Nackte Tatsachen: Bullenspringen und Auspeitschungen im äthiopischen Busch
Alle Fotos von der Autorin

FYI.

This story is over 5 years old.

äthiopien

Nackte Tatsachen: Bullenspringen und Auspeitschungen im äthiopischen Busch

Im Süden Äthiopiens beim Stamm der Hamar gibt es eine seltene Tradition, die nur schwer mit Tierschutz, Feminismus und unseren Vorstellungen vereinbar ist. Unsere Autorin war dabei.

Die Dämmerung ist bereits hereingebrochen, als Ukuli über den ersten Bullen springt. Umrundet ist der Junge dabei vom ganzen Dorf, das sich mit altehrwürdigem Gesang ekstatisch zu rhythmischem Klatschen bewegt. Sie alle sind gekommen, um ihm bei seinem Bulljumping beizustehen, ihm Mut zuzusprechen, ihn anzufeuern. Beim Bulljumping muss der Junge über Ochsenrücken balancieren. So beweist er dem Stamm seine Männlichkeit.

Anzeige

Ich befinde mich in Turmi, im südlichen Äthiopien. Über eine mehrtägige Anreise, tausende Kilometer auf buckligen Wegen, habe ich es zu einem der abgelegensten Punkte Afrikas und zu einem der interessantesten Menschenschläge geschafft. Arba Minch, die letzte größere Stadt in der Region bildet das Tor in eine großteils unerschlossene Welt, in der asphaltierte Straßen zu roten Sandpisten werden und die Grenze am Horizont liegt. Von hier sieht man bis nach Kenia.

Ukuli – textillos und sichtlich angespannt – trägt auf seinen Schultern eine große Bürde: Sollte ihm der Sprung nicht gelingen, würde dies nicht nur sein bevorstehendes Eheglück vorzeitig beenden, sondern auch Schande über seine ganze Familie bringen. Die Augen des gesamten Stammes verfolgen jede seiner Bewegungen. Ihre Erwartungen sind hoch. Sein Vater steht auf dem anderen Ende der aufgereihten Bullen und ruft ihm aufmunternd zu. Es ist ein Moment, der alles ändert und den Rest seines Lebens bestimmt. Er hüpft zum nächsten Bullenrücken, noch immer begleitet von dem zeremoniellen Lärm aus Gesang und Tanz; die Schellenbänder an Armen und Beinen des Publikums sind in ständiger Bewegung.


Aus dem VICE-Netzwerk:


Nach nur zehn Sekunden hat er die 15 Bullen das erste Mal überrannt. Ein kurzer Jubelschrei geht durch die Menge. Aber noch ist es nicht geschafft. Insgesamt muss Ukuli die Bullen drei Mal überlaufen. Er dreht sich um, schnauft kurz durch und setzt zum nächsten Sprung an. Man kann ihm die freudige Erwartung auf das Leben als vollwertiger Mann, als Oberhaupt einer Familie richtig ansehen.

Anzeige

Während sich der Süden ganz seinen indigenen Riten hingibt ist der Rest Äthiopiens, die Wiege der Menschheit, im kommerziellen Aufschwung. Äthiopien zählt zu den aufstrebenden und wachstumsstärksten Ökonomien am afrikanischen Kontinent. Dass alles im Umbruch ist, spürt man am stärksten in der Hauptstadt Addis Abeba, auch "Neue Blume" genannt. Wer sich hier aber Schönheit erwartet, wird bitter enttäuscht. Addis platzt aus allen Nähten. Seit den 1950ern hat sich die Bevölkerung verzehnfacht und der Smog umhüllt die fünfthöchste Hauptstadt der Welt wie eine riesige schwarze Gewitterwolke.

Während sich Europa und Amerika weitgehend aus Afrika zurückgezogen haben, nutzen China und Indien dieses Vakuum für ihre wirtschaftspolitischen Agenden. Hier in Addis reiht sich ein chinesisches Bauprojekt an das nächste – alles verbunden durch eine chinesische Straßenbahn. China ist auch erklärtes Vorbild der äthiopischen Regierung. Und während China fleißig weiterbaut und seine Muskeln spielen lässt, wird das Stadtbild weiter von Licht und Schatten geprägt. Neben Wolkenkratzern stehen Wellblechhütten; neben Luxushotels und Spas (in denen sich auch schon die Queen verwöhnen ließ) hausen Hunderttausende, die sich wenige Latrinen teilen müssen. Der augenscheinlichen Armut in Äthiopien steht ein aufrichtiger Stolz seiner Bewohnerinnen und Bewohner gegenüber, der vielleicht auch daher rühren mag, dass Äthiopien nie kolonialisiert wurde. Dieser Stolz wird umso spürbarer, desto weiter man in den indigenen Süden vordringt.

