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The Holy Cow Issue

Diese Bücher, Platten und Filme solltet ihr euch reinziehen

Eine Glittereingefasste Songbooksammlung, japanische Protestkultur, ein Asperger-Autist, der in einer Verbrechensschleife festhängt, und mehr findet ihr in unseren aktuellen Reviews.

Aus der The Holy Cow Issue


OFF THE RAILS: THE DARIUS MCCOLLUM STORY
Adam Irving

Mit seiner Uniform sieht Darius aus wie ein Busfahrer. Er redet wie einer. Er fährt Bus wie ein Busfahrer, macht ganz normal seine Strecken, überall in NY City, seit er 15 ist—ohne je für die Verkehrsbetriebe gearbeitet zu haben. Wenn er nicht Bus fährt, sitzt er dafür mal wieder im Knast. Darius McCollum weiß, wo man einen leeren Bus herbekommt. Er ist eine arme Sau. Der Film Off the Rails erzählt seine Geschichte: Als Kind wird Darius von einem anderen Kind mit der Bastelschere niedergestochen und stirbt fast, NYC ist hart. Er war schon immer eigenbrötlerisch, die Schere macht es nicht besser. Menschen stressen und verwirren ihn. Darius hat das Asperger-Syndrom, er braucht Routinen und Systeme. Spontan ist nicht so gut. Fahrpläne sind super. Eins kommt zum anderen, eine Karriere aus "transit-related crimes" nimmt ihren Lauf. Insgesamt wird er 32 Mal verurteilt. Er kommt raus und fährt wieder, geht nicht über Los, sondern direkt zurück in den Knast. Das System ist beleidigt. Es will ihn nicht als Busfahrer regulär beschäftigen. Irgendwann hat er eine Freundin, aber Darius bleibt lang weg, fährt heimlich Zug: "I prefer things over people", sagt er. Er wird es wieder tun. Auch die Hölle braucht jemanden, der da unten den Bus fährt.

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Zero K: Don DeLillo
Andrew Martin
Scribner

Cosmopolis, Don DeLillos erster Roman über die Superreichen, ist ein faszinierender Misserfolg. Das im Jahr 2003 veröffentlichte Buch begleitet einen Tag lang den 28-jährigen Milliardär Eric Packer, der den größten Teil seines Tages im Stau auf der Rückbank seiner Limousine mit Marmorboden steckt. Nicht durch schlüssige Charaktere verbunden, liest sich das Buch mehr wie eine Reihe schräger Situationen und Thesen als ein tatsächlicher Roman.

Aber die Samen von Zero K, seinem neuesten und weit erfolgreicheren Werk, werden in Cosmopolis bereits gesät. "Bedeutende Männer erwarteten in der Geschichte stets, für immer zu leben," sagt eine von Packers vielen Gesprächspartnerinnen, "sogar als sie vom westlichen Flussufer aus, dort, wo die Sonne untergeht, den Bau ihrer imposanten Gräber überwachten." Sie denkt über den Verstand nach, der "aus allem besteht, das du je warst und sein wirst," und ob man ihn je abspeichern können wird, wenn der Körper tot ist. "Wird es eines Tages möglich sein? Früher als wir glauben, denn alles passiert früher als wir denken."

In Zero K passiert es. DeLillo schrieb bekannterweise in White Noise, dass "alle Handlungen dazu neigen, sich in Richtung Tod zu bewegen." In seinen Romanen war das ohne Frage der Fall. Von der altertümlich-sprachbesessenen Mördersekte aus The Names über Lee Harvey Oswald in Libra bis zum düsteren Museumsgeher aus Point Omega, der wie besessen eine 24-stündige Version von Psycho ansieht, beschäftigen sich seine Bücher oft mit Tod, insbesondere durch Gewalt. Die Geschichten seiner Charaktere werden durch ihre Beziehungen zum Töten oder den Getöteten definiert. Aber die Handlung von Zero K bewegt sich nicht Richtung Tod. Stattdessen erforscht es die Auswirkungen der schwindenden Herrschaft des Todes.

