Drogen

Menschen mit Sozialphobie nehmen MDMA, um ihre Angst zu besiegen

Zusammen mit der richtigen Therapie sollen Psychedelika eine vielversprechende Behandlungsoption darstellen. Ohne professionelle Hilfe kann das Ganze aber schnell sehr gefährlich werden.
Illustration einer Frau, die sich ängstlich einer Menschengruppe nähert
Illustration: Lia Kantrowitz 

Chris sind große Menschenmengen unangenehm. Er hängt viel lieber mit seinen besten Freunden im kleinen Kreis ab. Als junger Mann, der im Herzen Londons lebt, kann er Partys und Veranstaltungen aber kaum entfliehen. Seine bisherige Lösung: viel Alkohol.

Das änderte sich, als Chris, der eigentlich anders heißt und hier anonym bleiben möchte, zum ersten Mal MDMA probierte. Damals war er 18 und hatte das Gefühl, eine Lösung gefunden zu haben. "Alles fühlte sich plötzlich anders an. Bald glaubte ich, MDMA zu brauchen, um mich überhaupt wohlzufühlen", sagt Chris, der inzwischen 37 ist.

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Die Angst, die Chris in sozialen Situationen verspürte, ist weit verbreitet. In Deutschland leben etwa drei Millionen Menschen mit der Diagnose Sozialphobie, in den USA sind es 15 Millionen. Bei dieser Art der Angststörung denken Betroffene ständig darüber nach, was andere Leute über sie denken, und machen sich Sorgen, etwas Dummes zu sagen oder tun.

Viele Menschen greifen auf Alkohol als flüssigen Mut zurück. Inzwischen werden aber auch Psychedelika wie MDMA, Magic Mushrooms, Ketamin oder LSD als soziales Schmiermittel immer beliebter. Diese Drogen sollen den Betroffenen beim Umgang mit anderen Menschen helfen, ob auf einer Party, bei einem Konzert oder einem Job-Event.

Die positivste Wirkung können solche Drogen haben, wenn sie ihm Rahmen einer Psychotherapie konsumiert werden. In den letzten Jahrzehnten haben Therapeuten schon öfter MDMA eingesetzt, um das psychische Wohlbefinden von Patienten zu verbessern. Weil diese Droge und andere Psychedelika heutzutage allerdings illegal sind, experimentieren viele Leute – trotz aller Risiken – auf eigene Faust.

Wir befinden uns inmitten einer psychedelischen Renaissance. Die illegalen Drogen, die früher vor allem als Teil der Rave- und der Hippiekultur galten, sind jetzt Gegenstand klinischer Studien an den besten Universitäten der Welt. In den Forschungsergebnissen verdichten sich die Hinweise, dass Psychedelika etwa bei der Behandlung von Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen oder Angstzuständen helfen. Wie sieht es also mit Sozialphobie aus?

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Das steigende wissenschaftliche Interesse an den Substanzen führt dazu, dass wir immer besser verstehen, was sie im Gehirn verursachen und woher die Wirkung kommt, die Menschen wie Chris bemerken. "MDMA hat alle meine Beziehungen neu definiert", sagt er. "Ich kann mir kaum vorstellen, wie mein Leben ohne es verlaufen wäre."


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Der Pharma-Konzern Merck stellte MDMA 1912 zum ersten Mal künstlich her, ausprobiert wurde die Droge aber erst in den 1970er Jahren. Alexander Shulgin, ein Chemiker aus Kalifornien, gab das Versuchskaninchen und schrieb über seine Erfahrung: "Ich fühle mich innerlich absolut rein, da ist nichts als pure Euphorie. Ich habe mich noch nie so großartig gefühlt und hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist. Die Tiefsinnigkeit dieser Erfahrung ist überwältigend."

