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Der Olympismus will die Menschheit reinigen

Wer ist eigentlich dieses IOC, das es schafft, die Spiele in Sotschi als Dienst am Weltfrieden zu verkaufen?

Foto reblogged vom IOC 

Nur am Rand sieht man die grauen Baumkronen, die sich die Piste entlang ziehen. Wie gewohnt hält die Kamera mitten auf die Fahrer, die an diesem eisigen Sonntagmorgen die steile Abfahrtsstrecke von Rosa Khutor hinab brausen. Und wie gewohnt empfängt die Sportler am Fuss dieser Piste, die wie eine weisse Nadel aus dem Hang sticht, ein rauschender Jubeldonner. Dass hier vor nicht allzu langer Zeit noch statt der, von Schweizer Skisternchen und SF-Olympiareporter Bernhard Russi entworfenen Rennstrecke ein unberührter Hang lag, spielt in diesem Moment keine Rolle.

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Und damit es so bleibt, dass weder Proteste noch anderweitige Unruhen die Idylle auf dem Veranstaltungsgelände oder der übrigen Umgebung stören, dafür sorgen mehr als 50 000 Sicherheitskräfte, Drohnen, U-Boote und SU-27 Kampfjets, die im Rahmen eines vom Kreml erlassenen drei Milliarden Euro Sicherheits- und Überwachungs-Massnahmenpakets mobilisiert worden sind.

Foto von Kevin Pedraja

Davon merkt man aber kaum etwas, wenn man die flimmernden Live-Streams unserer Sportkanäle mitverfolgt. Da gibt es neben Schneeperlen, Freudentränen und Medaillen keinen Platz für Niederlagen. Da spürt man nichts von der Nähe zu Südossetien oder Abchasien, auf deren Gebiet 2008 der „Fünftagekrieg“ zeitgleich mit den Sommerspielen in Peking ausgetragen wurde. Da wird weder über die Tatsache gesprochen, dass man in einem eigentlich ungeeigneten subtropischen Sumpfgebiet eine Wintersportkulisse für 50 Milliarden Euro aus dem Boden gestampft hat, noch darüber, wie stolz die Organisatoren mit ihrem Ökozertifikat „grüne Standards“ auf die—an ein Naturreservat und den Sotschi Nationalpark grenzende—Landschaft [pissen](http://www.tagesspiegel.de/sport/die-gruen-gewaschenen-spiele-olympia-in-sotschi-die-reinste-umweltkatastrophe/9410936.html ).

Neben dem schillernden Glamour der Olympiabauten verblasst die Monstrosität der „Aufwertung“, die dank dem 500-seitigen (Zwangsenteignungs-)„Gesetz 310“ aus der Sommerstadt in Kurzzeit ein profitables Olympiareich gemacht hat. „Putins Spiele“ zeigen nicht, wie westliche Bauherren, Investoren, Sponsoren und Medienpartner dank all dem absahnen. Immerhin, NBC hat für Medienrechte knapp eine Milliarde Dollar hingeblättert.

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Und dennoch war es wohl kaum je einfacher an Informationen über krude Machenschaften hinter Russlands Kulissen zu gelangen, wie heute, beim Schlagwort Sotschi. Mit einem Klick gelangt man im Web an mehr als genug Wissen zu den Hintergründen der Spiele, um das Wort Olympia nie wieder ohne Brechreiz in den Mund nehmen zu können. Nicht wenigen Sendern (etwa dem Schweizer Fernsehen) gelingt es, kritische Berichte Hand in Hand mit hinreissenden Live-Übertragungen auszustrahlen. Ist alles politisch korrekt.

Foto von Stefan Krasovski

Wahrscheinlich gibt es nicht gerade viele, für das IOC in Frage kommende Schauplätze, die eine dermassen grosse Angriffsfläche bieten. Dennoch sind die Winterspiele 2014 längst nicht die erste Massen-Sportveranstaltung, die zeigt, wie leer die Worte sein können, mit denen die moralische Keule geschwungen wird. Zum Beispiel Peking oder Johannesburg. Man feiert Ai Weiwei, man beweint Mandelas Ableben. Von Marikana oder von Sinopec hört man kaum mehr ein müdes Wort.