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Der Roman beschäftigt sich mit einem überaus reichen Mann namens Ross Lockhart, dessen jüngere Frau Artis an einer lähmenden Krankheit stirbt. Er bestellt seinen Sohn Jeffrey, den Erzähler der Geschichte, zu einer geheimen kryotechnischen Anlage, um ihm das innovative Grab seiner Frau zu zeigen und trotz ihres scheinbaren Mangels an Zuneigung holt er seinen Sohn auch, um Gesellschaft während ihrer "kryotechnischen Aufhebung" zu haben. Ross behauptet, sehr an diesen Prozess zu glauben."Ein anderer Gott", sagt er zu seinem skeptischen Sohn. "Wie sich herausstellt, nicht so anders als einer der früheren. Außer, dass es real ist, wahr." Es stellt sich heraus, dass er einen großen Teil seines Vermögens in die Einrichtung investiert hat, die, wenn alles nach Plan verläuft, auch irgendwann ihn unterbringen wird.

Die Stimme des Sohnes lässt den alchimistischen Unterton der jüngsten Bücher von DeLillo, Falling Man und Point Omega, zerbröseln. Er bietet eine Perspektive, die sich—untypisch für den späteren DeLillo—an die des Lesers anpasst. Er fühlt sich verwirrt und durch das Verlangen seines egomanischen Vaters, für die Frau, die er liebt, den Tod zu verhindern, zurückgewiesen—liebt ihn jedoch bedingungslos. Obwohl das philosophische, abstrakte Hauptaugenmerk auf den Tod und das Leben danach auf den ersten Blick in Hinblick auf das späte Werk von DeLillo vielversprechend scheint, zeigt sich Zero K durch die Abbildung der durchaus ambivalenten familiären Beziehung als DeLillos wahrscheinlich lebendigste Untersuchung der menschlichen Gefühlswelt.

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Die komplizierte Kryogenik ist wie ein Museum von DeLillos Interessen, das verstörendes Material über den Tod und auch—nicht zum ersten Mal in seinem Schaffen—Menschen im Prozess der Selbstaufopferung diejenigen, die vor einer unsichtbaren Katastrophe fliehen, zeigt. Diese Motive haben etwas einer Retrospektive an sich, aber DeLillo versucht auch hier, neues Terrain anzusteuern.

Das beste Beispiel hierfür ist eine kurzer, an Beckett erinnernder Abschnitt, in dem der Leser in den inneren Monolog der Künstlerin eingeweiht wird. "Ich denke, ich bin jemand", heißt es in einer dieser Passagen. "Jemand ist hier und ich fühle es in oder mit mir. Aber wo ist hier und wie lange bin ich hier und bin ich das einzige, das hier ist?" Diese Passagen sind furchterregend und sie legen nahe, dass am Ende des Lebens Teile einer Person aktiv bleiben—vielleicht für immer. Erst als die Geschichte beinahe zu Ende ist, legt DeLillo offen, dass dieser Monolog vielleicht nur ein Teil der Vorstellung des Erzählers war, und stellt somit die Unerkennbarkeit des Todes wieder her, die für die Geschichte von so großer Bedeutung ist.

An einem wichtigen Punkt entscheidet sich Ross dafür, seiner Frau früher als geplant in ihren vorübergehenden Zustand zwischen Leben und Tod zu folgen, indem er Suizid begeht. Jeffrey hat mit der Entscheidung seines Vaters zu kämpfen. "Es widerspricht allem, was er je gesagt oder getan hat," denkt Jeffrey. "Er hat sein Leben dadurch zu einem Comic verkommen lassen, oder auch meines."

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Etwas später erklärt eine Angestellte der Anlage den Anfängern die Vorteile des Kryonisierungsprozesses: "Wir bewegen uns dadurch in einem Raum außerhalb der Geschichte. Hier gibt es keinen Horizont. Wir sind nur unserem Inneren verpflichtet, wir setzen einen tiefen und untersuchenden Fokus auf das was wir sind und wo wir sind … Jeder von euch wird zu einem einzelnen, abgekoppelten Leben, das nur mit sich selbst in Berührung steht."