Shulgin erzählte dem Psychotherapeuten Leo Zeff, der schon andere Psychedelika ausprobiert hatte, von der Droge. Von 1977 bis 1985 gab Zeff daraufhin rund 4.000 seiner Patienten MDMA und zeigte mehr als 150 anderen Therapeuten, wie man damit arbeitet. Kurz bevor MDMA im Jahr 1985 illegal wurde, fand die Konferenz "MDMA in Psychotherapy" statt. Dabei diskutierten Therapeuten und Therapeutinnen darüber, wie das Mittel Emotionen intensiviert, Verdrängtes freilegt und Menschen dazu bringt, sich zu öffnen.

In den 60ern fand der Psychiater Claudio Naranjo heraus, dass Menschen in der Gruppentherapie einander schneller vertrauen und mitfühlender sind, wenn sie MDMA genommen haben. Ungefähr zur selben Zeit entdeckte man die Droge daher auch für die Paartherapie. Der Psychiater Rick Ingrasci behandelte 100 Patienten mit MDMA, ungefähr ein Drittel davon Pärchen. Er schrieb, MDMA nehme Betroffenen die Angst davor, mit anderen Leuten und sich selbst ehrlich zu sein.

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"Im Grunde gibt es für eine Therapie nichts Besseres als MDMA", sagte die Psychiaterin Julie Holland im April gegenüber dem Guardian. Dennoch wurde die Droge 1985 – auch trotz des Protestes vieler Mediziner – verboten. Das brachte die Forschung zum therapeutischen Nutzen zum Stillstand.

Als Greg Ferenstein, ein Datenwissenschaftler aus San Francisco, zum ersten Mal MDMA nahm, erwartete er anfangs noch eine ähnliche Erfahrung wie bei Alkohol – nur eben intensiver. Doch dann fing er an, über seine Gefühle auszupacken: "Ich redete über die intimsten Dinge meines Lebens und zeigte meine Wertschätzung für meine Freunde auf eine Art, die ich selbst nicht ganz verstand", sagt Ferenstein. "Mich überkam eine warme Welle des Glücks. Ich wollte meinen Freunden zeigen, wie dankbar ich ihnen bin, und ganz tiefgründig über mich selbst reden."

Obwohl MDMA immer noch illegal ist, sind diese Wirkungen weithin bekannt. Ferenstein sagt, er nehme in vielen Situationen – etwa Meetings bei der Arbeit – verschiedene Psychedelika, um besser mit anderen Leuten umzugehen. Vor den Drogen habe er sich zwar nicht gefühlt, als habe er eine starke Sozialphobie, aber jetzt sei er ein besserer Zuhörer und weniger egoistisch. "Ich weiß, dass eine psychedelische Droge wirkt, wenn ich nicht mehr dauernd über mich selbst reden will", sagt er.

"Mich überkam eine warme Welle des Glücks. Ich wollte meinen Freunden zeigen, wie dankbar ich ihnen bin, und ganz tiefgründig über mich selbst reden."

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Es sei inzwischen schon länger normal, Sozialphobie mit Psychedelika zu behandeln, sagt Guy Jones. Der Chemiker arbeitet für The Loop, eine Non-Profit-Organisation, die bei Festivals und anderen Veranstaltungen in Großbritannien Drug-Checking durchführt. "MDMA ist bekannt für die zwischenmenschliche Wirkung. Ich habe auch schon mit Leuten geredet, bei denen Psychedelika zu langfristigen Verbesserungen im nüchternen Zustand geführt haben – dank der intensiven Selbstreflexion im Rausch", so Jones.

Es gibt nur eine aktuelle Studie speziell zu Sozialphobie und der Wirkung von MDMA. Dahinter steht die Psychologin Alicia Danforth, die zu MDMA und Therapien mit Psilocybin-Unterstützung forscht. Am Harbor-UCLA Medical Center in Los Angeles haben Danforth und ihre Kollegen letztes Jahr autistischen Erwachsenen in einem randomisierten Doppelblindexperiment mit Placebos MDMA verabreicht.

Menschen mit Autismus leiden oft an moderater bis schwerwiegender Sozialphobie, so Danforth, daher bestehe hier besonderes Interesse für die Forschung.

