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Innsbruck hat gegen das Schlafverbot für Obdachlose gestimmt

In Innsbruck wurde über das Nächtigungs- und Schlafverbot für Obdachlose und Bettler abgestimmt. Wir waren vor Ort.
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Am Donnerstag, dem 17. November, fand im Innsbrucker Rathaus die 10. öffentliche Gemeinderatssitzung dieses Jahres statt. Das "Highlight" der Sitzung war mit Sicherheit die Abstimmung bezüglich des Nächtigungs- und Schlafverbots für Obdachlose und Bettler in der Innsbrucker Altstadt und diversen anderen Teilen der Landeshauptstadt. Bereits im Vorfeld der Gemeinderatssitzung zeigten AktivistInnen, die verschiedenen linksgerichteten (Studenten-)Organisationen zuzuordnen sind, ihren Unmut über das Vorhaben der Bürgermeisterin, indem sie in Schlafsäcken liegend den Zugang zum Plenarsaal versperrten und erschwerten.

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"Der Versuch, in den Sitzungssaal zu gelangen, scheiterte leider", bedauert Haselwanter vom Kommunistischen Studentinnenverband auf Nachfrage von VICE, ist jedoch grundsätzlich mit der Protestaktion zufrieden. Grund dafür, dass ihnen der Weg in den Saal versperrt blieb, war nicht zuletzt die brisante mediale Debatte im Vorfeld, weshalb der Oberstleutnant und Einsatzreferent der Landespolizeidirektion Tirol, Wolfgang Ostheimer, "von Störaktionen ausgehen musste", wie er VICE gegenüber angab.

Bereits während der letzten Gemeinderatssitzung, bei der über restriktivere Bedingungen zum Erhalt der Mietzinsbeihilfe abgestimmt wurde, kam es zu Störungen. Darum ging Ostheimer davon aus, dass auch bei dieser Sitzung mit unerwünschten, kritischen Beiträgen zu rechnen wäre. Insgesamt schafften es laut Ostheimer sechs AktivistInnen, sich vor dem Sitzungssaal zu platzieren, bevor die MÜG (Mobile Überwachungsgruppe der Stadt Innsbruck) einschritt und somit eine aufsehenerregende Aktion verhinderte, waren sich Haselwanter und Ostheimer einig. Bis auf zwei Protestierende leisteten die AktivistInnen den Weisungen der PolizeibeamtInnen, das Gebäude und den Vorraum zum Plenarsaal zu räumen, Folge und somit also keinen aktiven Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Die beiden widerspenstigen AktivistInnen mussten schließlich von den Ordnungshütern entfernt, also aus dem Gebäude getragen werden. Gegen eine davon unabhängige Protestaktion von jungen SozialdemokratInnen im Erdgeschoss musste oder durfte die Polizei keine Amtshandlungen durchführen. Gegen die Rädelsführer wurde laut Ostheimer ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, was Haslwanter als "lächerliche und willkürliche Maßnahme und Einschüchterungsversuch, um politischem Aktivismus entgegenzuwirken" beschrieb. Verletzt wurde bei dem Einsatz niemand.

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Dass nicht mehr DemonstrantInnen ihrem Unmut Luft machten, lag aller Wahrscheinlichkeit daran, dass die Veranstaltung nicht angemeldet, nicht über Social Media verbreitet und somit auch nicht öffentlich angekündigt worden war. "Ich habe von einer geplanten Protestaktion gehört, weiß aber auch keine Details", meinte etwa Michael Hennermann, Geschäftsführer des "Vereins für Obdachlose" in Innsbruck, am Vortag der Gemeinderatssitzung auf Anfrage von VICE. Eine offizielle und gut besuchte Kundgebung gegen die Verordnung fand bereits vergangenen Samstag beim Goldenen Dachl statt.

Noch bevor das wohl brisanteste und emotionsgeladenste Thema der Sitzung ausführlich diskutiert und in weiterer Folge zur Abstimmung gebracht wurde, wärmten sich die politischen VertreterInnen bei Präsentationen, seitens der Innsbrucker Verkehrsbetriebe, der TIGAS (Erdgas Tirol) und bevorstehenden Bauvorhaben der Stadt—sprich dem politischen (All-)Tagesgeschäft—etwas auf. So brachte sich etwa der amtierende Klubobmann der Freiheitlichen im Tiroler Landtag, der gleichzeitig mit seiner eigenen Liste im Gemeinderat vertreten ist, Rudi Federspiel, bereits beim Thema Radwege und deren Ausbau auf Betriebstemperatur, als er über das rücksichtslose Fahrverhalten Nordafrikanischer Radfahrer wetterte, die laut ihm auf "teuren, gestohlenen Fahrrädern" Leib und Leben der InnsbruckerInnen gefährdeten.

Obdachlose in ranzig muffigen Schlafsäcken, womöglich betrunken, passen einfach nicht ins Bild—ganz besonders nicht in der andächtigen Vorweihnachtszeit.

