Armut, Arbeitslosigkeit und schnelles Internet: Das Sexcam-Geschäft boomt in Rumänien
Maria, Inhaberin einer der größten Sexcam-Firmen Rumäniens, an ihrem Schreibtisch | Alle Fotos: Mircea Topoleanu

FYI.

This story is over 5 years old.

Sex

Armut, Arbeitslosigkeit und schnelles Internet: Das Sexcam-Geschäft boomt in Rumänien

Oft gehen junge, mittellose Frauen Ausbeutern auf den Leim, die ihnen keinen Cent zahlen. Andere verdienen pro Woche mehr als so manche Rumänin im Jahr.

Eine Frau in einem Bodysuit aus schwarzem Samt sitzt im Schneidersitz auf dem Bett. Das Zimmer im Live-Feed sieht nach Hotel aus, in Wirklichkeit ist es in einem rumänischen Filmstudio. Die Frau balanciert ihren Laptop auf dem Schoß.

Sekunden später taucht eine Nachricht in der Kommentarspalte des Live-Feeds auf. "Ich brauche zwar ein paar Tage bis nach Rumänien", schreibt einer der Zuschauer, "aber wenn ich endlich dort bin, spieße ich dich auf wie Vlad."

Anzeige

Der walachische Woiwode Vlad III., besser bekannt als Dracula, soll Tausende Männer, Frauen und Kinder zu Tode gefoltert haben, indem er sie auf Pfähle spießen und qualvoll verenden ließ. Das Camgirl im Samtanzug lächelt verführerisch, bevor sie ihre Antwort eintippt. Die roten Fingernägel huschen über die Tasten: "Ride me: yes, cum: no – haha", schreibt sie.

Das Angebot auf einer rumänischen Sexcam-Seite

Die rumänische Sexcam-Industrie soll jährlich etwa 300 Millionen Euro Umsatz machen. Wenn das stimmt, wäre das der lukrativste Sexcam-Markt Europas. VICE hat mit Branchenkennern gesprochen, die von landesweit 5.000 Studios ausgehen, mit etwa 100.000 Models.

In den Augen der rumänischen Regierung gibt es diese Industrie gar nicht. Sexcam-Firmen sind zwar nicht illegal, aber die Regierung gibt den Unternehmern keine eigene Gewerbenummer, wie sie Firmen aus anderen Branchen für Steuerangelegenheiten und Bezüge bekommen. Unter anderem deswegen sind viele Studios offiziell Model-Agenturen oder Callcenter. Auf die Frage, weshalb die Regierung Sexcam-Firmen nicht als richtige Firmen einstuft, gab das rumänische Arbeitsministerium VICE keine direkte Antwort.

Diese Grauzone bedeutet, dass die Branche keinerlei Regeln unterliegt. Gleichzeitig kann der Staat unmöglich wissen, wie groß das Sexcam-Gewerbe ist.

"Wir wollen die Regierung nicht anlügen, aber wir sehen keinen anderen Weg", sagt Maria, die Geschäftsführerin eines der größten Sexcam-Studios in Bukarest. "Wir wollen keinen Ärger. Aber wenn wir nicht die falsche Kennnummer benutzen würden, könnten wir keine staatliche Unterstützung fordern."

Anzeige

Vera Renczi (links) arbeitet seit einigen Jahren als Camgirl

Rumänien sei aus drei Gründen Marktführer im Sexcam-Gewerbe, erzählt Maria: Die Bevölkerung ist arm, es gibt viele arbeitslose Frauen mit Englischkenntnissen, und das rumänische Internet ist extrem schnell – unter anderem, weil bisher nur so ein kleiner Teil der Bevölkerung online ist.

Etwa 15 Prozent aller jungen Rumäninnen und Rumänen sind arbeitslos. So können Studios leicht Studierende und neue Absolventen anlocken. Die Firmen winken mit Verträgen und versprechen Einkommen weit über dem rumänischen Mindestlohn – zurzeit liegt der bei 1.221,97 Lei, das sind etwa 264 Euro.

"In Rumänien gibt es kaum Karrierechancen", sagt Vera Renczi, die seit mehreren Jahren als Camgirl arbeitet. "Wir sind ein armes Land." Sie studierte ursprünglich Fotografie in Cluj-Napoca, einer großen Stadt im Nordwesten des Landes. Sie habe sich die nötige Foto-Ausrüstung nicht leisten können und daraufhin einen Vertrag mit einem Studio unterschrieben.

