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Sarajewo, Kiew, Guatemala und die fotografische Trauma-Therapie

Giles Clarke ist der Fotograf hinter den olympischen Ruinen von Sarajewo, den Gesichtern der Kiew-Krise und dem geheimen Gefängnis in El Salvador. Letzte Woche hat er bei uns vorbeigeschaut und uns mit mehr beunruhigenden Bilder und Geschichten...

Alle Fotos von Giles Clarke/Getty Reportage

Letzte Woche stand plötzlich Giles Clarke in unserem Wiener Büro. Das klingt auf Anhieb vielleicht nicht unbedingt nach einer substanziellen Story, weil man dafür zuerst wissen muss, wer Giles Clarke ist. Aber wenn ihr ein bisschen durch unser Archiv stöbert, euch seine offizielle Website anseht, oder auch die Fotoreportagen durchklickt, die er bereits für Getty Images gemacht hat, wird ziemlich schnell klar, dass es sich bei Giles um jemanden handelt, die man nicht ohne Interview ziehen lassen kann.

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Giles Clarke ist Fotograf, Menschenrechtsaktivist und der Mann, der euch unter anderem bereits ein geheimes Gefängnis in El Salvador, die Gesichter aus Kiews Kampfzone und zuletzt die zerbombten Ruinen von Sarajewos Olympischen Spielen auf den Bildschirm brachte.

Wie genau es zu seinem Besuch kam, weiß ich immer noch nicht, aber offenbar hat das Ganze mit seiner Familiengeschichte und dem Umstand, dass sein Stiefvater der in Wien lebende Dirigent Caspar Richter ist, zu tun. Wir haben den Voice Recorder eingeschaltet und uns ein paar ziemlich verstörende Bilder zeigen und ebensolche Geschichten erzählen lassen. Das Nachfolgende ist also für Leser unter 5 Zentimetern geistiger Hornhaut nicht geeignet.

VICE: Was mich bei deiner Sarajewo-Story fasziniert hat, war dein Zugang zum Thema. Im Gegensatz zu den Fotografen, die nur die leeren Ruinen eingefangen haben, hast du Menschen aus der Region in den Ruinen porträtiert. Kannst du uns vielleicht ein bisschen darüber erzählen?
Giles Clarke: Sicher. Wenn ich mich einer neuen Story nähere, versuche ich immer, einen besonderen Zugang zu finden. Die Ruinen von Sarajewo habe ich zum ersten Mal vor einigen Monaten gesehen und zwei Wochen, bevor die Geschichte rauskam, fielen mir diese Bilder plötzlich wieder ein. Ich dachte mir, das könnte eine gute VICE-Story werden, quasi als Alternative zur Abschlusszeremonie in Sotschi.

Warum hast du Bilder von Sarajewo gemacht und nicht von Sotschi selbst?
Weil ich die spiele in Sotschi und das Internationale Olympische Komitee vulgär finde. Um die 35 Milliarden Dollar wurden in dieses Event gepumpt. Es geht auch nicht nur um die Olympischen Spiele, es geht um mehr als das—da passiert so viel unter der Hand, Verträge werden sich gegenseitig zugeschanzt, für die Arbeiter herrschen beinahe sklavenartige Bedingungen und dann gibt es da noch die völlig verlogene Position Russlands in Menschenrechtsfragen. Diese komplette Vernachlässigung in Kombination mit der unglaublichen Szenerie und dem Krieg, der vor zehn Jahren durch Sarajewo gewütet ist, haben das Ganze für mich zu einer erzählenswerten Geschichte gemacht.

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Wie ist es überhaupt dazu gekommen?
Ich war gerade in Amsterdam und habe an einer Story über die „We are here“-Flüchtlinge gearbeitet, die gegen ihre Unterbringung in einem Gefängnis protestiert haben. Von hier aus habe ich mich auf den Weg nach Sarajewo gemacht. Noch in den USA bin ich bei der Recherche auf ein Pärchen gestoßen, das durch die gesamte Krise vor Ort in der Region gelebt hat.