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Nach ungefähr dreieinhalb Stunde wurde endlich das Thema des Tages diskutiert. Die meisten InnsbruckerInnen und BesucherInnen der Landeshauptstadt betrifft der Ausgang dieser Abstimmung nicht direkt. Jedoch wäre das Nächtigungsverbot eine richtungsweisende Entscheidung gewesen, denn somit würde gewissermaßen Obdachlosigkeit zu einem strafrechtlich relevanten Tatbestand. Bürgermeisterin Oppitz-Plörer zeigte mit diesem Antrag auf, dass Armut mitsamt all ihren unschönen Begleiterscheinungen im öffentlichen Raum Innsbrucks nicht erwünscht ist, ohne dabei an die Folgen für die wahrlich Betroffenen—also die Obdachlosen—zu denken.

Vorwärts Tirol, die Liste der amtierenden Bürgermeisterin, präsentierte mit diesem Antrag somit ein Musterbeispiel für die "Vogel-Strauß-Taktik" par excellence. Hennermann wusste etwa von betroffenen Obdachlosen, dass diese durch die drohenden Strafen schockiert seien und Angst hätten, womöglich ins Gefängnis zu müssen, wenn ihnen diese Strafe drohen würde, da sie eben kein Geld hätten.

Die Stadtteile, die angeblich hauptsächlich unter den schlafenden Obdachlosen leiden, sind die Altstadt und der Stadtteil Wilten. In der Altstadt finden gutbetuchte Gäste und Einheimische in zahlreichen Nobelboutiquen und traditionellen Gastronomiebetrieben alles, was das "Geldadelherz" begehrt. Der seit geraumer Zeit wieder aufblühende Stadtteil Wilten hingegen wandelte sich binnen der letzten Jahre zum "Hipstermekka" der Stadt, was exorbitante Preise für die dort angebotenen Produkte unterstreichen. Da passen Obdachlose in ranzig muffigen Schlafsäcken, womöglich betrunken, einfach nicht ins Bild—ganz besonders nicht in der andächtigen Vorweihnachtszeit. Christkindlmärkte, Weihnachtsbläser und Glühwein—dafür ist Innsbruck gen Jahreswechsel über die Grenzen Tirols hinaus bekannt und nicht für öffentlich ausgestellte Armut, Leid und Elend.

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Vor Augen geführt zu bekommen, in welchen aussichtslosen Situationen sich die betroffenen Obdachlosen also befinden, sei laut den Angaben diverser GemeinderätInnen von der ÖVP und Vorwärts Tirol geschäftsschädigend für die betroffenen Innsbrucker UnternehmerInnen, da die Eingänge zu ihren Geschäftsflächen von den Obdachlosen angeblich stark verschmutzt—durch Abfälle, oder aber auch Exkremente—hinterlassen werden.

Hennermann hingegen konnte keine Zunahme an Beschwerden bezüglich der Obdachlosen feststellen: "Bei uns sind keine Beschwerden oder Anfragen eingegangen. Ob sich diese bei der Stadt gehäuft haben, kann ich nicht sagen. Die Summe der letzten ordnungspolitischen Maßnahmen der Stadt Innsbruck lässt aber ganz klar den 'stadtkosmetischen' Ansatz hinter diesen Repressions- und Verdrängungsgesetzen erkennen. Außerordentliche Vorfälle sind uns nicht bekannt. Dass die Notdurftverrichtungen unter den Arkaden in der Innenstadt eine Belästigung darstellen, kann ich jedoch nachvollziehen. Das ist aber ohnedies bereits gesetzlich verboten."

Das Verbot verschiebt das Problem daher nur, oder wie Kathrin Heis polemisierte: "Aus den Augen, aus dem Sinn!"

Die BefürworterInnen wie auch die GegnerInnen des Antrags trugen während der fast vierstündigen hitzigen Diskussion nicht nur abstruse, sondern vor allem auch heuchlerische Argumente vor—an sachlichen, faktenorientierten Wortmeldungen fehlte es ungefähr so wie an ausreichenden Betten in ganzjährig geöffneten Notschlafstellen. So sei laut Oppitz-Plörer der von ihr befürwortete Erlass sowohl für die BürgerInnen der genannten Stadtteile als auch für die Obdachlosen selbst dringend notwendig. Draußen zu schlafen, sichtbar für jedermann, sei entwürdigend und mithilfe dieser Verordnung könne man den nötigen Druck aufbauen, sodass die Betroffenen die entsprechenden Einrichtungen auch nützen.

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Uschi Schwarzl,Gemeinderatsabgeordnete der Grünen, ortete hinter dem Antrag ähnlich wie der Geschäftsführer des Vereins für Obdachlose Hennermann eher eine Maßnahme, um den von der Stadtregierung angestrebten Markenbildungsprozess der Stadt Innsbruck hin zur "pulsierenden, urbanen, jugendlichen und weltoffenen Stadt" weiter zu forcieren. Die wohl absurdeste Begründung dafür, bei der Abstimmung mit "Nein" zu stimmen, lieferte aber wohl die FPÖ.