Das Ergebnis der Studie: Bei vielen Probanden, die während der Therapie MDMA nahmen, gingen die Symptome der Sozialphobie schnell und langfristig zurück. "Selbst heute, Jahre nach der Behandlung, erzählen einzelne Probanden, dass sie an der Universität, bei der Arbeit, in Beziehungen oder im Alltag weniger Sozialphobie verspüren", sagt Danforth.

Inzwischen untersuchen Forschende auch wieder häufiger die Wirkung von MDMA, Psilocybin und LSD auf gesunde Probanden. So erfahren wir nach und nach, warum diese Drogen bei Sozialphobie helfen: Sie fördern positive Emotionen, sie mindern, wie stark wir negative soziale Reize – etwa wütende oder angsterfüllte Gesichtsausdrücke – wahrnehmen, und lindern den psychischen Schmerz der Zurückweisung.

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In einer Studie aus dem Jahr 2013 stellten Forschende fest, dass Ketamin und Psilocybin die Reaktion im Gehirn auf neutrale und angsterfüllte Gesichter verändern. Die Probanden, die Drogen genommen hatten, brauchten länger, um auf Bildern von Menschen mit verärgertem Gesichtsausdruck die negativen Emotionen zu erkennen. "Das könnte dazu beitragen, dass die Sozialphobie in einem gesellschaftlichen Rahmen weniger stark auftritt", sagt José Carlos Bouso, ein Psychologe und Pharmakologe am spanischen International Center for Ethnobotanical Education, Research and Service.

"Bei manchen Leuten haben die Psychedelika auch im nüchternen Zustand zu länger anhaltenden Verbesserungen geführt."

MDMA löst also nicht nur euphorische Gefühle aus, sondern schränkt möglicherweise auch die Fähigkeit ein, Negatives wahrzunehmen. 2010 fanden Forscher heraus, dass Menschen auf MDMA nicht mehr so gut in der Lage sind, bedrohliche Gesichtsausdrücke zu erkennen. Und wenn man negative Emotionen nicht wahrnehmen kann, schwindet die Angst vor zwischenmenschlichen Interaktionen.

Menschen, die an Depressionen oder Angststörungen leiden, neigen dazu, mehr auf negative Gesichtsausdrücke zu achten, und reagieren stärker auf Bedrohungen. Das erklärt vielleicht, warum andere Psychedelika wie Magic Mushrooms in klinischen Studien Patientinnen mit Depressionen geholfen haben.

Psychedelika könnten aber auch beeinflussen, wie wir uns fühlen, wenn wir gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Wissenschaftler haben das mithilfe eines Programms namens Cyberball untersucht: Dabei warfen Probanden einander in einer virtuellen Welt einen Ball zu, wurden im Laufe des Spiels aber von den anderen Teilnehmenden immer weiter ausgeschlossen. Die Probanden mit psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen reagierten auf diese Ausgrenzung viel empfindlicher als andere Testpersonen.

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Diese Probanden sagten aber, ihre Stimmung und ihr Selbstvertrauen hätten weniger darunter gelitten, bei Cyberball übergangen zu werden, wenn sie auf MDMA waren. Die negativen Gefühle, die wir bei Ausgrenzung verspüren, gehen mit erhöhter Aktivität in bestimmten Hirnregionen einher. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass diese Aktivität nach dem Konsum von Magic Mushrooms zurückgeht.

Viele Psychedelika führen laut dem spanischen Pharmakologen Bouso dazu, dass die Aktivität in der Amygdala zurückgeht00275-3/fulltext). In dieser Hirnregion werden unter anderem Emotionen verarbeitet – auch Angst. Die psychedelischen Substanzen interagieren mit Serotonin, einem Botenstoff, der auch die Stimmung reguliert. MDMA fördert zudem die Ausschüttung von Oxytocin, einem Hormon, das das Sozialverhalten beeinflusst, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verursacht und die negative Reaktion auf Zurückweisung mindert.