Maria (ganz links) besitzt eines der größten Sexcam-Studios in Rumänien. Dort bietet sie Camgirls Zugang zu einem eigenen Haar- und Nagelsalon

"Wir machen eure Träume wahr", verspricht die Website von Marias Studio den jungen Frauen und Männern. "Du wirst dir kaufen können, was auch immer du möchtest. Du wirst leben wie ein Filmstar." Gerade kleinere Studios können solche Versprechen nicht halten, die Camgirls und Camboys geben schnell wieder auf. So entsteht eine hohe Fluktuationsrate.

Das hat das Webcam-Gewerbe mit vielen anderen unkontrollierten Gewerben gemeinsam. Vera sagt, ständig gebe es neue Sexcam-Studios, die nur eins wollen: mittellose Frauen ausbeuten. Diese Studios würden lukrative Verträge versprechen und dann entweder den Frauen die Bezahlung verweigern, oder sich gleich unter neuem Namen woanders niederlassen.

Anzeige

"Es ist wirklich schwierig, damit etwas zu verdienen", sagt Vera bei einer Tasse Tee in ihrer Küche in Bukarest. Ihr Arbeitsplatz ist nur ein paar Meter entfernt, Vera hat sich als Camgirl selbstständig gemacht und arbeitet in ihrem eigenen Schlafzimmer. Früher arbeitete sie für ein großes Studio, wo sie den Neuen die Tricks der Branche beibrachte.

Maria spricht im Wartebereich ihres Studios mit ihren Angestellten

Vera sagt, der Schlüssel zum Erfolg als Camgirl sei es, sich um loyale Stammgäste zu bemühen. Dazu müsse man auch erkennen, was sich der Kunde wünscht. "Manchmal musst du auch ein paar Dutzend Mal vor jemandem masturbieren, bevor er sich für dich erwärmt", sagt sie.

Ideal sei es für ein angehendes Camgirl, wenn sie mindestens eine Fremdsprache beherrsche und ein gutes Gespür für viele Kulturen habe, sagt Vera. Manche Studios investieren sogar in eigene Beauty-Salons und Fitnessstudios; Englischunterricht gehört bei den meisten zum Standard.

"Masturbieren dauert maximal fünf bis sechs Minuten", sagt sie. "Was machst du also während der restlichen Stunde? Du musst interessant, betörend und erreichbar wirken." Zum Beispiel müsse man wissen, wie man mit einem Arzt spreche, der einen schlechten Tag hat, oder mit einem angehenden Musiker.


Auch bei VICE: Chinas Webcam-Industrie – Der moderne Goldrausch


Ihre Kunden seien Männer, die ihre Fantasien nicht im echten Leben ausleben könnten, sagt sie. "Viele können ihrer Freundin oder Frau nicht ihre tiefsten, dunkelsten sexuellen Wünsche verraten", sagt sie. "Wir verdienen Geld damit, dass wir alles akzeptieren."

Anzeige

LiveJasmin ist eine der weltweit beliebtesten Sexcam-Seiten. Sie hat ihren Sitz an der Piața Muncii, einem zentralen Platz in Bukarest. Täglich besuchen sie etwa 2,4 Millionen Kunden – aktuell belegt LiveJasmin damit Platz 63 der meistbesuchten Websites der Welt. Die Website unterscheidet sich in einem Punkt von vielen anderen Seiten: Die Frauen dort ziehen sich nur in Privatsessions für den Kunden aus. Eine solche Session kostet 100 Euro für 10 Minuten.

Dazu sagt LiveJasmin "Girlfriend Package", denn die Firma trimmt die Camgirls darauf, auch Gespräche und Rat zu alltäglichen Themen zu bieten. Sexuelle Dienstleistungen stehen natürlich nach wie vor im Vordergrund. Dafür strippen die Frauen und masturbieren mit Vibratoren, die der Kunde per Fernsteuerung kontrolliert.

Penelope (links) und Lexy (Mitte), zwei der gefragtesten Camgirls auf LiveJasmin

Perfect Lexy ist zierlich und trägt ihr Haar rot gefärbt und kurz. Sie arbeitet seit vier Jahren für LiveJasmin. Dafür hat sie ihren Autofabrik-Job in einer südrumänischen Kleinstadt an den Nagel gehängt. Der brachte ihr etwa 1.000 Lei (215 Euro) im Monat. Vor ihrem Gespräch mit VICE hatte sie eine Acht-Stunden-Schicht vor der Kamera, die ihr umgerechnet etwa 1.360 Euro eingebracht habe.

