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Vice Blog

Wien ist großartig, und seine Bewohner wissen das auch

Scheiß auf Mercer. Es gibt genug andere Studien, die zeigen: Die Wiener sind mit ihrer Stadt sehr zufrieden.
Foto: Stefanie Katzinger

Foto von Stefanie Katzinger für Wien ist ein Paradies

Es gibt Meldungen, die tauchen in gewissen Abständen mit absoluter Gewissheit in den Medien auf. Das kann den Grund haben, dass sie einfach häufig passieren: Irgendwo wird immer gerade ein Tierbaby geboren, irgendwo lässt immer gerade ein FPÖ-Gemeinderat einen rassistischen Rülpser ab und irgendwo zerstört gerade immer eine Reinigungskraft ein abstraktes Kunstwerk, weil sie es für Mist hält. Nach anderen Meldungen wie dem Equal Pay Day oder der Pisa-Studie kann man sogar die Uhr stellen.

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Zu den regelmäßigen Ereignissen gehört eine Studie, welche die Unternehmensberatung Mercer jedes Jahr im Frühjahr veröffentlicht und die Wien als Stadt mit der höchsten Lebensqualität weltweit ausweist. Alle Jahre wieder gehen Stadt und SPÖ damit hausieren, und alle Jahre wieder regt sich die FPÖ darüber auf. Jedes Jahr wieder ertönen dieselben, berechtigen Kritikpunkte: Mercer würde Expats befragen, also Führungskräfte, die für einen begrenzten Zeitraum nach Wien entsendet werden. Diese haben mutmaßlich andere Bedürfnisse als die Durchschnittsbevölkerung. Nachdem sie oft ihre Familie mitnehmen, schätzen sie vor allem Sicherheit und gute internationale Schulen. Expats sind überwiegend älter Männer mit einem überdurchschnittlichen Einkommen. Repräsentativ ist das in der Tat nicht. Und dass Wien im Vergleich mit Kapstadt, Buenos Aires oder Bagdad eine relativ sichere, relativ gut funktionierende und architektonisch wunderschöne Stadt ist, ist jetzt nicht unbedingt eine Pressekonferenz wert.

Jetzt wollen wir mal etwas Ungewöhnliches, gar Schockierendes tun: Legen wir mal den Zynismus beiseite.

Klar: Wer Wien liebt, der hat es nicht verstanden. Der Satz gilt weiterhin. Und keine Angst, das goldene Wienerherz soll hier nicht angegriffen werden. Jeder darf sudern, soviel er oder sie will. Aber so ganz leise sollten wir uns alle gelegentlich sagen, dass die Lebensqualität in Wien auch dann recht hoch ist, wenn man kein Manager ist. So wenig repräsentativ die Mercer-Studie auch ist: Es gibt genug andere, die ein sehr ähnliches Bild zeigen.

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Die MA18 führt in regelmäßigen Abständen groß angelegte Befragungen zur Lebensqualität in Wien durch. Genauso wie die Europäische Kommission mit dem Eurobarometer. Letzteres—das sich auch die Kollegen von nzz.at hier bereits ein bisschen genauer angeschaut haben—hat den Vorteil, dass die Zahlen neuer (die letzte Erhebung der Stadt Wien ist von 2013, das Eurobarometer von 2015) und international vergleichbar sind. Die Wiener Studie ist dafür detaillierter und bis auf Bezirksebene heruntergebrochen.

Auch wenn sich die Zahlen der beiden Studien unterscheiden, sind sie sich in den Trends—bis auf wenige Ausnahmen—einig. Es gibt dabei gute und schlechte Nachrichten. Nein, Wien ist nicht die lebenswerteste Stadt Europas. Aber sie ist fast überall verdammt weit vorne dabei.

Laut dem letzten Eurobarometer sind 96 Prozent der Wiener mit dem Leben in Wien zufrieden. Das ist nicht Platz eins. Spitzenreiter sind Zürich und Oslo mit 99 Prozent Zufriedenheit, dann Belfast, Vilnius und Aalborg mit 98 Prozent, dahinter eine Reihe von Städten mit 97 Prozent (darunter Hamburg, München und Kopenhagen). Wien ist in der Gruppe dahinter. Nach streng olympischer Zählung ist Wien in diesem Ranking der lebenswertesten Städte Europas auf Platz 15.