Negative soziale Reize nicht wahrnehmen, sich nicht ausgeschlossen fühlen, weniger Angst empfinden – die Kombination all dieser Wirkungen könnte zu einem angenehmeren, einfühlsameren und tiefgründigeren Umgang mit anderen Menschen führen. Um mit Psychedelika gegen Sozialphobie vorzugehen, ist allerdings ein weiterer Schritt nötig: Man darf die Drogen nicht einfach nur konsumieren, sondern sollte während des Rausches auch ein Therapiegespräch machen.

Über Psychedelika gebe es noch viel zu lernen, sagt der Drug-Checking-Chemiker Jones. Zum Beispiel, welche Droge bei welcher Art der Angststörung am besten helfe. Da die Forschung in diesem Bereich noch Neuland ist, werden Psychedelika oft in einen Topf geschmissen, obwohl sich die Behandlungsmethoden und Risiken teils deutlich unterscheiden.

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Die Psychologin Danforth sieht in MDMA eine Möglichkeit, soziale Fähigkeiten zu trainieren, "ein bisschen wie Stützräder für zwischenmenschliche Interaktionen". Wenn sich die Betroffenen hinterher daran erinnern, zu was sie auf MDMA in der Lage waren, können sie auch im Alltag mehr Selbstvertrauen haben.

Danforth will bald einen ähnlichen Ansatz bei Erwachsenen mit Autismus ausprobieren, die in sozialen Situationen bisher regelmäßig auf Alkohol zurückgreifen – so wie Chris, bevor er es mit MDMA versuchte. Die Psychologin glaubt, dass Psychedelika therapeutisch effektiver sein könnten als Alkohol. Alkohol reduziere soziale Ängste nur vorübergehend, begünstige ausweichendes Verhalten und reduziere die Hirnaktivität im Frontallappen – mit dieser Struktur trifft unser Gehirn Entscheidungen, plant und überlegt. MDMA fördere hingegen die Aktivität im Frontallappen. Und während Alkohol laut Bouso die Achtsamkeit reduziert und oft unsoziales Verhalten wie Gewalt begünstigt, sei MDMA "eine sehr friedliche Substanz".

Psychedelika könnten therapeutisch effektiver sein als Alkohol.

"Es ist ja nicht so, dass man viel über sich selbst lernt oder besser funktioniert, wenn man betrunken ist", sagt Charles Grob, Professor für Psychiatrie an der University of California, Los Angeles. Er hat Danforth in ihrer Forschung unterstützt. "Bei MDMA ist es anders. Im therapeutischen Kontext kann man Patienten und Patientinnen durch eine Lernerfahrung führen."

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Ferenstein nimmt immer noch regelmäßig psychedelische Drogen – seiner Meinung nach ein Werkzeug für persönliches Wachstum. "Ich habe schon vor Meetings, Telefonkonferenzen, Geburtstagen und Hochzeiten etwas genommen", sagt er. "Ich probiere es gerne in allen möglichen Situationen aus, weil ich all meine Facetten verstehen will."

Eins ist dennoch unbestreitbar: Drogenkonsum ohne die Aufsicht von geschulten Experten oder Expertinnen kann schnell sehr gefährlich werden – vor allem für Menschen, die psychische Problemen haben oder hatten.

Um das volle therapeutische Potenzial der Substanzen auszuschöpfen, müssen die psychedelischen Trips in eine Therapie eingebunden sein, bei dem der Großteil der Sitzungen nüchtern stattfindet.

Laut dem Chemiker Jones ist es ohne ausgebildete Therapeuten oder Therapeutinnen quasi unmöglich, die Drogenerfahrung in eine heilende Richtung zu lenken – gerade in den Situationen, in denen die meisten Leute diese Drogen konsumieren: "Die Tanzfläche ist nicht der richtige Ort, um traumatische Kindheitserinnerungen zu verarbeiten", sagt er.

Inzwischen hat Chris seit etwa fünf Jahren keine Drogen mehr angerührt. Seine Erfahrungen sind aber von Dauer: "Es fühlte sich an, als hätte ich eine andere Denkweise, ein alternatives Bewusstsein freigeschaltet", sagt er. "Selbst wenn die Wirkung der Droge wieder nachlässt, begleitet dich danach für immer eine neue Sichtweise."

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