Das Credo ist simpel. Die alte Leier. Stichwort Greenpeace. Stichwort Russland, September 2013. Bei einer Protestaktion gegen die damals gestarteten arktischen Ölbohrungen durch Gazprom wurden 30 Personen verhaftet. Ein Jahr nach Pussy Riot. Ein halbes Jahr vor Sotschi. Keine einzige Aktion gegen die Shell-Bohrungen in Alaska verursachte jemals ein so gewaltiges Echo. Da blieb halt kein Platz, um die Förderpläne der EU von aserbaidschanischem oder turkmenischem Gas anzusprechen, oder, wie unser Erdgaskonsum Jahr für Jahr zunimmt.

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Sotschi demonstriert, wie die Schleifspur, die Olympia hinterlässt, vom Hype ihrer Veranstaltungen durchweicht wird. Dass Städte durch ihre Spiele Schulden in Milliardenhöhe anhäufen oder die Umwelt ihrer Umgebung niedermachen, ist keine Seltenheit. In Vancouver etwa wurden mehr als 100 000 Bäume abgeholzt, indigenes Land illegal beschlagnahmt und Verluste über einer Milliarde kanadischer Dollar gemacht. Im norwegischen Lillehammer gingen nach dem Event 40 Prozent der Hotels bankrott. Der japanischen Kleinstadt Nagano blieb ein Defizit von 14 Milliarden Euro. Die Liste ist lang.

Foto von Andjam79

Das Geschäft läuft stets mit derselben Routine ab: Nach der Ernennung zum Austragungsort bleibt den Regierungen sieben Jahre Zeit, um die erforderliche Infrastruktur herzustellen. Also kommen Investoren, Baufirmen und Vermarkter und errichten einen ökonomischen Koloss, der wie eine Adrenalinspritze in den Wertschöpfungskreislauf der Gegend eindringt. Die Blase von Lebensgefühl platzt dann etwa in dem Moment, in dem die IOC-Schlussfeierrede über den Erfolg der Spiele mit tosendem Beifall endet.

Auch dieses Jahr wird der Präsident weder erwähnen, dass das IOC die Spiele seit 1996 nur noch an Städte vergibt, die für Verluste selbst aufkommen, noch, dass seit 2004 nur noch Länder ausgewählt werden, die ein Gesetz zum Schutz des olympischen Emblems und der olympischen Bezeichnungen erlassen haben. Oder, dass das—als NGO steuerfreie—Komitee mit diesem Gesetz sämtliche Rechte an der Vermarktung olympischer Symbole alleine besitzt.

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Foto von Carmen Rodriguez

Immerhin, in seiner Charta—das Regelwerk und Manifest, dem sich alle Mitglieder per Eid verpflichten—erklärt das IOC wenigstens, für welchen Zweck es seine Mittel heiligt:

„Durch die Verbindung des Sports mit Kultur und Bildung zielt der Olympismus darauf ab, eine Lebensart zu schaffen, die auf der Freude an Leistung, auf dem erzieherischen Wert des guten Beispiels sowie auf der Achtung universell gültiger fundamentaler ethischer Prinzipien aufbaut.[…] Ziel des Olympismus ist es, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung des Menschen zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist. […] Die Ausübung von Sport ist ein Menschenrecht. […]Jede Form von Diskriminierung eines Landes oder einer Person aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Gründen ist mit der Zugehörigkeit zur Olympischen Bewegung unvereinbar.“

Olympismus ist mehr als ein Gedanke, mehr als eine Ideologie. Er ist quasi der Super-GAU des Sports. Die Olympische Bewegung umfasst weit mehr, als nur den in Lausanne beheimateten Altherrenverein des Internationalen Olympischen Komitees. Als ihr „oberstes Gremium“ vereint das IOC zahlreiche Sportverbände, nationale Komitees, Organisationskommitees, Funktionäre, Trainer, Verwalter und Kommissionen. Etwa die Ethikkommission oder die Kommission für Medienrechte. An den Versammlungen sind allein IOC-Mitglieder stimmberechtigt. Der Inhalt der Charta wird ausschliesslich von deren Vorstand bestimmt.