Anzeige

Zwei Männer, groß und muskulös und halbnackt, laufen auf uns zu. Um die Schultern tragen sie die Waffen ihres Stammes: zwei AK-47s, auch bekannt als Kalaschnikows oder die beliebtesten Sturmgewehre der Welt.

Hier bemerkt man auch wenig von den kommerziellen Bestrebungen, dem Smog und dem Aufschwung. Alles ist ein bisschen ursprünglicher. Auch am wöchentlichen Markt der Hamar, einer polygam lebenden Bevölkerungsgruppe, die sich durch ihre spezielle Haarpracht und Halsschmuck auszeichnen. In den Wirren des Marktes lerne ich einen Hamar-Mann namens Bruk kennen, der mir vom seltenen und unregelmäßig stattfindenden Initiationsritus, dem Bulljumping, erzählt. Da die Informationen zum Bulljumping auf Mundpropaganda basieren und nur sehr kurzfristig geteilt werden, ist diese Zeremonie für Touristen schwer zugänglich. "Es wird eine lange Fahrt", sagt er. "Der Stamm befindet sich tief im Busch – wir werden also eine Wanderung machen müssen. Und es besteht das Risiko, dass sie dich nicht dabeihaben wollen. Aber wenn du möchtest, machen wir uns auf den Weg." Natürlich will ich.

Über trockene Flussarme und kaum passierbare Wege erreichen wir den Punkt, an dem selbst unser Auto den Geist aufgibt. Durch meterhohes Gras, mitten im afrikanischen Busch, wate ich also mit dem unbekannten Hamar-Mann Bruk, der zu wissen scheint, wohin es geht. Es ist stechend heiß und nach einer Stunde Fußmarsch werden durch den Blätterwald Rauchschwaden erkennbar. Der Gesang und das Klingen der Schellen sind so laut, dass selbst der Wald die Geräusche nicht schlucken kann. Als ich die ebene, ungeschützte Fläche erreiche, entdeckt man uns sofort. Zwei Männer, groß und muskulös und halbnackt, laufen auf uns zu. Um die Schultern tragen sie die Waffen ihres Stammes: zwei AK-47s, auch bekannt als Kalaschnikows oder die beliebtesten Sturmgewehre der Welt.

Anzeige

Die Männer gestikulieren wild und mustern mich kritisch, während Bruk mir erklärt: "Faranschi, die Fremden, sind nicht immer gern gesehen. Sie würden deine Teilnahme an der Zeremonie aber akzeptieren, wenn du ihnen 15 Dollar gibst. Das Geld brauchen sie für die zwanzig Ziegen, die das Dorf für die Feierlichkeiten im Anschluss tötet."
Ich überlege. Hier prallen die Gegensätze aufeinander: Moderne und Tradition, Kalaschnikows und halbnackte Stammesmitglieder, die Bewahrung des Ursprünglichen und der Verzicht auf Moral gegen Geld. Aber ich bin als Besucherin zum Bullriding gekommen, nicht für überhebliche Gesellschaftskritik. 15 Dollar sind mein Golden Ticket.

Auffällig ist aber etwas ganz anderes: Ihre Rücken sind übersäht mit wulstigen, großen Narben. Die weiblichen Familienmitglieder lassen sich vor der Zeremonie des Bullensprungs nämlich von den Männern auspeitschen.

Kaum ist der Wegzoll bezahlt, sind alle sichtlich entspannter und ich kann mich ungehindert umschauen. Männer mit Kalaschnikows und Macheten sitzen unter einem Baum, ältere Frauen rühren das selbstgebraute Bier um, staubige Kinder liegen neben wilden Hunden am Boden – und das alles mitten im ohrenbetäubenden Lärm der üppig geschmückten Hamar-Frauen. Sie tanzen und hüpfen im Kreis, stoßen euphorisch in ihre Metallhörner, singen und summen in schrillen Tönen und rasseln mit ihren Schellen.

Auffällig ist aber etwas ganz anderes: Ihre Rücken sind übersäht mit wulstigen, großen Narben. Die weiblichen Familienmitglieder lassen sich vor der Zeremonie des Bullensprungs nämlich von den Männern auspeitschen. "Die Frauen machen das, um den Jungen bei dem bevorstehenden Sprung und in seinem weiteren Leben zu unterstützen", erklärt mir Bruk. "So wollen sie ihre aufrichtige Liebe beweisen."

Anzeige

Als nächstes treten fünf statuenhaft geschmückte, halb nackte Männer aus dem Wald hervor. Auf ihren rasierten Köpfen tragen sie ein Federband. Ihre Gesichter sind orange und weiß bemalt, um die Stärke der Leoparden zu symbolisieren. Sie haben den Sprung bereits hinter sich und sind in den Kreis der ehrhaften Männer aufgenommen worden. In ihren Händen tragen sie Holzruten. Eine der jüngeren Frauen nimmt mich bei der Hand und zerrt mich den Männern entgegen. Die gesamten Frauen umzingeln die Rutenmänner, ihre Schreie werden lauter. Sie betteln, schreien und flehen darum, einen Schlag abzubekommen. Alles traditionell verankert.

