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Wie man in Deutschland arbeitet, obwohl man es eigentlich nicht darf

Wer ohne Papiere, unsichtbar, in Deutschland lebt, hat wenig Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Einige Unsichtbare finden scheinlegal Arbeit—mit einer geliehenen Identität.

Fast wäre es vorbei gewesen: In der Mittagspause fängt ihn sein Vorarbeiter ab und sagt ihm, er solle sich beim Chef melden. Ein paar Minuten später sitzt Akusi Annan* verschreckt in dessen Büro, auf dem Tisch die Kopie seiner Aufenthaltserlaubnis. „Das bist nicht du, oder?", fragt der Chef und zeigt auf den dunkelhäutigen Mann auf dem Foto des Dokuments. Akusis Herz rutscht tief in die Hose. Ist es nun vorbei? War es das mit Deutschland? Wird er verhaftet und abgeschoben? Obwohl der Vorfall zwei Jahre her ist, redet Akusi sehr leise, wenn er davon erzählt.

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Nein. Sein Chef will, dass er weiter für ihn arbeitet, er sagt: Du bist gründlich und freundlich. Du kannst bleiben. Aber wenn du deine Papiere hast, einen gültigen Aufenthalt, dann tauscht du dieses Papier hier aus, ja? Akusi nickt. Dann schleicht er zurück in das riesige Lager, wo er Schuhe aller Art in Pakete packt, Schuhe von Menschen in ganz Deutschland im Internet bestellt.

Die Papiere hat Akusi nie abgegeben. Acht Wochen lang arbeitet er in dem Lager im Ruhrgebiet, vermittelt über eine Zeitarbeitsfirma. Der Ghanaer, der ihm die Papiere überlassen hatte, bekam damals den Bruttolohn über 7,60 Euro pro Stunde überwiesen. Akusi hatte ihn in der afrikanischen Kirche kennengelernt. Und erhält am Ende selbst 5 Euro pro Stunde. Alle haben verdient. Der Subunternehmer des Lagers, der die Arbeiter bei der Zeitarbeitsfirma entliehen hat. Die Zeitarbeitsfirma. Der Identitätenstifter. Und Akusi. Wenn auch nur einen Anteil.

Wer ohne gültige Papiere in Deutschland lebt, hat letztlich wenig Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Im Milieu oder im Drogenhandel—kriminell. Oder man arbeitet schwarz, ganz ohne Papiere, und kriegt ein paar Euro bar auf die Hand. Aber das geht nicht in allen Branchen. Wer in Lagern oder in der Systemgastronomie arbeiten will, in Schlachthöfen oder Hotels, braucht eine legale Hülle. Und beschafft sich diese, indem er sich die Papiere eines Bekannten ausleiht, dessen Aufenthalt in Deutschland offiziell ist.

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Akusi, gelernter Techniker, kam aus Ghana nach Dortmund, um dort sein entzündetes Auge operieren zu lassen. Mehrere Tausend Euro zahlte er vorab wie es die Deutsche Botschaft in Ghana verlangte. Sein Auge konnte nicht gerettet werden, es wurde ersetzt durch eine Glasprothese. Als Akusis Visum ablief, Ende 2011, blieb er einfach in Dortmund. Inzwischen hat er ein Kind mit einer Afrikanerin, die gültige Papiere hat, und wird darum geduldet. Doch fast vier Jahre lang lebte er heimlich in Deutschland—und arbeitete häufig mit geliehenen Papieren.

Im Osten Nordrhein-Westfalens, wo große Schuh- und Kleiderlager stehen, stand Akusi jahrelang neben Russen, Türken und Albanern, wo er packte, schleppte, sortierte. „Viele dort hatten die Papiere von anderen", sagt er auf Englisch. „Sogar manche Deutsche gingen mit dem Ausweis eines Freundes arbeiten—und bezogen zugleich Hartz IV."

