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Lasst uns aufhören, alles erreichen zu wollen

Uns wird suggeriert, wir könnten alles sein, was wir wollen—es kommt nur auf unsere Einstellung an. Warum das so gefährlich ist.
Foto: justine-reyes | Flickr | CC BY 2.0

Wenn ich in diesem Text „wir" sage, dann will ich damit nicht behaupten, dass es euch allen so geht. Könnte ich ja auch gar nicht, ich kenne euch nicht. Den Großteil von euch zumindest nicht (Hallo, Mama!). Wenn ich „wir" sage, meine ich mein Umfeld, das Umfeld meines Umfelds, Leute, denen ich tagtäglich persönlich begegne oder die in regelmäßigen Abständen auftauchen. Stellt es euch wie eine dieser repräsentativen Studien vor, bei denen 500 Leute nach ihren Vorlieben zu Butter befragt werden und am Schluss eine Schlagzeile à la „Die Deutschen mögen es salzig und fettarm!" herauskommt. Vielleicht lest ihr diesen Text also und fühlt euch so gar nicht angesprochen. Das ist auch OK. Dann findet ihr es aber vielleicht trotzdem irgendwie interessant, dass Teile der Bevölkerung, der „Generation Y", oder was auch immer gerade der aktuellste Begriff für Leute zwischen 20 und 35 ist, genau so empfinden. Und dann können wir vielleicht alle gemeinsam überlegen, was wir dagegen tun können.

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Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal jemand in irgendeinem Zusammenhang habe sagen hören „Ich kann das nicht". Außer es handelte sich um irgendetwas Unwichtiges. Irgendwas, womit man sich auf Twitter den ein oder anderen Retweet sichern kann, weil Scheitern nur dann OK ist, wenn es lustig ist. Deswegen ist auch die Frage nach den Schwächen im Vorstellungsgespräch so wahnsinnig zynisch und schwierig. Schwächen? Ich? Wo? Welcher Idiot gibt denn zu, dass er irgendetwas nicht kann? Vielleicht werden wir zu diesem Verhalten erzogen, vielleicht erziehen wir uns selbst dazu. Womöglich ist es unserer Zeit geschuldet, aber zunehmend beschleicht mich das Gefühl, dass das omnipräsente „Du kannst alles erreichen" gar kein motivierendes Element hat. Es hat etwas Forderndes, es setzt unter Druck. Zumindest dann, wenn man diesen Satz anders herum denkt. Wenn ich alles erreichen kann, aber nicht alles erreiche: Bedeutet das dann, dass ich mich nicht genug angestrengt habe? Dass ich minderwertig bin? Habe ich dann einen Fehler gemacht?

Schon 2012 stellte die Süddeutsche Zeitung fest: „Wir sind jetzt alle Darsteller, vor allem Selbstdarsteller auf dem Sichtbarkeitsmarkt." Jetzt, drei Jahre später, hat das Thema allerdings nichts an Aktualität verloren.

Foto: Ray Formoso | Flickr | CC BY-ND 2.0

Gucken wir uns aktuelle Stellenausschreibungen doch mal an. Möglichst alles können, möglichst jung sein, möglichst umsonst arbeiten und idealerweise trotz allem Minimum fünf Jahre Erfahrung in relevanten Berufsfeldern. Dass sich das so nicht erfüllen lässt, weiß jeder. Nur: Niemand traut sich so recht, das zuzugeben. Lücken im Lebenslauf? Horror. Sich einfach nur auf einen Job bewerben, weil man halt seine Miete zahlen muss und plötzlich soll man ein Plädoyer halten, in dem man ganz genau erklärt, warum man in seinem ganzen Leben nichts anderes wollte, als Sachen abzuheften und für andere Leute ans Telefon zu gehen? Denk dir was aus. Setze dein überzeugendstes Strahlen auf, bediene dich der Anwaltsrhetorik, die du dir aus Better Call Saul abgeguckt hast, und rede. Wenn du redest und viel sagst und dabei irgendwie einnehmend rüberkommst, hören dir die Leute vielleicht nicht so ganz genau dabei zu, was du eigentlich erzählst. Das funktioniert übrigens auch ganz hervorragend im Studium. Vielleicht wird einem als Erstsemester deswegen so häufig nahegelegt, als freiwilliges Zusatzfach einen Rhetorikkurs zu belegen.

