Das Fundbüro an einem Ort der Hemmungslosigkeit

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Das Fundbüro an einem Ort der Hemmungslosigkeit

Wir waren im Fundbüro vom Golden Gate in Berlin und haben wahre Schätze ausgegraben—und über die erweiterte Bedeutung unserer Fundstücke sinniert. 

Es gibt Orte auf der Welt, die von Regeln und Verboten beherrscht werden. Im Grunde genommen trifft das auf fast alle Orte zu. Daneben gibt es allerdings auch jene seltenen Orte, die dich zur absoluten Hemmungslosigkeit animieren. Falls jemand von euch noch nicht mit dem Golden Gate in Berlin vertraut sein sollte: Dieser Club fällt in letztere Kategorie. Wenn die Türen des kleinen schmuddeligen Elektroclubs am Donnerstagabend geöffnet werden, bleiben sie auch, mehr oder weniger, bis Montagmorgen offen.

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Es ist ein Ort, an dem du die Kontrolle verlieren kannst. Und zwar nicht nur im bereits erwähnten positiven Sinne, sondern auch ganz wörtlich über deinen materiellen Besitz. Wenn sich die Besucher der Afterhour in Tech-House-Interpretationen von Oops verlieren, verteilen sie ihre Gegenstände nur so im Raum. Jeder von uns hat schonmal etwas beim Feiern verloren. In einem Club, der die zeitliche Beschränkung bis zur Grenze der Belastbarkeit ausdehnt, kommen am Ende des Wochenendes schonmal gewaltige Mengen von Fundsachen zusammen.

Um zu sehen, was für Schätze diese Beute birgt, sind wir zum Lost & Found des Golden Gate gegangen. Aus den Bergen von Klamotten und verschiedenen anderen Besitztümern haben wir ein paar Gegenstände für unser zweifellos untypisches, pastellfarbenes Golden-Gate-Fotoshooting zusammengesucht.

Eine der herausragendsten Entdeckungen war die bloße Anzahl der verlorenen Schlüssel. Dutzende Schlüssel, die Dutzende verzweifelte Schreie vor verschlossenen Haustüren, Autos und Fahrrädern repräsentieren. Kubi Sülü, der Mann, der sich um die Fundsachen des Clubs kümmert, nennt diese Gegenstände „verlorene Existenzen“.

Jeden Montag sammelt Kubi alle verlorenen Dinge im Club ein und sortiert sie noch am gleichen Tag in seinem Büro. Wenn er irgendwelche Hinweise auf den Besitzer findet, schickt er die Sachen sofort an die entsprechende Adresse, zusammen mit einem Flyer des Clubs und einer handschriftlichen Notiz: „Danke, dass du gekommen bist und so ein angenehmer Gast warst!“ Der Rest wird in Boxen gepackt und drei Monate lang aufbewahrt (Schlüssel und Handys etwas länger), um den Leuten die Gelegenheit zu geben, ihre Sachen zurückzubekommen. Kubi zufolge wird nur jeder sechste Gegenstand abgeholt. Die restlichen Sachen bringt er zum Fixpunkt, eine lokale Wohlfahrtseinrichtung, bei der sich Drogenabhängige in einer sicheren Umgebung einen Schuss setzen können, gesundheitliche Beratung entgegennehmen und gebrauchte Kleidung bekommen.

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Bei den meisten Sachen im Spendenregal handelte es sich um billige Kapuzenpullover mit irgendwelchen Aufschriften. Außer einer Satinhose war nichts Außergewöhnliches zu finden. Seltsamerweise sahen die meisten verlorenen Handys genau gleich aus: schwarze 20-Euro-Teile. Einige davon waren notdürftig mit Klebeband zusammengehalten. Kubi sagt, dass nie etwas wirklich Wertvolles dabei ist. Wie in allen Clubs durchlaufen die Fundsachen einen doppelten Filterprozess: Zuerst gehen sie durch die flinken Hände der Partybesucher, dann durch die der Reinigungskräfte. Drogen werden sofort weggeworfen, sagt Kubi. Nach sechs Polizeirazzien innerhalb von zehn Jahren hält sich der Club an „offizielle“ Spielregeln.

Es ist einer der wenigen Clubs in Berlin, die seit langer Zeit am gleichen Ort geöffnet sind. Wegen bürokratischer Streitereien mussten vor Kurzem der Gold angemalte Eintrittsbereich und sogar die Garteneinrichtung sowie verschimmelte Planen entfernt werden. Doch der fröhlich anachronistische Club, der sich zu Recht als Untergrund-Club bezeichnet (aufgrund der Lage unter S-Bahnschienen sowie der kultähnlichen Anhängerschaft), ist alles andere als am Ende. Die Betreiber haben einen weiteren Zehnjahresvertrag unterschrieben, der unter anderem ein weiteres Jahrzehnt lang vergessene Schätze garantiert.

Wenn man darüber nachdenkt, weist bereits der Begriff ,Fundbüro‘ oder ,Lost & Found‘ eine existenzielle Tiefe auf. Wenn ich poetischer veranlagt wäre, würde ich eine Analogie zwischen den verlorenen Dingen und den verlorenen Seelen (bzw. „Existenzen“) des Berliner Nachtlebens ziehen: Leute, die zu weit und zu lange abdriften, an der Rückseite eines feuchten alten Sofas heruntergleiten und am Ende doch wieder auftauchen, triumphierend und bereit für ein neues Leben. Ein bisschen älter, ein bisschen staubiger, aber vielleicht auch ein bisschen klüger. Entweder das, oder das Lost & Found im Golden Gate ist einfach ein Haufen dreckiger Pullover, die die Junkies am Kottbusser Tor während des Winters warm halten.

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