"Heute war ich den ganzen Tag angezogen", freut sich Lexy. "Ich hatte die ganze Zeit eine Privatsession mit einem meiner besten Stammkunden – ein Chinese, den ich seit mehr als einem Jahr auf der Seite 'date'." Während der acht Stunden hätten die beiden sich unterhalten, zu Mittag gegessen und sogar ein Nickerchen gemacht.

Anzeige

"Wir haben so etwas wie eine Beziehung aufgebaut", erzählt sie. "Ich bin ihm wirklich wichtig." Vor ein paar Tagen habe er ihr gesagt, es sei ihm gar nicht so wichtig, sie nackt zu sehen – für so was könne er ja Pornos schauen. "Er will, dass wir eine emotionale Verbindung haben."

Ein "Schlafzimmer" in Marias Sexcam-Studio

Dass ein Kunde sich in ein Model verliebt, komme gar nicht so selten vor, sagt Lexy. Manchmal werde das Verhältnis so schwierig, dass die Frauen es beenden müssen. Wie bei dem Amerikaner, der mit Suizid drohte, falls Lexy sich nicht bereiterklärte, sich mit ihm zu treffen.

In anderen Fällen treffen die Camgirls nicht nur ihre Kunden, sondern heiraten sie sogar. Ein Ex-Camgirl von LiveJasmin ist vor Kurzem nach Dubai gezogen, um dort bei einem Kunden zu leben. Eine andere Frau fing eine Beziehung mit einem Zuschauer an, der nach Rumänien reiste, um ihr einen Antrag zu machen – ohne zu wissen, dass sie bereits verheiratet war.

Ana (links) mit Dylan (rechts), der sagt, er verdiene bis zu 9.600 Euro am Tag

Die Branche expandiert rapide und umfasst immer mehr männliche Models. Ana besitzt das einzige Bukarester Sexcam-Studio, das ausschließlich mit Männern arbeitet. Etwa 20 Männer teilen sich die drei täglichen Schichten, sieben Tage die Woche.

Bevor sie das Studio eröffnete, hatte Ana selbst einige Jahre als Camgirl gearbeitet. Dann sei ihr aufgegangen, wie viel Potential es auf dem männlichen Markt gebe. Der 21-jährige Dylan Green ist ihr erfolgreichster Camboy. 2017 gewann er den Titel des besten Männermodels auf dem Bucharest Summit, der wichtigsten Preisverleihung der rumänischen Sexcam-Industrie.

Anzeige

Dylan fing mit 18 Jahren als Camboy an, damals war er noch Schüler. Ein Freund hatte ihn im Fitnessstudio darauf angesprochen. In der Hoffnung auf viel Geld und ein spannendes Abenteuer stellte er sich gleich am nächsten Tag bei Ana vor.

Dylan trägt den Helm seines Gladiatoren-Kostüms

Er hatte noch keine Ahnung, was er vor der Kamera tun sollte, und verließ sich auf Google Translate, um mit seinen Kunden zu kommunizieren. Trotzdem verdiente er am ersten Tag etwa 40 Euro. Heute, drei Jahre später, können es bis zu 9.600 Euro am Tag sein, sagt er.

Dylan behält 75 Prozent seines Verdienstes, der Rest geht an Anas Studio. Er arbeitet sechs bis sieben Stunden am Tag. Das heißt, er tanzt, lässt die Muskeln spielen und masturbiert, manchmal im Gladiatoren-, Gorilla- oder Superman-Kostüm. Dylan hat eine treue Stammkundschaft, oder "Fans", wie er sie lieber nennt. Sie warten jeden Tag zur selben Zeit auf ihn, als wäre er ihre Lieblingssendung im Fernsehen.

"Die meisten Mitglieder sind reiche, verheiratete Männer, die ihre schwulen Fantasien ausleben wollen", sagt Dylan. "Sie kommen hierher, um sich davon abzuhalten, ihre Frauen zu betrügen."

Dylan ist selbst nicht schwul, aber seine Kunden sehen gern darüber hinweg. "Ich bin hier, um zu träumen", zitiert Ana einen Kunden. "Die Realität ist mir eigentlich egal."

Dylan meint, sein Erfolg rühre daher, dass er seinen Job gern mache und nicht nur des Geldes wegen dabei sei. Anderen Camboys rät er, sich mit ihren Kunden anzufreunden. Sie sollen mit ihnen zu sprechen, als wären sie Kumpels. "Ich sage ihnen immer, dass sie ihre Fans nicht als wandelnde Geldbeutel sehen sollen", erklärt er, "sondern als Menschen." Ob diese Sichtweise auf Gegenseitigkeit beruht oder nicht.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.