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Mit dem Baseballschläger gegen Nazis: Aufwachsen in einer Berliner Türkengang

Kind von Immigranten, Gangmitglied, jüngster Bankräuber Deutschlands: Wir haben uns mit dem ehemaligen „36 Boy" Killa Hakan über seine Vergangenheit unterhalten.
Bild von Killa Hakan
Foto: Grey Hutton

In Berlin sind die 36 Boys Legende. Die Gang bestand hauptsächlich aus den Kindern türkischer Gastarbeiter und hatte ihr Revier um das Kottbusser Tor und die Naunynstraße. In den 80ern sorgte ihr Name regelmäßig für Schnappatmung bei Berliner Innenpolitikern, Polizeichefs und Spiegel-Reportern. Später wurde sie zum Inbegriff für das harte Leben in den Westberliner Migrantenkiezen. Anfangs haben die Mitglieder diesen Kult selbst noch nach Kräften gefördert, indem sie zum Beispiel einen Fan-Shop direkt am Kottbusser Tor gegründet haben. Mit der Zeit führte das aber dazu, dass sich immer mehr Leute mit dem Namen schmücken wollten, die eigentlich nichts mit dem Leben der Gang zu tun hatten—Leute wie der Ex-Rapper und Terrortourist Deso Dogg, zum Beispiel.

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Hakan Durmuş, auch „Killa Hakan" genannt, war von Anfang an dabei. Wenn man wissen will, wie es sich wirklich anfühlt, als Mitglied einer Kreuzberger Türkengang aufzuwachsen, gibt es also kaum einen besseren Gesprächspartner—schließlich lebt Hakan immer noch in der Naunynstraße. In Zeitungen aus der Zeit taucht er immer mal wieder als „Rädelsführer" der Boys auf—auf jeden Fall brachten ihm seine diversen Delikte (vor allem Raubüberfälle) insgesamt fast vier Jahre im Gefängnis ein. Irgendwann fand er aber zum Rap, schloss sich der HipHop-Crew Islamic Force an und hat seitdem mehrere Solo-Alben veröffentlicht—das letzte heißt Son Mohakan („Der letzte Mohakaner"), darauf singt er auf Türkisch vor allem über sein Lieblingsthema—Kreuzberg.

Ich habe mich mit ihm über seine Kindheit im Berliner Gastarbeitermilieu, Massenschlägereien zwischen Türkengangs und über Möchtegern-36er wie Deso Dogg und Tim Raue unterhalten.

VICE: Hakan, warum heißt du eigentlich Killa?
Killa Hakan: Na, weil ich immer korrekt war. Wenn was schön war, hat man früher gesagt: „Mann, Killa Auto, Killa Mädchen." Killa Hakan!

Bist du in Kreuzberg geboren?
Ich bin Ur-Kreuzberger. Geboren im Urbankrankenhaus, von da bin ich sofort in die Naunynstraße gekommen. Besser geht's nicht mehr.

Wie sah die Gegend hier damals aus?
Das war dunkel hier. Das war ja hier direkt an der Mauer. Keiner wollte hier was mieten. Nur die Kanaken sollten dahin, die machen das schon. Und wir haben das gemacht!

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Wie war das, damals hier als Kind von Gastarbeitern aufzuwachsen?
Wir sind jedes Jahr in die Türkei gefahren. Also, wir waren hier in der Schule und so, aber wir wussten von den Eltern, wenn wir genug Geld für ein Haus haben, dann gehen wir zurück in die Türkei. Mit dem Gedanken sind wir aufgewachsen, jeder von uns.

Die wollten auch wirklich gehen, aber dann kam '82 der Putsch. Da haben die in der Türkei gefragt: „Bist du links oder rechts?" Wenn du falsch geantwortet hast, warst du weg. Also haben die Eltern gesagt: Wir lassen unsere Kinder in Europa. Wer will schon seine Kinder verlieren? Also mussten wir plötzlich alle umdenken, da mussten wir uns schon hart umstellen.

Waren deine Eltern streng?
Mein Vater sehr. Ich hab immer Prügel bekommen. Aber der ja auch, der hatte das nicht anders gelernt, der Hornochse. Mein Vater war türkischer Meister im Ringen, du kannst dir ja vorstellen, was der mit mir gemacht hat. Ich bin gegen die Wand geflogen und runtergerutscht. Man hat nicht gesprochen, das kannten unsere Eltern nicht.

