Unterwegs mit einer 70-Jährigen, die jeden Tag Neonazi-Graffitis wegputzt
Alle Fotos von Alba Morasutti

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Unterwegs mit einer 70-Jährigen, die jeden Tag Neonazi-Graffitis wegputzt

Irmela Mensah-Schramm zieht mit Ceranfeldschaber, Spraydosen und Nagellackentferner gegen Hass ins Feld.

Letzten Sommer entdeckte die 70-jährige Rentnerin in Berlin-Zehlendorf in einer Unterführung ein "Merkel muss weg!"-Graffiti. Kurzerhand packte sie ihre Spraydose aus, machte daraus mit rosa Farbe "Merkel Hass weg!". Daneben sprühte sie zwei Herzchen. Besorgte Bürger entdeckten sie und riefen die Polizei.

Der zuständige Richter hätte das Verfahren am liebsten wegen geringer Schuld eingestellt, aber die Staatsanwältin hat nicht zugestimmt. Und so verurteilte das Gericht die 70-Jährige wegen einer übersprühten rechten Parole und zwei rosa Herzchen zu 1.800 Euro auf Bewährung wegen Sachbeschädigung. Sollte sie sich also noch mal erwischen lassen, ist das Geld fällig.

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Die Dame heißt Irmela Mensah-Schramm, ist pensionierte Erzieherin und Heilpädagogin und seit 30 Jahren auf den Straßen Berlins, aber auch im Rest der Republik unterwegs, um rechte Hetze aus dem Stadtbild zu verbannen. Mit Spraydose, Nagellackentferner und Ceranfeldschaber bewaffnet schreitet sie ein, wo Ordnungsämter und Anwohner wegschauen und Neonaziparolen einfach stehenlassen.

12 Uhr mittags auf dem Wochenmarkt in Berlin-Rudow: Auf einen alten Brunnen, durch den wohl schon seit Längerem kein Wasser mehr geflossen ist, etwas abseits von Gemüseständen, ist ein Hakenkreuz geschmiert. Die nächste Sachbeschädigung bahnt sich an. Irmela Mensah-Schramm packt ihre Spraydose aus und macht aus dem Hakenkreuz ein Rechteck mit Smiley. Eine ältere Dame läuft vorbei und fragt, wer das denn bitte sauber machen soll. Nachdem Mensah-Schramm ihr ein Foto zeigt, auf dem das Hakenkreuz zu sehen ist, zieht die Passantin mit einem "Das hat sie gut gemacht" ihrer Wege.

Ihren Feldzug gegen den Hass startet sie am U-Bahnhof Britz-Süd. Irmela Mensah-Schramm ist eine ältere Dame, die eigentlich aussieht, als sei sie gerade auf dem Weg in den Supermarkt, um die Wochenendeinkäufe zu erledigen. Eine von vielen Rentnerinnen: weiße Haare, Halstuch, praktische Kurzhaarfrisur, randlose Brille, freundliches Lächeln. Aber dann ist da noch ihr Jutebeutel, auf den sie mit schwarzen, blauen und roten Textilfarben geschrieben hat: "Wer von Asylflut redet, hat Ebbe im Gehirn". Sie verbringt diesen Vormittag so, wie sie es seit 30 Jahren jeden Tag tut. "Ich habe mindestens 130.000 mal Sachbeschädigung begangen", sagt sie stolz.

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Die 70-Jährige kam 1969 aus Stuttgart wegen ihres Berufs nach Berlin. Ihr Vater war als Soldat im Zweiten Weltkrieg und kehrte traumatisiert zurück. Der Weltkrieg machte ihn für den Rest seines Lebens zum Pazifisten. Mensah-Schramm selbst interessierte sich trotzdem erst für Politik, nachdem sie nach Berlin gezogen war. Die Studentenprotesten der 68er-Bewegung tobten gerade auf der Straße, aber sie ließ sich nicht von der politischen Stimmung der Zeit mitreißen, ihre Politisierung erfolgte langsamer—und nachhaltig: "Ich habe ganz alleine für mich den Weg gefunden und bin da reingewachsen und das hatte Bestand", erzählt sie. An ihrer ersten großen Demo nahm sie dann auch erst mit 33 teil, zehn Jahre später. Eigentlich war sie zur Erholung in Kur, als sie an einen Infotisch über Gorleben geriet. Zwei Jahre vorher hatte die Regierung unter Helmut Schmidt entschieden, den Salzstock in der Nähe des Ortes zum Endlager für radioaktiven Abfall zu machen.