Auf welchem Weg hast du sie kennengelernt?
Ich habe Tanya auf Facebook getroffen. Social Media funktioniert für mich oft als Recherche-Tool. Tanya war 17 und ihr Ehemann sogar noch ein bisschen jünger. Durch sie habe ich auch ihre Mutter und die andere ältere Dame im Artikel kennengelernt. Als ich in Sarajewo ankam, kannte ich sie schon ziemlich gut. Zu dem Zeitpunkt war sie auch gerade im achten Monat schwanger. Als sie mich am Flughafen abholten, fragte ihr Mann Kenan, was ich zuerst tun möchte. Ich sagte: “Wie wär’s, wenn wir sofort mit dem Shooting anfangen?” Beim ersten ausgebombten Gebäude sind wir stehengeblieben und haben losgelegt.

War es für die beiden das erste Mal in den Ruinen oder haben sie die Gegend schon davor erforscht?
Das ist eine interessante Frage. Ich bin eine Woche mit ihnen vor Ort herumgereist. Der Großteil von Sarajewo wurde neu aufgebaut; trotzdem sind die Narben und Spuren des Krieges natürlich nach wie vor sichtbar. In den meisten kann man ganz einfach herumspazieren. Überall sind Einschusslöcher und Granatenkrater. Alles war überwachsen. Einige der Ruinen sind jetzt Zufluchtsorte für Drogenabhängige, die scheinbar das neueste Problem der Stadt sind.
Als ich Tanya fotografierte, war sie ziemlich froh darüber, ihre Geschichte zu erzählen. Sie sagte „Dieser Krieg hat die besten Jahre meines Lebens genommen.“ Wie die meisten Einwohner Sarajewos waren auch Tanya und ihre Familie quasi drei Jahre in ihrer Wohnung gefangen. Die Bedingungen waren fürchterlich, es gab keinen Strom, kein Wasser und nur wenig Essen. Sie bastelten sich schwimmende Kerzen aus Schuhbändern und Wachs. Tanyas Mutter war Hebamme—sie entband über die Olympischen Spiele von 1984 und den Krieg von 1990 bis 1994 durchgehend Kinder. Im Krieg meistens ohne Betäubungsmittel und ohne Hilfsmittel. Ihre Geschichte ist wirklich unglaublich.

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Die ganze Geschichte wirkt für mich wie eine Aufarbeitung für die Opfer des Krieges—eine Art Trauma-Therapie—, was auch der wesentlichste Unterschied zu den rein sensationsgeilen Fotogalerien anderer Fotografen darstellt.
Ja, das war meine Idee. Einmal waren wir bei einem ehemaligen Hotel, in dem früher die Athleten und Skifahrer untergebracht waren. Danach, im Krieg, wurde daraus ein bosnisch-serbisches Gefängnis.
Eine andere Frau aus der Geschichte, Szezena, arbeitete bei den Olympischen Spielen und erzählte mir, was für eine fantastische Zeit das für Bosnien gewesen wäre. Zehn Jahre später wurde daraus ein furchtbares Kriegsgebiet. Sie zeigte mir die Grube, in der sie ihren Mann damals gefangen gehalten haben. Er kam nur frei, weil eine der Wachen ihn gehen ließ—die beiden kannten sich noch aus der Grundschule. Der Mann marschierte über 30 Kilometer durch das Minengebiet, versteckte sich vor den bosnisch-serbischen Patrouillen und erreichte Sarajewo einige Tage später.