In der Volksschule habe ich—ohne böse Gedanken, ich schwör's dir—den Weihnachtsmann geklaut. Meinem Vater haben sie das gesagt. Der wollte meine Hand mit einer Axt abhacken. So ist das bei Türken. Das war das erste Erlebnis, wo ich schwören musste, dass ich nie klaue. Ich hab ihm das geschworen, und ich hab auch nie mehr geklaut. Aber dafür habe ich dann geraubt.

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Was ist denn der Unterschied zwischen Klauen und Rauben?
Der Unterschied ist, beim Klauen weißt du nicht, wo ist das hin, wer war das? Beim Raub steh ich vor dir—du weißt genau, wer das war. Na, ist alles beides scheiße.

Wie hat das mit der Gang angefangen?
Da muss ich 12, 13 gewesen sein. Wie gesagt, als der Putsch kam, da wussten wir erstmal alle nicht, was tun. Wir waren sauer. Wir hatten nicht mal deutsche Freunde—was sollen wir mit denen, wir gehen ja sowieso wieder, dachten wir vorher.

Aber in die Diskos wollten wir natürlich. Nur: Wir sind ja Moslems, wir hatten das nicht gelernt. Und wir sind natürlich nicht reingelassen worden—wer will schon sechs, sieben Kanaken reinlassen? Immer gab es Stress, immer gab es Scheiße. Da haben wir gesagt: „OK, ihr lasst uns nicht rein? Wir kommen aber rein." So kam dann die Gang.

Was habt ihr dann gemacht?
Erstmal: Kottbusser Tor sichern. Erstmal klarmachen, das hier ist unseres. Wir wollten, dass uns da, wo wir wohnen, jeder akzeptiert. Durch die Gang warst du halt nicht mehr alleine, da waren dann noch vier andere, die waren genau so wie du. Dann kommt es auch nicht mehr so hart, wenn jemand „dreckige Kanaken" sagt. Dann macht dich das stark, das hört sich dann ganz anders an. So hat das ganz früher angefangen, die 36 Boys.

Hakan (rechts) mit einem Freund. Foto: Privat.

Wie viele wart ihr ungefähr?
Irgendwann wollte jeder mitmachen, aber wir waren eine Kerngruppe von so 20 Leuten. Alle anderen waren Mitläufer.

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Waren das alles Türken?
Ja, eigentlich alle. Es gab eine palästinensische Familie, einen Jugoslawen, solche Sachen halt. Aber hauptsächlich Türken.

Was habt ihr an einem normalen Tag so gemacht?
Ich bin aus der Schule gekommen und sofort auf die Straße. Wir hatten dann so Gruppen, haben uns Essen geholt, und dann kommt irgendeiner auf eine Idee und macht das. Ich bin halt irgendwann auf die Sache mit dem Einbruch gekommen. So wurde ich zum Räuber.

Was hast du denn ausgeraubt?
Läden, Juweliere, Banken. Ich bin der jüngste Bankräuber Deutschlands, weißt du das? Die Deutsche Bank in der Prinzenstraße, die ist jetzt geschlossen. Nach uns haben die die weggemacht. Da war ich 17 oder 18, glaube ich.

Wie ging das?
Ganz einfach. Die haben da gerade Geldbomben gebracht. Wir wussten das, wir hatten die tagelang beobachtet. Dann sind wir genau dann rein, der Kumpel hat die Säcke weggerissen, ich habe die mit der Gaswaffe in Schach gehalten, damit die nicht schreien oder hinterherkommen. Dann habe ich in die Luft geschossen und bin selber weg. Damals waren überall Löcher, du konntest hier rein und da raus. Heute haben sie alles zugemacht.

Mit dem geraubten Geld habe ich mir einen Mercedes gekauft—mit zwei Kissen drin, damit ich überhaupt zu sehen war. Das war eine Zeit, wo mir Gott und alles egal war, ich kannte nichts, auch keine Angst. Da habe ich die schlimmsten Raubtaten gemacht. Aber ich habe für alles gesessen, für alles gebüßt.

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Gegen wen musstet ihr euch auf der Straße so durchsetzen?
Im Wedding, in Moabit oder Charlottenburg waren ja genau so Gruppen wie wir. In Neukölln waren die Araber. Im Wedding waren die Black Panthers. Die Streetfighters in Tegel. Die haben auch ihre Gegend gesichert. Aber wir wollten wissen, wer die besten Brüder sind, und dann gab es Kämpfe, Türken gegen Türken. Wir waren die Besten, hat man ja gesehen.