Ja, die FPÖ und die Liste Rudi Federspiel stimmten gegen das Nächtigungs- und Schlafverbot für BettlerInnen und Obdachlose, da der Partei und vor allem Rudi "Mr. Law and Order" Federspiel das Verbot nicht weitreichend genug war. Die FPÖ und die Liste Rudi Federspiel würden diesem Antrag nur in Verbindung mit einem rigoroseren zeitlichen und räumlichen Bettelverbot zustimmen.

Unabhängig davon, welche Argumente nun tatsächlich ausschlaggebend waren—die Bürgermeisterin und viele ihrer MitstreiterInnen wollen die Stadt offensichtlich von Armutsbetroffenen befreien, um zahlungskräftigen BesucherInnen und BewohnerInnen der Landeshauptstadt unbeschwerten Konsum zu gewährleisten. Fakt ist aber auch, dass Innsbruck schlichtweg nicht über die entsprechenden (Notschlaf-)Einrichtungen verfügt, um wirklich alle Obdachlosen von der Straße zu holen, wie mehrfach attestiert wurde.

Schätzungsweise sind derzeit, laut den im Juli dieses Jahres erfolgten Erhebungen seitens des Vereins für Obdachlose, 290 Personen in Innsbruck obdachlos—wobei die Dunkelziffer weit höher sein könnte. Derzeit stehen aber nur 240 Schlafplätze zur Verfügung und davon nicht wenige ausschließlich während der kalten Wintermonate. Eine neue Notschlafstelle soll zwar schon bald eröffnet werden, obwohl beispielsweise die ÖVP bereits jetzt ausreichend Schlafplätze für Innsbrucks Obdachlose ortet.

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Die Welt und Europa sind in Bewegung, auch armutsbetroffene Menschen versuchen in wirtschaftlich stärkeren Regionen ihr Glück. Innsbruck reagiert bisher mit dem Errichten einer sozialen Stadtmauer.

Das Verbot verschiebe das Problem daher nur, oder wie Kathrin Heis polemisierte: "Aus den Augen, aus dem Sinn!" Bei der Schaffung weiterer und vor allem ausreichender Unterkünfte für Menschen ohne Bleibe müsse insbesondere darauf geachtet werden, dass auch für obdachlose Minoritäten entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Wie Haslwanter bedauernd aufzeigte, ist es derzeit "weder Roma, Sinti noch Nordafrikanern gestattet, in den Notschlafstellen zu übernachten."

Auch diverse Gemeinderäte sämtlicher Parteien forderten in diesem Zusammenhang eigene Einrichtungen für Frauen, Menschen mit psychischen Erkrankungen und für unterschiedliche Ethnien und Konfessionen, um Reibereien und Auseinandersetzungen in den Quartieren vorzubeugen. Eine andere nur schwer lösbare Problematik dürfte es werden, Alkoholabhängige davon zu überzeugen, ihre Nächte in Einrichtungen zu verbringen, deren Philosophie und Hausordnung ein striktes und somit ausnahmsloses Rauch- und Alkoholverbot zum Inhalt haben.

Natürlich: Es ist weder für Touristen noch für die Bevölkerung Innsbrucks schön, mitansehen zu müssen, wie Menschen schutzlos in der Kälte der Nacht und des Winters, im Freien in der Innenstadt ihr Nachtlager aufschlagen, wo eigentlich gemütlich flaniert und Glühwein geschlürft werden sollte—unter den zahlreichen Arkaden und Lauben der Stadt. Ja, und es ist einerseits auch unangenehm, gefühlt alle 20 Meter angebettelt zu werden. Auf der anderen Seite ist es eine unbedingte Notwendigkeit, dass diese Missstände für alle Bürger sichtbar sind, solange sie nicht beseitigt werden konnten.

Die fiese Fratze der Armut wird so nämlich für viele Bürger erst begreifbar. In Tirol im Allgemeinen und in Innsbruck im Speziellen bestünden ausreichend leerstehender Wohnraum und auch die entsprechenden finanziellen Mittel, um der Obdachlosigkeit endgültig den Garaus zu machen, ohne dass jemand auf irgendwelche Annehmlichkeiten verzichten oder sich jemand unfair behandelt fühlen müsste. Worauf wir uns womöglich in den nächsten Jahren gefasst machen müssen, fasst Hennermann in einem abschließenden Statement ziemlich gut zusammen:

"Das von der ehemaligen Bürgermeisterin propagierte Weltstadtimage zeigt nun auch die Seite, die vielfach vergessen und verneint wird. Die Welt und Europa sind in Bewegung, auch armutsbetroffene Menschen versuchen in wirtschaftlich stärkeren Regionen ihr Glück. Innsbruck reagiert bisher mit dem Errichten einer sozialen Stadtmauer. Ohne zu resignativ klingen zu wollen, aber solange wir uns als Gesellschaft nicht auf vernünftigere Lösungen einigen können, wird Innsbruck diesen Weg wohl weiter verfolgen."