Während so mancher Mann etwas zaghaft mit den Auspeitschungen umgeht, holen andere ziemlich beachtlich aus. Trotz des schrillen Lärms höre ich wie die Ruten die Luft zerteilen und das Fleisch aufplatzten lassen. Auf den Rücken der Frauen bilden sich blutige Rinnsale, die zugleich mit Asche bedeckt werden um den Heilungsprozess zu verlangsamen. Narben gelten als Schönheitsmerkmal und je mehr, größer und schwulstiger die Narben, desto größer ihre Hingabe und damit auch ihr Ansehen.

Als die Dämmerung einsetzt und die Euphorie des Stammes vom selbstgebrauten Bier und den vorhergehenden Schlägen ihren Höhepunkt erreicht hat, werden die Rinder zusammengetrieben. Sie sind sichtlich nervös. Ihre Schreie vermischen sich mit den lauten Rufen und dem Gesang der Frauen zu einer Lärmwolke. Ein großer Mann mit Kalaschnikow weist mich an, auf der Seite zu bleiben. "Nicht selten werden Personen schon vor dem eigentlichen Sprung verletzt, weil die Bullen durchdrehen." Dankbar für den lebensabsichernden Tipp, bestaune ich das Schauspiel aus einigen Metern Entfernung.

Anzeige

Die Männer umzingeln die Rinder, ziehen sie gewaltsam an den Hörnern, Zungen, Schnauzen und Schwänzen. Je besser sie aufgestellt sind, desto leichter wird die Aufgabe für Ukuli. Mit Tritten und Schlägen werden die ängstlichen Tiere in Schach gehalten.

Im Gegensatz zu all den stark bemalten, behängten und gepiercten Menschen tritt Ukuli nackt aus dem Wald hervor. Ich sehe ihn zum ersten Mal und bin erstaunt, wie jung er ist. Als ich nach seinem Alter frage, schüttelt er schüchtern den Kopf – er weiß sein Alter nicht genau. "Ich glaube zwischen 10 und 15", sagt er. "Auf jeden Fall alt genug."

Der nackte Junge dreht sich sichtlich nervös Richtung Vieh und wappnet sich für seinen Sprung. Bevor er losläuft, holt er nochmals tief Luft und die gerade noch lautstarke Gesellschaft verstummt. Ukuli springt auf den ersten Bullen, der seine Anwesenheit kaum zu bemerken scheint. Mit ausgetreckten Armen, um die Balance nicht zu verlieren, läuft, stolpert und hastet er über die Rinderreihe und springt davon.

Alle Augenpaare verfolgen jede seiner Bewegungen, die Aufregung und der bald eintretende Stolz ist in die Gesichter des Publikums geschrieben. Der Prozess beginnt erneut und endet, als Ukuli vier erfolgreiche Sprünge absolviert hat. Die Menge bricht in Jubel aus. "Ukuli du bist ein Maza, ein echter Mann geworden", ruft sein Vater und läuft ihm entgegen.
Bruk erklärt mir, dass Ukuli nun neben seinem menschlichen Namen in Zukunft zwei weitere tragen wird; den eines Rindes und einer Ziege. Seine erste Gattin wird von seinem Vater für ihn ausgewählt, meist ist es eine Frau, die sich der Familie gegenüber besonders loyal gezeigt hat.

Der erfolgreiche Springer wird von den Frauen umarmt und geküsst. Andere junge Männer, die den Sprung ebenfalls hinter sich gebracht haben, klopfen ihm anerkennend auf die Schulter. Die Rinder zerstreuen sich im Busch. Der Stamm macht sich für die anschließenden Feierlichkeiten bereit; Bruk und ich treten unsere Rückreise an.

Auf der Fahrt zu unserer Unterkunft klingen noch die Schellen in meinen Ohren und ich versuche, mir einen Reim auf das Erlebte zu machen. Dass sich Frauen auspeitschen lassen, um ihrer Familie Anerkennung zu verschaffen ­– und Jungs nackt über Rinder laufen – fordert uns auf jeden Fall heraus, über unseren moralischen und kulturellen Kompass nachzudenken, der oft ausschließlich nach Westen zeigt. Aber was auch immer bei diesem Nachdenken herauskommt: Die Konfrontation mit so völlig anderen Bräuchen und Lebenswelten in derart starken Bildern ist eine Erfahrung, die man nicht bereut.

Folgt Andrea auf Instagram und VICE auf Facebook, Instagram, Twitter und Snapchat.