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Foto von

Die Mitgliederliste liest sich wie die Silvesterausgabe der Schweizer Illustrierten: Sepp Blatter, Fürst Albert der II. von Monaco, Prinzessin Nora von Lichtenstein, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani von Katar, Henry Kissinger, Ahmad Al-Fahad Al-Sabah, der kuwaitische Minister für Propaganda und für Energie. Generalsekretär des syrischen Parlaments, Samih Moudallal. Oder Franco Carraro, der 2006 wegen Schiedsrichtermanipulation aus der UEFA geschmissen wurde.

Das IOC legt einen hohen Wert auf ein transparentes Auftreten. So hat etwa Lamine Diack im Vorfeld der Spiele öffentlich ausgesagt „no problem whatsoever“ mit dem 2013 von Putin unterzeichneten Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“ zu haben. Etwas diskreter hingegen ist der Umgang des Gremiums mit inoffiziellen Schenkungen. Die ersten IOC-internen Sanktionen gegen Korruption wurden 1998 eingeleitet, nach 104-jährigem Bestehen des Komitees. Präsident damals war der für seinen „autokratischen“ Führungsstil bekannte Juan Antonio Samaranch, ehemaliges Mitglied der faschistischen Partei „Movimiento Nacional“ und (seit 1966—dasselbe Jahr in dem er dem IOC beitrat) Staatssekretär für Sport unter Franco. Das IOC bestimmt seine Mitglieder ausschliesslich selbst.

Demgegenüber verdeutlicht die Bewegung mit zahlreichen Unternehmungen den Ernst, der ihr am „olympischen Geist“ ihrer Charta gelegen ist. Zu den erklärten Zielen des „ethischen Auftrags“ des Olympismus gehört Chancengleichheit,  Gesundheitsschutz, „olympische Erziehung“, Umweltschutz und Friedensförderung. Die Integrität ihrer Vorhaben äussert die Bewegung mit der Durchführung von Veranstaltungen, die ihre Botschaft in olympischem Sinne transportieren. Das heisst, sie fördert ihre Ideale durch die Förderung ihrer Events. Wie etwa die „Spiele für den Frieden“ zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik 2004. Der Konflikt bleibt bis heute ungelöst.

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Foto von Martin Allen

Was bedeutet es, wenn eine Organisation, die kaum genug davon kriegt, ihr Image und Engagement als Friedensbringerin zu betonen, ihren main event an einem Schauplatz austragen lässt, der sich in unmittelbarer Nähe zu einem, vom Gastgeberland dauerhaft malträtierten, konfliktbeladenen Gebiet wie dem Kaukasus befindet? Und was heisst es, wenn die Stellungnahmen von Vereinspräsident Thomas Bach dazu für gewöhnlich darin bestehen, zu versichern, dass es den Terroristen dieser Regionen nicht gelingen wird, die Spiele zu stören?

Das heisst, dass das IOC es sich leisten kann. Genau so, wie sich die Bhopal Verantwortliche und offizielle Sotschi-Partnerin Dow Chemical als Umweltfee verkauft. Mit derselben Gelassenheit, mit der Putin im Vorfeld der Spiele Pussy Riot und Khodorkovsky begnadigt hatte. Für manche lassen sich Gesetze halt ebenso abändern, wie Slogans für andere.

Kaum eine Woche ist vergangen, seit im olympischen Fisht-Stadion die russische Flagge gehisst und das Feuer entzündet wurde. Im Gegensatz zu 1980 in Moskau boykottierte kein einziges Nationalteam die diesjährigen Spiele. 2014 wird ein grosses Jahr für Sotschi. Ein einiges Russland freut sich auf Winter-Paralympics, den G8-Gipfel und den ersten Grand Prix auf russischem Boden. Das IOC plant inzwischen die olympischen Spiele in Brasilien und Katar. Vielleicht sind ja dann ein paar Tscherkessen eingeladen.