Ist das gut? Ist das schlecht? Es ist vor allem nicht ganz einfach einzuordnen. Lass sich Wiens 1,8 Millionen Einwohner mit Aalborgs 100.000 vergleichen? Nein, weil die Verwaltung einer so großen Stadt ungleich schwieriger ist und bestimmte Zielkonflikte (zum Beispiel Grünflächen vs. günstiger Wohnraum) sehr viel stärker auftreten. Aber andererseits ja, weil es hier um subjektive Lebensqualität geht und der durchschnittliche Bewohner von Aalborg vermutlich kein Berghain vor der Tür erwartet.

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Auf jeden Fall erreicht Wien ein paar sehr gute Plätze. Schaut man sich nur die EU-Hauptstädte an (wo die Lebensqualität durchschnittlich geringer ist als in den kleineren Städten), liegt Wien gemeinsam mit Luxemburg auf Platz 4. Im Ranking der europäischen Städte (wo sich dann noch Zürich, Oslo und Reikjavik reinschieben) kommt Wien auf Platz 6. Das sind alles verdammt gute Ergebnisse. Aber sie eignen sich eher nicht für ein Facebook-Bild oder eine euphorische Presseaussendung.

Schauen wir uns die Teilergebnisse an. Was gefällt den Wienern an Wien, und was eher nicht so?

Wien ist eine sichere Stadt, und ihre Bewohner wissen das

Während laut Kronen Zeitung die „gefühlte Kriminalität" explodiert, steigt das subjektive Sicherheitsempfinden in Wien sogar ohne Bundesheer-Assistenzeinsatz am Gürtel. Laut dem Eurobarometer fühlen sich 87 Prozent der Wiener in Wien sicher, bei der Frage nach dem Sicherheitsgefühl in der Wohngegend steigt die Zahl sogar auf 92 Prozent. Ein etwas schlechteres Bild zeigt die Studie der Stadt Wien: Dort sind nur 72 Prozent der Befragten mit dem Sicherheitsgefühl in ihrer Wohngegend zufrieden. Es variiert relativ deutlich nach Geschlecht und Wohnbezirk, allerdings stieg es in allen Bevölkerungssegmenten und Wohnsegmenten zwischen 2008 und 2013 deutlich an. Wenn euch mal wieder jemand erzählen will, Wien würde immer gefährlicher: Das ist Blödsinn. Und ein weit überwiegender Teil der Wiener ist auch klug genug, das zu realisieren.

Die Gesundheitsversorgung ist überall auf hohem Niveau

Solange der Wiener am Sonntag mit einer Verkühlung ins AKH gehen kann, ist er wohl zufrieden. 88 Prozent sagen im Eurobarometer, sie wären mit der medizinischen Versorgung in Wien zufrieden. Damit nimmt Wien unter den europäischen Hauptstädten Platz 3 hinter Amsterdam und Brüssel ein. Die Studie der Stadt Wien zeichnet ein ähnliches Bild. Auch ein Zeichen, dass Wien offenbar vieles richtig macht: Die Zufriedenheit bezüglich der Nähe von Gesundheitseinrichtungen schwankt zwar je nach Bezirk, aber nie mehr als 10 Prozentpunkte. Allerdings geben 48 Prozent der Wiener an, Gesundheit wäre eine der dringendsten Zukunftsfragen ihrer Stadt. Das heißt: Der Status Quo ist OK, aber man darf das nicht schleifen lassen.

Die Wiener Linien funktionieren

Wien hat in der Europäischen Union den Spitzenplatz in der Zufriedenheit mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln inne. 95 Prozent der Befragten sind damit zufrieden. Viel mehr braucht man dazu eigentlich auch nicht sagen. Wenig überraschend sind die Wiener in den Innenstadtbezirken zufriedener damit als in den Außenbezirken. Die U6 wurde nicht gesondert gemessen.

Die Wiener sind mit ihren aktuellen Jobs zufrieden, schätzen aber den Jobmarkt als schlecht ein

Das Bild der Wiener auf den Jobmarkt lässt sich ungefähr so beschreiben: Mir geht's eh OK, aber insgesamt ist es mäßig. Laut Eurobarometer würden nur 45 Prozent der Wiener sagen, in ihrer Stadt fände man einfach einen Job. Andererseits gaben in der Studie der Stadt Wien 79 Prozent an, dass sie mit ihrer Jobsituation zufrieden seien. Wobei auch da die Teilergebnisse interessant sind: Die Wiener finden ihre Arbeit interessant, mehr als die Hälfte ist sogar mit ihrem Einkommen zufrieden. Die Aufstiegschancen werden allerdings schlecht eingeschätzt.