An dieser Stelle beginnt die Antwort, auf die verstörende Frage in DeLillos Roman: Was passiert wenn die Handlung— das Leben—aufhört, sich auf "den Tod zuzubewegen"? Sie löst sich, so DeLillos Vorstellung, von der Geschichte und von anderen Menschen ab. Der Kreis des Lebens, mit all seinen Herausforderungen, scheint genauso wenig Entwicklung zu beinhalten wie zum Beispiel der Charakter Charlie Brown.


THE WITCH: A NEW ENGLAND FOLKTALE
A24

Wie fromm muss man sein, um wegen seiner Frömmigkeit aus einer Puritaner-Gemeinde gekickt zu werden? So fromm wie das Oberhaupt der Familie in The Witch, das in der Eröffnungsszene aus dem Dorf geworfen wird, und sich, während sich das Tor vor ihm und seiner Familie schließt, über das Evangelium beschwert. Papa William, Mama Katherine, Tochter Thomasin und der Sohnemann Caleb errichten ihr neues Heim am Rande des Waldes. Sie scheinen andere Menschen nur dann zu treffen, wenn Katherine sie zur Welt bringt. Ihre Heimat ist ein siebenköpfiges Königreich, einschließlich eines Zwillingspaars im Kindergartenalter und einem Säugling. Das Leben am Rande des Waldes ist schon ein Albtraum, bevor überhaupt irgendetwas Hexerisches passiert. So unheimlich und gruselig der Film ist, so schwer ist es aber auch, den religiös verwurzelten Schrecken der Familie zu teilen. Mit Ausnahme von Thomasin haben sie größere Angst vor der Hölle als vor Blut und sind weniger besorgt über das Verschwinden des Säuglings als darüber, dass er nicht getauft wurde.

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Fotos von Rafy, mit freundlicher Genehmigung von A24


Mapplethorpe:Look at the Pictures
Sofia Groopman
HBO

"Für mich haben diese Werke nichts mit Kunst zu tun. Ich finde auch nicht, dass der Mann, der sie gemacht hat, ein Künstler war. Ich denke, er war ein Arschloch." Mit diesem Statement von Jesse Helms beginnt die neue HBO-Dokumentation Mapplethorpe: Look at the Pictures.

Es ist 1989 und Helms, ein berühmter konservativer Senator aus North Carolina, hält eine Rede vor dem Senat über Mapplethorpes letzte Ausstellung, die, trotz seines Todes an AIDS, weiterhin gezeigt wird. Sie trägt den Namen "The Perfect Moment" und beinhaltet einige sehr eindeutig sexuelle Werke, die Mapplethorpe berühmt gemacht haben.

Darunter zum Beispiel das Bild "Helmut and Brooks, NYC". Es handelt sich dabei um eine Fotografie, die in ihrer Komposition etwas von Steichens stilllebenhafter Perfektion in sich trägt und zeigt, wie ein Mann einen anderen fistet. Ein weiteres Werk, "Lou, NYC", bildet, auf schockierende und gleichzeitig schöne Weise einen Mann ab, der sich selbst den Finger in den Penis rammt.

Helms wirft vor dem Senat die Frage auf, ob Steuergelder für die Finanzierung dieser "Obszönitäten" verwendet werden sollten und macht Mapplethorpe dadurch berühmt.

Im Rahmen der gefeierten Dokumentation, die dem Werdegang Mapplethorpes folgt, erscheinen Helms Worte ironisch. Gezeigt wird sie zusammen mit einer großen Retroperspektive von Mapplethorpes Arbeiten, die im Getty Museum und im La County Museum of Art zu sehen ist. Helms Aussagen unterlegen das Ambiente des Films perfekt.