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Vor ein paar Tagen ist die Geschichte eines Mannes durch die Medien gegangen, der zwar keine abgeschlossene medizinische Ausbildung hatte, aber trotzdem als Chirurg gearbeitet und Leute operiert hat. Der hat scheinbar auch so richtig mantramäßig an sich geglaubt, sich diese ganzen „So verkaufen Sie sich gut"-Rhetorik-Bücher gelesen und einfach seinen Traum gelebt. Super! Oder? „Du kannst alles sein, was du willst, du musst nur an dich glauben", scheint abgeschrieben. „Du kannst alles sein, was du willst, du musst nur dafür sorgen, dass andere es dir abnehmen", ist deutlich aktueller. Kein Wunder, dass einem in Karriereratgeber-Artikeln ans Herz gelegt wird: „Gerade leistungsbereiten Menschen fällt Selbstdarstellung oft schwer, weil sie glauben, rein durch ihre Leistung zu überzeugen. Das Motto muss aber sein: Tue viel und rede drüber." Aber was bedeutet dieses „viel" eigentlich? Tut man genug, wenn man die an sich gestellten Anforderungen erfüllt, schließlich springt ein gutes Pferd nur so hoch, wie es muss. Oder ist es genau das, was einem früher oder später im Personalgespräch als „mangelnde Motivation" vorgeworfen wird?

Überrascht es da noch jemanden, dass sich so viele Menschen schon vergleichsweise jung ausgebrannt fühlen, wenn man ständig eingeflüstert bekommt, dass da doch noch ein bisschen mehr geht—oder man zumindest so tun sollte, als würde man nicht schon aus dem letzten Loch pfeifen.

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Überforderung ist eine ziemlich tückische Sache und muss sich nicht zwingend in einem hysterischen Nervenzusammenbruch mit Heulkrämpfen manifestieren. Vielleicht merkt ihr irgendwann, dass euch eine Art Last von den Schultern fällt, wenn ihr nach Hause kommt, die Tür hinter euch schließt und einfach mal kurz allein sein könnt. Vielleicht schlaft ihr wochenlang schlecht, lasst eure Frustration an anderen aus oder habt das Gefühl, nach unten treten zu müssen, weil ihr dem selbstgemachten Druck nicht mehr Stand haltet. Vielleicht fühlt sich jedes Lächeln, jede Art von Smalltalk irgendwann an wie ein Marathon und ihr habt Angst, dass die Kraft plötzlich nicht mehr reicht. Dass die Fassade zusammenfällt, bevor ihr zu Hause seid. Und dann kommt er vielleicht, der Zusammenbruch. Die Panikattacke. Dieser schwammige Begriff Burn-Out, dem gerne mal vorgeworfen wird, eine medial hochgepeitschte Modekrankheit zu sein.

i-D: Wieso Generation Z ihre Social-Media-Accounts löscht und offline geht.

Ich bin müde. Ich möchte nicht einem Personaler gegenübersitzen und auf jede Frage—auch nach der abstrusesten Qualifikation—mit „Klar, kann ich" antworten müssen. Ich möchte den Mut haben, ehrlich sein zu können. Zu wissen, dass auch im heutigen Arbeitsmarkt noch Verständnis dafür herrscht, dass es sich bei Arbeitnehmern um richtige Menschen und keine hochgezüchteten Roboter handelt. Ich möchte zu jemandem gehen und sagen können „Ich verstehe das nicht. Kannst du mir dabei helfen?" und ich möchte nicht länger eingeschüchterten Praktikanten gegenübersitzen, die alles nur hektisch abnicken, weil sie glauben, dass jede Frage ein Eingeständnis von Schwäche ist. Ändern können wir das nur selbst. Vielleicht sollte darüber mal jemand einen Ratgeber schreiben.


Titelfoto: justine-reyes | Flickr | CC BY 2.0