Und die Araber aus Neukölln?
Mit denen hatten wir auch Stress, richtig krass. Die waren auch gut, die hatten viele. Aber wir waren stärker, wir haben die auf jeden Fall niedergemacht. Aber jetzt sind wir Freunde—jeder ist erwachsen jetzt.

Eine alter Spiegel TV-Beitrag über die „Ausländer"-Gangs.

Hattet ihr auch Ärger mit Deutschen? Mit Nazis zum Beispiel?
Hier waren keine Nazis, die haben sich nicht getraut. Aber einmal war ich nach der Wende mit einem Araber aus unserer Gegend in der Kochstraße, der war im Rollstuhl. Wir hatten eine Schlägerei an dem Tag, aber die anderen sind nicht gekommen, also hatte ich meinen Baseballschläger dabei, der war fast größer als ich.

Da habe ich zum ersten Mal Nazis gesehen, so Skinheads. Ich hab meinen Augen nicht getraut—laufen da lang, als ob die Straße ihnen gehört. Ich hab sofort „Hey!" gerufen, und zum Araber: „Geh und hol die anderen!"

Dann kommen die langsam, ich hab meinen Baseballschläger in der Hand. Ich schaue immer nach hinten, ob die anderen kommen. Ich meine, ich hätte vielleicht einen erwischt, aber die acht, die hätten mich gefickt. Die waren kurz davor, mich zu schnappen—aber dann seh' ich Muci, wie er über ein Auto springt. Dann war auf einmal die ganze Truppe da, da sind die abgehauen. Aber wir mussten dafür büßen, weil dann die Polizei kam.

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Wann hattest du das erste Mal richtig Ärger mit der Polizei?
Mit 16 oder 17 war ich das erste Mal im Knast. Wegen einer Messerstecherei mit den Black Panthers. Weil ich noch so jung war, haben die mich für ein paar Wochen in ein geschlossenes Heim für schwer Erziehbare gesteckt. Zwei Wochen nachdem ich rauskam, war ich gleich wieder drin, wieder für die gleiche Scheiße. Beim dritten Mal bin ich dann ins richtige Jugendgefängnis gekommen.

Wie lange warst du insgesamt im Gefängnis?
Drei Jahre, neun Monate und dreizehn Tage.

Das einzige Foto von Hakan im Gefängnis. Foto: Privat.

Wie ist es dir da drin gegangen?
Ich war der Erste von den Gastarbeiterkindern aus Kreuzberg im Knast. Da waren aber schon Black Panthers aus dem Wedding. Ich habe da viel gelernt. Ich habe alle gefragt, warum sie drin sind, und habe viel gelernt, wie man Geld macht. Zum Beispiel, wie man Tresore macht. Oder bei Privatleuten einsteigt.

Ich war auch der Erste, der sich tätowieren lassen hat. Ich hatte sowieso Narben—von Fensterbrüchen, von Rasierklingen, von Flaschen—, da dachte ich, Tattoo sieht im Sommer besser aus.

Was haben deine Eltern dazu gesagt, als du im Gefängnis warst?
Die waren schockiert. Keiner aus der Familie hatte jemals mit der Polizei zu tun gehabt, das mussten die erstmal verkraften. Aber die waren ja auch nie da! Ich habe meine Eltern nie gesehen, die haben doch Tag und Nacht gearbeitet, zwei Schichten. Die kamen dazwischen einmal eine Stunde um halb fünf oder fünf, um eine halbe Stunde zusammen zu essen.

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In diesen 30 Minuten musste alles mit rein: Da musste nach der Schule gefragt werden, da musstest du deine Schläge bekommen, alles in der halben Stunde. Manchmal habe ich mich einfach vorher dick angezogen, so hab ich die Schläge besser ausgehalten. Was sollte mein Vater auch machen? In einer halben Stunde kann man nichts erklären. Also besser Schläge. Aber das hat mich noch aggressiver gemacht, so dass ich dann draußen jemand anderen dafür bestraft habe.

Was ist das für ein Zeitungsausschnitt? Was ist damals passiert?
Wir haben damals mit der Polizei richtig Schlägerei gemacht. Die Bullen waren damals so hektisch drauf. Keine drei Ausländer durften zusammen auf der Straße laufen. Da war ein Bruder von uns, der war bärenstark, aber immer ruhig, hatte mit nichts was zu tun. An dem Tag wollten die Bullen ihn kontrollieren, ohne Grund. Er hat Nein gesagt. Der lässt sich nicht kontrollieren. Die haben ihn nicht bewegen können, den Ochsen. Also kommt noch ein Wagen, die kamen nicht klar.