Die Einschätzung der Wohnsituation wirft Fragen auf

Hier zeigt sich ein eher überraschendes Bild. Im Eurobarometer sagen nur 18 Prozent der Wiener, es sei in der Stadt möglich, eine gute Wohnung zu einem vernünftigen Preis zu finden. Dass der sehr regulierte Wiener Wohnungsmarkt da so nah an Städten wie London (11 Prozent) ist, überrascht etwas. Und es widerspricht auch sehr stark der Studie der Stadt Wien, der zufolge 81 Prozent der Wiener mit ihrer Wohnsituation im Allgemeinen zufrieden sind. Eine Zahl, die seit 1995 immer weiter steigt und auch in Bezirken wie Fünfhaus noch bei knapp 75 Prozent liegt. Dafür habe ich ehrlich gesagt keine Erklärung. Klar ist: In den letzten zehn Jahren entfiel fast die Hälfte des Bevölkerungswachstums in Österreich auf Wien. Die Wohnsituation ist eine der größten Aufgaben, die diese Stadt zu bewältigen hat.

Die Bildungssituation in Wien ist oasch

Bildung ist der Bereich, in dem die Wiener ihrer Stadt die schlechtesten Noten ausstellen. In Wien sind laut Eurobarometer 71 Prozent der Menschen mit den Bildungseinrichtungen zufrieden. Das sind weniger als in Manchester, Krakau oder Ljubljana. Ein etwas besseres, aber vor allem differenziertes Bild zeigt die Studie der Stadt Wien: Waren mit der Volksschule noch 87 Prozent zufrieden, waren es mit den Hauptschulen nur noch 63 Prozent. Hier sind die Zahlen allerdings durch die Einführung der Neuen Mittelschule nur noch bedingt zu gebrauchen. Bildung ist übrigens laut den im Eurobarometer befragten Wienern das dringenste Zukunftsproblem der Stadt.

Die Wiener trauen ihrer Stadtverwaltung nur so halb

Nur 67 Prozent der Wiener geben an, dass ihre Stadt effizient verwaltet wird, und nur 76 Prozent halten die Verwaltungsorgane für vertrauenswürdig. Das ist wenig. Um fair zu bleiben: Im Ranking der EU-Haupstädte nimmt Wien damit allerdings den zweiten beziehungsweise dritten Platz ein. Hier können die Österreicher tatsächlich einiges von den Schweizern lernen: In Zürich sind 90 Prozent der Bewohner mit ihrer Verwaltung zufrieden.

Sonstige Ergebnisse

Die Wiener sind mit dem Zustand der Gebäude und Straßen und dem Angebot an Plätzen, Fußgängerzonen und sonstigem öffentlichen Raum sehr zufrieden. Im Bezug auf kulturelle Angebote ist Wien europaweit auf Platz eins. Dafür ist Wiens großes Problemthema die Integration. Nur 44 Prozent glauben, dass die in Wien lebenden Migranten gut integriert sind. Damit liegt die Stadt hinter weit hinter London, Madrid und sogar Glasgow. Darüber hinaus sind nur 76 Prozent der Wiener sind mit dem Angebot an Einkaufsmöglichkeiten zufrieden.

Die Zahlen zeigen recht deutlich, dass Wien auch über das „Yeah, wieder lebenswerteste Stadt der Welt!"-Geschreie hinaus eigentlich eine sehr leiwande Stadt ist. Es soll hier nicht darum gehen, die Wiener Stadtverwaltung unkritisch abzufeiern. Es ist nach Jahrzehnten der SPÖ-Herrschaft extrem wichtig, den Strukturen und den Handelnden streng auf die Finger zu schauen. Das zeigen nicht zuletzt Fälle wie der um die Semmelweis-Pavillons. Aber offenbar haben die Wiener Regierenden in den letzten 150 Jahren einiges richtig gemacht. Das darf und muss man auch sagen.

Nächtigungszahlen und Aufmerksamkeit aus dem Ausland wie das Cover im Zeit Magazin zeigen ein Außenbild auf die Stadt. Das ist nicht unwichtig. Wichtiger ist allerdings, dass auch die Wiener selbst mit ihrer Stadt zufrieden sind. Das ist offenbar im Großen und Ganzen der Fall.

Wenn man sich durch die Zahlen wühlt, fällt eine Sache besonders auf: Natürlich lebt es sich auch in der Bundeshauptstadt mit mehr Geld besser. Aber die Unterschiede sind (noch) nicht gigantisch. Wien schafft es offenbar auch, Menschen mit niedrigeren Einkommen ein lebenswertes Leben zu bieten. Und das ist etwas, auf das man als (Wahl-)Wiener durchaus ein bisschen stolz sein kann.

Dem Autor auf Twitter folgen: @L4ndvogt