hatte, meinten die Ärzte im Krankenhaus, sie hätten keinen freien Platz für sie. Erst nachdem Schenjas Familie Bestechungsgeld gezahlt hat, gab's plötzlich Platz. Ich persönlich habe noch niemanden bestochen.

Jegor, 17, Schüler aus Moskau

VICE: Was hat dich auf die Demo getrieben?
Jegor: Ich dachte, ich bin jetzt erwachsen genug, dass meine Meinung etwas bedeutet.

Warum wurdest du festgenommen?
Ich habe mit anderen laut Parolen gerufen. Wahrscheinlich sind sie deswegen auf mich aufmerksam geworden.

Wie ist die Polizei mit dir umgegangen?
Zwei Polizisten haben mich an den Armen gepackt, mich ins Polizeiauto gestoßen und meinen Ausweis kontrolliert. Da haben sie angefangen, miteinander zu diskutieren, was sie mit mir machen können. Ich sei wohl ja noch ein Kind und sie könnten deswegen Probleme kriegen. Ich kam dann trotzdem in einen Gefängnis-Bus. Erst war das OK, bis dann irgendwann 30 Leute im Bus saßen. Zu wenig Platz, die Fenster waren zu und dann kam ein Typ, der total nach Pfefferspray stank, und wir konnten nicht mehr atmen. Vier Stunden später durfte meine Mutter mich vom Polizeirevier abholen.

Wie hat sie reagiert?
Sie hat gesagt, sie sei stolz auf mich. Manche Freunde haben mich danach auch "Held" genannt, die wollen Nächstes mal unbedingt mitkommen.

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Was denkst du über die politische Lage in Russland?
Das Land erstickt in Korruption, Oligarchie und Vetternwirtschaft. Das liegt an der konservativen Mentalität, Jahrhunderten von Propaganda, Militarismus und Angst. Wir müssen die Regierung und die Medien komplett reformieren.

Hast du persönliche Erfahrungen mit Korruption?
Na ja, vor zwei Monaten wurden meine Freunde und ich schon mal festgenommen, weil wir nachts gefeiert hatten und die Nachbarn sich beschwert hatten. Meine Mutter kam uns abholen, aber der Polizist hat ihr direkt gesagt, dass sie erst 10.000 Rubel (150 Euro) auf den Tisch legen muss. Selbst damit ich mit 14 meinen ersten Pass bekomme, musste meine Familie auf dem Amt Geld auf den Tisch legen.

Hast du Angst vor Zensur?
Ne, im Internet kann man in Russland alles sagen.

Marianna, 22 Jahre, studiert klinische Psychologie

VICE: Warum bist du jetzt auf die Demo gegangen?
Marianna: Die Regierung hat versucht, die Recherchen über Medwedews Korruption einfach totzuschweigen. Ich sehe, dass Leute endlich Veränderungen wollen und bereit sind, dafür zu kämpfen. Mein Freund und ich wurden festgenommen, nur weil wir Turnschuhe in den Händen hatten und mitgelaufen sind.

Wie war eure Festnahme?
Gott sei Dank wurden wir nicht geschlagen, aber die Aggression konnte man deutlich spüren. Die Polizisten haben uns ausgelacht und sogar beleidigt. In dem Gefängnis-Bus saßen auch ein paar sehr junge Leute. Ihnen gegenüber waren die Polizisten ziemlich dreist und haben sie total eingeschüchtert.

Hast du selbst mal Korruption erlebt?
Ich wollte mich für eine öffentliche Kunstschule bewerben. Aber man kommt da nur rein, wenn man zwei Jahre lang teure Kurse besucht – oder nach einem Jahr ziemlich viel Bestechungsgeld bezahlt. Ich habe das nicht gemacht. Wenn es nochmal eine Demo gegen Korruption gibt, würde ich wieder hingehen.

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