Klingt, als hätten sie dich durch die Ruinen wie durch ein Kriegsmuseum geführt und dazu ihre Lebensgeschichte erzählt.
Ja, die Menschen sind erstaunlich offen, was diese Geschichten angeht. Allerdings haben sie mir auch erzählt, dass sie unter einander nicht mehr über die Ereignisse von damals sprechen. Wenn sie unter sich sind, wollen sie einfach nur noch vergessen. Wer sollte ihnen das vorwerfen? Aber in meiner Gegenwart waren sie froh, die Geschehnisse gegenüber einem Außenstehenden neu aufzurollen. Hier in diesem Bild sieht man die drei auf dem Olympischen Siegerpodest stehen. Sie waren meine Hauptpersonen. Tanya hatte eine einzigartige Perspektive auf die Sache, weil sie Übersetzerin ist, in Afghanistan gearbeitet hat und am Ende des dortigen Krieges für die UNO tätig war.

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Ein Podest-Bild von den Sotschi-Gewinnern wäre für dich aber nicht denkbar.
Nein, das interessiert mich nicht. Eine individuelle, persönliche Story wäre vielleicht denkbar gewesen, aber nichts zu den Olympischen Spielen.

Weil jede zusätzliche Publicity für Sotschi ein falsches Signal gewesen wäre?
Ein Teil von mir sagt „Fick das IOC“. Ich wollte einfach Sarajewo aus einer anderen, unterberichteten Perspektive zeigen.

Dasselbe Prinzip hast du auch in Kiew angewendet.
Ich habe mich auf die Menschen an der Front eingeschossen und nicht auf den unglaublich komplexen politischen Scheiß, der im Hintergrund abging. Jeder hat versucht, der Situation in Kiew ein Label aufzudrücken. Ja, es gibt kleine Gruppen an Neo-Nazis und einige der Sympathisanten haben nun Sitze in der neuen ukrainischen Regierung. Aber zum Großteil ist das, was man davon mitbekommt, einfach nur der Westen, der hier versucht, Leute in ihrem eigenen Interesse gegen Russland aufzubringen. Am Ende geht es wie immer darum, wer die Macht hat und wer das Geld und die Ressourcen kontrolliert.
Deshalb wollte ich mich erst recht lieber auf die Menschen konzentrieren, die ihr Leben auf der Straße und an den Barrikaden riskieren. Was ich versuchte, war, einerseits Fotos und andererseits Wortmeldungen und Hintergrundinfos von den Leuten zu bekommen. Im Fall des Aufmacher-Fotos für die zweite Kiew-Geschichte habe ich einfach die Protestierenden an den Toren des ausgebrannten Dynamo Kiew Stadions fotografiert. Ich musste dafür nichts inszenieren—ich habe mich einfach umgedreht und das Motiv war schon genauso da. Manchmal passieren die Bilder einfach. Ein besonders gutes Bild ist es dann, wenn es die Story untermalt.

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Deine Bilder haben auch immer sehr viel Emotion, obwohl sie nicht überdramatisieren.
Ich war genau zwischen den beiden großen Kämpfen vor Ort. Als ich am 28. Jänner ankam, waren die ersten ermordeten Demonstranten gerade ein paar Tage her. Es herrschte eine Pattsituation. Außerdem war es scheißkalt bei minus 20 Grad und weniger. Die Stimmung war am Boden und wir bewegten uns alle nur sehr langsam. Es war nicht unbedingt Angst, aber doch eine gewisse Bestimmtheit, die hinter der Frontlinie für Anspannung sorgte.

Wie muss man sich deine Arbeit vor Ort vorstellen? Hattest du auch irgendwelche Erlebnisse mit der Staatspolizei?
Nein, mit der Polizei hatte ich selbst als Journalist keine Konfrontationen. Demonstranten hatten den Stadtkern abgesperrt, hier gab es also gar keine Polizei. Drinnen konnten wir uns völlig frei bewegen. Meistens war es kein Problem, ein Foto zu machen. Ich habe einfach gefragt und in fast allen Fällen bekam ich auch das Einverständnis. In Regierungsgebäuden war das freilich eine völlig andere Sache. Wir mussten von den jeweils Zuständigen die offizielle Erlaubnis einholen, was ich natürlich auch getan habe. An einem Abend besuchte ich eine ehemalige Bibliothek, die in ein provisorisches Lazarett für Demonstranten umfunktioniert worden war. Hier verwendeten wir einfach die Hygienemasken, um die mutigen Kämpfer und Helfer nicht zu gefährden. So ist das manchmal—auch in den absurdesten Situationen musst du daran denken, die Privatsphäre und Sicherheit der Personen nicht zu verletzen.