Das System Identitätenhandel: Legale Papiere wie eine Aufenthaltserlaubnis, die dazugehörige Krankenkassenkarte und die Sozialversicherungsnummer kann man mieten. Es wird im Voraus bezahlt oder der Lohn wird geteilt. Wenn nur ein Unsichtbarer mit den Papieren arbeitet, ist dies kaum für Arbeitgeber und Behörden nachvollziehbar. Die Zeitarbeitsfirmen interessieren sich wohl nicht so genau für ihre Klientel, die Verantwortung der Behörden ist soweit geteilt, dass kaum etwas auffallen kann. Ein Kenner der Szene weiß: „Viele Identitätsstifter verleihen ihre Papiere mehrfach und schicken gleichzeitig Unsichtbare und Gedudelte arbeiten. Da ist ein ganzer Markt entstanden."

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Manche Chefs von Lagern und Zeitarbeitsfirmen würden die Unsichtbaren schwarz weiter beschäftigen, wenn sie von deren falscher Identität erfahren. Weil sie dann noch weniger zahlen müssen. Akusi kennt viele Anekdoten aus der Szene der unsichtbaren Arbeiter: Von einem ghanaischen Prinzen, der Regale in deutschen Supermärkte einräumt, oder von einem Freund, der eine Polizeistation in Essen gereinigt hat.

Meist bekämen die Arbeitgeber und Zeitarbeitsfirmen gar nicht mit, dass sie Unsichtbare beschäftigen. Die Afrikaner auf den Fotos der Dokumente sehen sich wohl zu ähnlich, für das Verständnis der Sachbearbeiter. Das berichten diejenigen selbst, die sich Identitäten geliehen haben. Klingt ein wenig nach „alle sehen gleich aus" und leider ist es wohl auch für viele Menschen so, die kaum enge soziale Beziehungen in ihrem Leben zu schwarzen Menschen aufgebaut haben.

Doch warum sollten die Zeitarbeitsfirmen überhaupt überprüfen, wer wirklich vor ihnen steht? Einige Agenturen bräuchten immer Kräfte und nähmen billigend in Kauf, dass ihre Klienten keine gültigen Papiere haben, sagt Akusi. Denn diese arbeiteten zuverlässiger und stellten keine Fragen. Für Menschen, denen ein Papier sagt, dass sie „illegal" sind, die nie aufgetaucht sind oder ihr Visum überzogen haben, von denen es Migrationsforschern nach etwa 400.000 in Deutschland geben soll, eine der wenigen Chancen auf ein Einkommen.

Geduldete und Asylbewerber dürfen nur eingeschränkt und nur mit Erlaubnis der Ausländerbehörde arbeiten; Zeitarbeit ist ihnen erst nach 15 Monaten uneingeschränkt gestattet. Das befördert den Identitätenhandel, dessen Dimension schwer einzuschätzen ist. Selbst der Zoll hat keine genauen Zahlen. Man weiß nur, es gab 50 Fälle, in denen Zeitarbeitsunternehmen Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung an Firmen verliehen haben.

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Die deutschen Zeitarbeitsfirmen haben zwei Dachverbände, den Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) und den Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BPA). Letzterer reagierte überhaupt nicht auf unsere Anfrage, eine Sprecherin des IGZ antwortete, man wisse nichts von „falschen Identitäten in der Arbeitnehmerüberlassung".

Wobei: „Sicher 50 Prozent der Zeitarbeitsfirmen sind gar nicht organisiert, da kann es Firmen geben, die ihren Namen häufig ändern und im Verborgenen arbeiten", sagt Torsten Oelmann, Sprecher der Kontakt- und Schlichtungsstelle (KuSS), die eingreift, wenn es Probleme bei Zeitarbeitsfirmen gibt. Oelmann weist auf die Sozialversicherungsträger hin, also die Krankenkassen, die Renten- und Arbeitslosenversicherung. Bei ihnen müsste doch auffallen, wenn jemand seine Identität für mehrere Beschäftigungsverhältnisse verleiht.

Nein—es fällt dort nur dann auf, wenn sich die Arbeitsverhältnisse „logisch ausschließen", sagt Heinz-Dietrich Steinmeyer, Professor für Arbeits- und Sozialrecht in Münster. Aber „die Rentenversicherung sieht nur den Bruttogesamtbetrag aus Arbeitsverhältnissen, keine Stundenzahlen." Steinmeyer hält es außerdem für möglich, dass Identitätenhändler Wege gefunden haben, an zwei oder mehrere Rentenversicherungsnummern zu kommen.