Tja, und dann kamen unsere Jungs, der, und der, und der Bruder von dem; die Schwestern und die Mütter haben Sachen aus den Fenstern geworfen. Die Bullen hatten 70 Wagen am Ende! Ich habe schon vieles erlebt, aber das war eine besondere Nacht—die ging nicht zu Ende. Die Bullen kamen nicht klar. Wir waren zu viele. Danach gab es dieses Gespräch, damit es nie wieder zu so was kommt. Und seitdem lassen die Bullen uns in Ruhe. Jetzt wird hier jeder in Ruhe gelassen, auch die Asylbewerber. Wir haben dafür gekämpft!

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Hattet ihr was mit Drogen zu tun?
Wir waren keine Dealer. Ich hab nicht gedealt. Aber dann kam eine Zeit, wo die Drogen ins Spiel kamen. Heroin ist auch durch einen 36er gekommen. Dann gab es auch keinen Zusammenhalt mehr. Darum ist Kottbusser Tor entstanden, die Junkies sind gekommen—und so sind auch viele 36er gefallen. Deswegen mach ich so 'ne Scheiße auch nicht.

Wie kam das eigentlich, dass Deso Dogg dann bei euch dabei war?
Deso? Der hatte nichts mit uns zu tun. Der hat keine Geschichte mit uns, damals auf der Straße. Das waren Leute, die wir abgezogen haben! Desos Bruder war einmal hier, ich habe den abgezogen, der kam nie mehr wieder. Das ist ja das Schlimme, dass jetzt 36 da immer mit reingezogen wird, als ob die die ganze Zeit da waren. Unsere Toten würden sich im Grab umdrehen.

Deso Dogg erzählt was von seiner Kindheit im Kiez.

Wie war das mit dem Koch, Tim Raue?
Der Tim ist ein super Junge. Der kam genau zu der Zeit, als wir eingeführt hatten: Jeder, der reinkommen will, muss 36 Sekunden von drei Leuten auf die Fresse bekommen. Die ersten fünf Sekunden war er gut … Aber dann hatte er schnell überall Platzwunden. Und dann sah ich ihn nie wieder. Die einzige Zeit, wo er bei den 36 Boys war, waren diese 36 Sekunden, wo er auf die Fresse bekommen hat, und der nächste Tag, wo seine Mutter da war. Das war seine Geschichte. Aber gut, über die 36 Sekunden Gangzeit konnte er dann ein Buch schreiben. Aber er ist ein guter Junge, ich habe Respekt vor ihm.

Ich habe gelesen, dass ihr euch am 1. Mai manchmal mit den Autonomen zusammengetan habt. Wie lief das ab?
Ja, das waren noch richtige Punks damals! Die waren organisiert. Da haben wir die Polizei drei Tage lang aus Kreuzberg gehalten. Wir waren Kinder, wir waren die Ameisen, die denen geholfen haben. Das kam denen gut. Drei Tage sind nicht kurz für ein Land wie Deutschland. Dann kamen sie aber richtig, mit Panzern. Aber drei Tage lang wurde hier alles ausgeraubt—Real, Waffenladen, alles. Das wird niemals wieder passieren, aber ich habe es gesehen.

Wie gesagt, das waren damals noch richtige Punks. Wenn einer Geld hatte, haben die alle auf der Straße getrunken. Heute kosten denen ihre Haare ja schon 180 Euro. Und dann geht er noch in die Kneipe saufen bis frühmorgens. Wo bist du ein Punk, du Hurensohn? Welcher Punk geht in die Kneipe und gibt sein Geld aus?

Wie ist das dann mit den 36 Boys zu Ende gegangen?
Knast, Tod. Viele sind durch die Drogen gestorben. Die meisten sind verheiratet, aber die wahrsten Brüder sind gestorben.

Bereust du irgendwas von dem, was du damals getan hast?
Nein, ich bereue das nicht. Das war damals wie ein rasender Fluss—du hältst dich an dem Boot fest, das ist die einzige Möglichkeit. Die Gang, das war die Familie. Ich hab meine Eltern ja nie gesehen. Von zehn Familien waren acht Familien so. Deshalb haben wir unsere Familie auf der Straße gegründet. Und deshalb waren wir auch die Größten—wir sind gestorben füreinander.