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Naturkatastrophe

So verrückt geht es in einem Frauen-Gefängnis während eines Hurricanes zu

Eine Insassin erinnert sich zurück an die Schreie eines Neugeborenen, an das knapp werdende Essen und an die Angst in den Augen der Aufseher.
Illustration: Ryan Inzana

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden, einer gemeinnützigen Nachrichtenorganisation, die sich mit dem US-amerikanischen Justizsystem beschäftigt.

Es ist drei Uhr nachts, als mich ein herumschreiender Aufseher weckt. Wir sollen schnell aufstehen und in den ersten Stock unseres Zellenblocks gehen. In der Ferne höre ich Donnergrollen. Dicke Regentropfen prasseln gegen das Fenster neben meinem Stockbett. Kurz darauf sagen uns die Aufseher Bescheid: Mit Hurricane Harvey sucht uns gerade eine Naturkatastrophe heim.

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Jemand sagt, dass es draußen eine Überschwemmung gibt. Kein Wunder. Die texanische Strafvollzugsbehörde hat unser Gefängnis, die medizinische "Carole Young"-Einrichtung, so gebaut, dass die Gehwege schon bei den leichtesten Regengüssen sofort unter Wasser stehen – für die vielen körperlich behinderten Insassinnen eine permanente Rutschgefahr.

Hierbei handelt es sich aber nicht nur um einen leichten Schauer. Es kommt so viel Wasser vom Himmel, dass es draußen aussieht, als würden wir uns mitten auf einem See befinden. Um zum Hauptgebäude zu kommen, müssen wir den einzigen Gehweg entlang durch knietiefes Nass waten. Für die Frauen in Rollstühlen und auf Krücken ist das ein offensichtliches Hindernis.

Eine Insassin weint hysterisch, weil sie Angst vor Wasser hat – der Aufseher bringt sie nicht dazu, auch nur einen Schritt nach vorne zu machen. Eine körperlich fitte Mitgefangene nimmt sie schließlich Huckepack und läuft los. Ich kümmere mich um eine Insassin im Rollstuhl und schiebe sie vor mir her. Schließlich haben wir alle die knapp 70 Meter hinter uns gebracht und befinden uns im größeren und vor allem sichereren Hauptbereich des Gefängnisses.


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"Hey Boss, was ist da draußen los?", will ich von einem Aufseher wissen. "Sind wir in Gefahr? Wie lange müssen wir hier bleiben? Verlassen wir das Gefängnis?" Anstatt zuzugeben, dass er keine Ahnung hat und dass es für solche Extremfälle keinen Plan gibt, ignoriert er uns einfach.

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Nach ein paar Stunden haben wir alle trockene und nicht passende Klamotten an und die 300 Frauen aus den ebenerdigen Zellenblöcken plus 150 mehr aus dem Krankenbereich drängen sich auf den Fluren und in den Zimmern und Zellen des ersten Stocks. Es heißt, dass niemand vom Aufsichts- und Pflegepersonal gehen dürfe. Wegen der Überschwemmungen kommt man wohl nicht mehr vom Gefängnis weg. Das bedeutet gleichzeitig, dass auch niemand mehr herkommen kann.

Die leitende Aufseherin unseres Zellenblocks hatte die ganze Zeit keine Gelegenheit dazu gehabt, kurz zu schlafen, etwas zu essen oder ihre Familie anzurufen. Sie muss aufs Klo, aber es ist niemand da, um schnell die Aufsicht für sie zu übernehmen. "Benutz doch einfach unsere Toiletten", sage ich zu ihr. "Und ich schaue, dass keine anderen Aufseher reinkommen." Eigentlich ist so etwas nicht erlaubt, weil die Wärterin so im Falle eines Angriffs auf sich alleine gestellt wäre. "Keine Chance, das ist ja richtig eklig!", antwortet sie. "Na gut, wie du meinst", sage ich und lege mich zurück auf mein provisorisches Bett.

Ich verstecke etwas Kaffee, ein Bild meiner Familie und ein paar Packungen Ramen-Nudeln zwischen meinen Höschen und mache mich auf den Weg.

Der Regen hört auch in den darauffolgenden zwei Tagen nicht auf. Das bedeutet, dass immer das gleiche Wachpersonal da ist. Die Aufseher und Aufseherinnen duschen in einem Stockwerk über uns und schlafen abwechselnd in leeren Zellen. Wir müssen die ganze Zeit in unseren Zellen bleiben, dürfen keine Nachrichten schauen und sorgen uns um unsere Familien. Außerdem teilt man uns diverse Aufgaben zu. Ich muss das ohne Unterbrechung eindringende Wasser aufwischen.

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Als es endlich nicht mehr regnet, stürmt ein Leutnant zusammen mit mehreren Aufsehern unser Schlaflager und weist uns schreiend an, unsere Sachen zusammenzupacken, weil wir aufbrechen müssten. "Wohin gehen wir denn? Warum erst jetzt die Vorsichtsmaßnahmen?", frage ich mich still.