Das bestätigt Dirk von der Heide, Sprecher beim Bund der deutschen Rentenversicherungen. Jeder könne schließlich mehrere Jobs haben, dagegen spreche erst einmal nichts. Und deshalb „gibt es große Schwierigkeiten, Unregelmäßigkeiten aus den Unterlagen festzustellen".

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Fällt es den Einzugsstellen der Sozialabgaben—den Krankenkassen—auf, wenn mehrere Arbeitsverhältnisse nebeneinander bestehen? Wenn zuviel für einen Arbeitnehmer von mehreren Arbeitgebern eingezahlt wird? Krankenkassen betreiben eigene Betrugsdezernate, meist arbeiten dort ehemalige Kriminalbeamte—aber auch ihnen sind keine Fälle von Identitätenhandel bekannt, sagt der Betrugsfahnder einer großen gesetzlichen Krankenversicherung. Jeder Krankenkasse obliege selbst, wie sie mit solchen Problemen umgeht. Es könnte sein, dass einige Kassen zuviel gezahlte Beträge einfach zurücküberwiesen oder im Einzelfall beim Arbeitgeber nachforschten—eben jenen dubiosen Zeitarbeitsfirmen, erklärt der Fahnder.

Sabine Poschmann sitzt für die SPD im Bundestag und hat ihren Wahlkreis in Dortmund, dem logistischen Drehkreuz in die Höfe und Lager der Umgebung für die arbeitswillige afrikanische Community. Sie hat Verständnis dafür, dass sich Menschen ohne Papiere Identitäten leihen. „Falsche Angaben zur eigenen Identität in der Zeitarbeit sind eine Möglichkeit für ,Illegale', sich der Ausbeutung durch Schwarzarbeit zu entziehen. Denn hier werden sie weitestgehend nach Tarif bezahlt. Ein erschlichener Vertrag mit einer Zeitarbeitsfirma ist für sie eine sicherere Alternative, auch wenn es sich hierbei um Betrug handelt."

Amadou Bah aus Guinea heißt eigentlich auch anders, unter diesem Namen hat er einst Asyl beantragt. Auch er, dessen Asylantrag Anfang 2015 abgelehnt wurde und der seither untergetaucht ist, hat sich viele Male die Papiere eines anderen geliehen. Amadou war in vielen Städten, um dort zu arbeiten. In einem Containerbahnhof in Hamburg, einem Möbellager am Niederrhein, einer Großschlachterei im Rheinland.

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Eine falsche Identität für acht Wochen habe er schon für 500 Euro gemietet, „dann konnte ich damit machen, was ich will, vorausgesetzt, ich konnte das Konto eines Freundes angeben, der mir später meinen Lohn gab", erklärt er auf Französisch.

Andere Identitätsstifter verlangten, dass der Lohn zuerst auf ihr Konto überwiesen werde, und gäben dann einen Teil ab, üblich sind zwei Drittel. Auch er bestätigt: „Fast immer geben die Identitätenspender mehreren Leuten ihre Papiere gleichzeitig. So kassieren sie mehrfach ab."

Er kenne zudem einen Algerier in Dortmund, der täuschend echte deutsche Ausweise ausstellt, mit seinem Foto und der Ausweisnummer eines anderen—für 1.500 Euro.

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Oft ist er bei seinen Arbeitsstellen betrogen worden. In Hamburg arbeitete er einen Monat lang in einem Hotel, mit den für 350 Euro gemieteten Papieren eines Landsmannes. Am Ende überwies ihm der Vorarbeiter statt den ihm zustehenden 1.300 Euro nur 700 Euro—und habe zudem eine Provision vom Geschäftsführer bekommen, weil er billige Arbeitskräfte herangeschafft hatte.

Akusi und Amadou sind noch immer auf dem Markt unterwegs mit den Papieren anderer, ausgebeutet von den Papierhändlern, vorsätzlich oder ohne deren Wissen auch von den verschiedenen Arbeitgebern, Subunternehmern, Zeitarbeitsfirmen. Warum werden Menschen ohne gültige Papiere nicht geduldet, wenn sie eine Arbeit nachweisen können?

Dieser Artikel ist entstanden in Zusammenarbeit mit Correctiv.org, dem ersten gemeinnützigen Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum. Correctiv finanziert seine Recherchen aus Zuwendungen von Stiftungen und Bürgern. Hier kannst du Correctiv unterstützen.