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Hattest du sonst schon mal Probleme mit der Polizei im Rahmen deiner Arbeit als Journalist?
Ja, erst vor kurzem. Gleich nach Sarajewo war ich in der Türkei und habe die dortigen Proteste in einem völlig anderen Umfeld fotografiert—aber mit derselben Dringlichkeit und den gleichen anhaltenden Kämpfen und Wasserwerfern. Fast alle gingen um 23:00 Uhr nachhause, nur ich blieb noch draußen. Eine halbe Stunde später kamen plötzlich Undercover-Cops auf mich zu. Sie griffen mich an und wollten meinen Reisepass, den ich zum Glück nicht dabei hatte, sonst würde ich jetzt vielleicht nicht hier mit dir sitzen. Ich habe versucht, auf Twitter, Facebook und Instagram zu posten, aber sie haben das Internet so gut wie abgedreht.

Ist die Zivilpolizei hier im Großeinsatz oder war das deines Wissens ein isoliertes Ereignis?
Erst vor kurzem haben sie 28 Aktivisten eingesperrt, weil die angeblich soziale Kanäle zum Aufstacheln von Gewalt genutzt hatten. Andere Journalisten hat es definitiv auch noch schlimmer erwischt als mich. Dieses Mal wurde ich aber definitiv gezielt angegriffen. Das Problem ist weniger die physische Gewalt, sondern dass sie dir etwas anzuhängen versuchen.

Welche Projekte stehen bei dir als nächstes an?
VICE veröffentlicht eine Geschichte von mir zum Minenarbeiter-Widerstand in Guatemala, da aktuell die Besetzung der „La Puya“-Community ihr zweijähriges Jubiläum hat. Außerdem habe ich in Guatemala einen Sanitäter beim Nachteinsatz in Guatemala City begleitet—dazu wird es in Kürze eine VICE-Videodoku geben. Das Ganze ist ziemlich wild. In Guatemala City gibt es Millionen von illegalen Waffen auf der Straße und es kostet nur 70 Dollar, einen Menschen umbringen zu lassen. Ich war bei Situationen dabei, wo nicht mal Polizei vor Ort war.

Was noch?
Aktuell arbeite ich an einer Doku über die digitale Zivilisation für die Canadian Film Commission, bei der ich einen Mann begleite, der nach 35 Jahren aus dem Gefängnis kommt und über Facebook Freunde sucht. Und hoffentlich kommt auch noch die eine oder andere Geschichte für VICE nach. Ich mag es, wie VICE mich nicht zensiert und meine Arbeiten als klassischen Fotojournalismus layoutet.

Ein grundlegendes Thema deiner Arbeit sind scheinbar auch unglaubliche Menschen, die manchmal wahnsinnige Dinge tun.
Diese Art von Wahnsinn fasziniert mich einfach, so wie auch bei dem mobilen Arzt in Guatemala—die Arbeit ist unglaublich gefährlich, aber sie machen sie trotzdem. Der Doktor, Jorge Chui, bekam letzte Woche erst den Arm von Gang-Mitgliedern gebrochen und ist trotzdem schon wieder auf der Straße unterwegs, um zu helfen. Auf der Straße gibt es nicht selten Menschenmengen rund um die Opfer von Schießereien. Als Fotograf muss man sich diesen Dingen völlig neu stellen, aber diese Menschen sehen so etwas jeden Tag. Andere Fotografen werfen sich in den Kugelhagel, aber für mich ist das nicht alltäglich. Ich trage auch einen Helm, wenn ich Rad fahre. Mir geht es darum, die Leute zu zeigen, die involviert sind—die nichtbesungenen Helden.

Danke für das Gespräch.

Folge Markus auf Twitter: @wurstzombie