Um mich herum beschweren sich andere Insassinnen, dass sie nicht all ihre Sachen mitnehmen könnten. Und es stimmt, nur wenige Frauen hier haben genug Kraft, um ihr Hab und Gut zu schleppen. Immerhin befinden sich in der Carole Young Medical Facility ungefähr hundert schwangere Insassinnen und noch hundert weitere, die entweder körperlich behindert sind, an einem Dialyse-Gerät hängen oder gerade eine Chemotherapie machen.

Die leitende Aufseherin teilt dem Leutnant per Funk von dem Problem mit. Kurz darauf kommt der zu uns zurück und sagt, wir sollten die Sachen, die wir nicht mitnehmen können, auf den Betten liegen lassen, damit sie nicht nass werden. Außerdem dürfen wir jetzt nur noch eine kleine Tüte mit Hygieneartikeln, Schreibmaterialien und Unterwäsche packen. Ich verstecke etwas Kaffee, ein Bild meiner Familie und ein paar Packungen Ramen-Nudeln zwischen meinen Höschen und mache mich auf den Weg.

Langsam aber sicher geht uns das Essen aus. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft wir in den letzten Tagen lediglich Cornflakes vorgesetzt bekamen.

Dann bekomme ich bruchstückhaft mit, wie die Aufseher per Funk erfahren, dass die Mauern eines nahegelegenen Wasserspeichers aufbrechen könnten. "Alle in einer Reihe vor den Aufzügen aufstellen", ruft der Leutnant immer wieder. Eine Frau will wissen, ob sie ein Bild ihrer Kinder mitnehmen darf. "Was zum Teufel ist an 'Hygiene, Schreibmaterial und Unterwäsche' so schwer zu verstehen?", schnauzt der Leutnant zurück und schmeißt dabei ihren Beutel zur Seite. In seinen Augen kann ich sehen, dass auch er Angst hat.

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Plötzlich gibt es wieder neue Anweisungen. Unser oberster Aufseher taucht auf und teilt uns Plätze zu, an denen wir uns hinsetzen sollen. Raus gehen wir auf keinen Fall mehr. Wenige Stunden später kommt ein Aufseher von zu Hause ins Gefängnis und weiht uns endlich über die Lage draußen ein. Laut ihm habe der Regen den Wasserspeicher komplett aufgefüllt und die US Army glaubt, dass die Dämme brechen könnten. Es kommen jedoch keine Busse, um uns abzuholen.

Und wenn keine Busse herkommen können, sieht es auch für die Versorgungstrucks schlecht aus. Das Essen geht uns aus. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft wir in den letzten Tagen lediglich Cornflakes vorgesetzt bekamen. Angst überkommt mich. Ich schaue aus dem Fenster und stelle mir vor, wie sich eine Wasserwand auf uns zubewegt und mich über den Gefängniszaun fortspült. Würde man mir dann einen absichtlichen Ausbruch vorwerfen?

Dickinson ist schon längst eine Geisterstadt. Wir sind die einzigen Menschen, die noch übrig sind.

Inzwischen gehen absurde Gerüchte von einem hochrangigen Regierungsbeamten herum, der uns alle auf einmal begnadigen und auf eigenes Risiko in die Freiheit entlassen könnte. Aber wie würde das dann aussehen? 450 Straftäterinnen – viele davon körperlich behindert oder krank – strömen durch das Gefängnistor in Richtung der texanischen Kleinstadt Dickinson, um zusammen mit den Einwohnern evakuiert zu werden? Natürlich wird es nie soweit kommen, Dickinson ist schon längst eine Geisterstadt. Wir sind die einzigen Menschen, die noch übrig sind.

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Ich beneide die Insassen der drei nahegelegenen Männergefängnisse, die schon längst evakuiert wurden. Sie liegen bestimmt schon sicher und trocken irgendwo weit weg von Hurricane Harvey auf einer Turnmatte in einer großen Sporthalle. Keiner von ihnen muss sich Sorgen machen, jeden Moment sterben zu können.

Etwas später bekommt eine Insassin ihre Wehen und das medizinische Personal wählt den Notruf. Es kann jedoch niemand kommen. "Ihr seid doch eine medizinische Einrichtung", sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung. "Bringt das Baby selbst auf die Welt." Nach ein paar Stunden hallen die Schreie eines Neugeborenen durch die Flure.

Viele von uns haben so etwas schon lange nicht mehr gehört. Und manche werden das nie wieder tun. Für Frauen, die im Gefängnis sitzen, hat dieses Geräusch etwas sehr Sentimentales an sich. Während unser eigenes Schicksal im Chaos von Hurricane Harvey mehr als ungewiss erscheint, zeigt uns das Baby doch wieder auf, wie wertvoll das Leben eigentlich ist.

Die 35 Jahre alte Deidre McDonald sitzt im texanischen Carole Young Complex ihre 30-jährige Haftstrafe ab, zu der man sie wegen Geldfälschung verurteilt hat.

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