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Durch die Linse von Mapplethorpes Arbeit und Leben beschäftigt sich die Dokumentation mit der Frage, was Kunst definiert und was einen Künstler ausmacht (und auch, ob der besagte Künstler ein Arsch war—dem würde Helm wohl zustimmen). Der Film untersucht Mapplethorpes Kunst als Akt der Selbstbeobachtung—wie er seine Erfahrungen auf Leinwand umsetzte, seine emotional eindringende Porträts von Freunden (man denke an: Diane Arbus und Nan Goldin) und sein Sexualleben, das mit der selben Ästhetik dokumentiert wird.

Die Dokumentation schreckt auch nicht davor zurück, sich mit den expliziteren Werken Mapplethorpes zu befassen. Unter anderem wird sein Werk „Self Portrait" gezeigt. Zu sehen ist, wie sich der Künstler, gekleidet in Lederhosen, eine Peitsche in den Anus einführt. Das Gesicht zur Kamera gewandt, wurde es zu einem Symbolbild der BDSM-Szene—nur fünf Jahre, nachdem die Homosexualität aus dem diagnostischen Standardwerk DSM entfernt wurde. Auch wenn das Gezeigte heute keinen mehr schockiert; die Fotos von Mapplethorpe sind immer noch genauso auffällig wie vor 40 Jahren.


STRANGE LOVE: ODER: WIE ICH LERNTE, DIE DEUTSCHEN ZU LIEBEN
Conor Jack Creigthon
Ullstein

Conor Jack Creightons zweiter Roman ist vor allem ein fantastisches Memoire. "Fantastisch" im Sinne von: Er ist ein richtiges Memoire, aber der Autor schmückt auch vieles aus. Besagter Autor ist vor zehn Jahren aus Irland nach Deutschland gezogen. Eigentlich will er nach Polen, aber nachdem sein Auto dem Zweikampf mit einem Reh unterliegt und ein freundliches Ehepaar mit 20 Hunden und 30 Katzen ihn bei sich aufnimmt, strandet er erst im Wald hinter Dresden und dann in Berlin.

Manchmal ist das Buch für meinen Geschmack ein bisschen zu gut beobachtet. Eine wiederkehrende Szene ist, wie Jack an der Kasse steht, eine unglaublich lange Schlange vor ihm, und er hat nicht den Mut, nach einer zweiten Kasse zu fragen. Ich bin Deutsche, aber habe mich in meinem ganzen Leben noch nie danach getraut, nach einer zweiten Kasse zu fragen. Ich hätte, grob geschätzt, mehrere Wochen Lebenszeit einsparen können, wenn ich tapfer genug wäre, nach einer zweiten Kasse zu fragen. In dem Sinne ist es auch ein Coming-of-age-Roman, oder präziser: Ein Coming-of-German-Roman.


#N/A
Nisennenmondai
Label

Mit Nisennenmondai ist es wie mit Carter Tutti Void: Du kannst ihre Musik totlangweilig und absolut uninspiriert finden, oder du kannst gerade das, was die meisten daran hassen würden, total abfeiern. Für ihr neues Album haben sie mit dem Produzenten Adrian Sherwood zusammengearbeitet. Der Bass ist diesmal unglaublich gut produziert, obwohl das Gesamtergebnis trotzdem herrlich roh klingt: immer noch mehr Punk als Techno, mehr Attitüde als Musik, kein bisschen steril und vor allem in der Grundhaltung wunderbar nüchtern. Nisennenmondai haben ihren eigenen Sound und geben dir genau das. Für Menschen, die es gewohnt sind, dass Musik catchy und einfach nur unterhaltsam ist, wird es vermutlich das Letzte sein, aber die laden wir sowieso schon seit Jahren nicht mehr zum Geburtstag ein. Bei #N/A geht es nicht mehr um Spannungsbögen oder den Drang, in der Musik etwas aufzubauen, das dann irgendwann in etwas anderem kulminiert. Alles, was auf dem Album stattfindet, geschieht im Moment—wie das Harken eines Zengartens. Zugegeben—eines sehr brutalen, hässlichen Zengartens, in dem jeden Morgen rituell ein junger, wunderschöner Mensch ermordet wird.