Sie sprach mit den Infotisch-Betreibern und entschied sich, an der geplanten Gegendemo in Hannover teilzunehmen. Es wurde eine der größten Demos in der Geschichte der deutschen Anti-Atomkraftbewegung. "Die haben mich dann an der Kurklinik mit einer Ente abgeholt. Ich habe mitdemonstriert und war ganz begeistert. Die Demo war die richtige Kur für mich." Wenn sie erzählt, hat sie immer noch den Enthusiasmus von damals. Es war ihr politischer Erweckungsmoment.

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Zurück aus der Kur engagierte sie sich für Flüchtlinge bei Amnesty International, in der Friedensbewegung und bei den Grünen. Die Partei verließ sie aber in den 1990er Jahren, enttäuscht davon, dass die Grünen plötzlich Militäreinsätze im Ausland unterstützten.

Ihre Mission, den Hass von den Straßen wegzuputzen, fand sie vor 30 Jahren. Die damals 40-Jährige lebte in Berlin-Wannsee und hatte an einer Bushaltestelle auf dem Weg zur Arbeit ihr Schlüsselerlebnis: "Ich entdeckte einen Aufkleber, der Freiheit für Rudolf Heß forderte." Der Hitler-Stellvertreter saß damals im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau, nachdem er im Nürnberger Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, und galt in der Neonazi-Szene der 1980er als Märtyrer. Mensah-Schramm erzählt: "Ich war wie gelähmt und unfähig zu handeln. Im Bus habe ich mir dann die Frage gestellt: 'Da war doch was, was nicht sein darf—warum hast du nicht gehandelt, warum hast du nicht reagiert?' Das hat mich den ganzen Tag sehr beschäftigt, aber ich hatte beschlossen: Wenn ich zurückkomme, werde ich nicht sofort nach Hause gehen, sondern zur Haltestelle." Damals wie heute ärgert sie vor allem, wie viele Menschen solche Hassbotschaften sehen, wenn sie auf Aufklebern oder durch Neonazi-Graffitis auf Wänden sichtbar sind. Noch schlimmer, sagt sie, sei die Gleichgültigkeit, mit der solche Propaganda ignoriert wird: "Eine Bushaltestelle, wo zehn Stunden lang alle zehn Minuten ein Bus abfährt und wo immer zwischen drei und zehn Leuten stehen—das hat mich schon geschockt. Dann habe ich meinen Schlüssel genommen und daran rumgefummelt und gekratzt, bis er endlich ab war. Und ich dachte: 'Wahnsinn. Du hast jetzt gehandelt, du hast ihn abgemacht. Der ist weg.'" Danach nahm sie ihre Umgebung anders war, sie fing an, die Aufkleber und Schmierereien überall wahrzunehmen und entschied, dass sie ab jetzt immer sofort handeln würde. "Und ich merkte, dass ich mir dafür Werkzeug zulegen muss", ergänzt sie trocken.

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Mit Irmela Mensah-Schramm durch die Stadt zu laufen, bedeutet tatsächlich, die Umgebung mit anderen Augen zu sehen. Viele der Schmierereien nimmt man normalerweise nicht wahr oder ignoriert sie. Heute ist das anders, heute wird alles weggemacht, was uns unterkommt. Dabei ist Mensah-Schramm nur selten wirklich mit Sprühfarbe zugange. Kurz hinter dem U-Bahnhof entdeckt sie einen "Türken raus"-Schriftzug auf einem Betonpoller. "Ich versuche es immer zuerst mit meinem Allheilmittel Nagellackentferner. Ich hatte in Hauswirtschaft immer eine gute Zensur." Und tatsächlich funktioniert es. Mit etwas Hilfe von Sand als Scheuermittel ist der Poller nach wenigen Sekunden wieder so sauber, wie ein Poller in Berlin es eben sein kann. "Wenn ich was sehe, das ich wegputzen kann, tue ich das, aber es geht nicht immer." Schlimmstenfalls benutzt sie dann eben doch die Sprühdose, "wobei ich natürlich nichts dazuschreibe. Ich mache nie was dran, ich bin fürs Wegmachen."

Ohne Ceranfeldschaber für Aufkleber und eben Nagellackentferner verlässt sie nie das Haus: "Ich schwöre, das hab ich auch dabei, wenn ich zum Arzt gehe." Damit bewegt sie sich meistens auf dem Boden der Legalität. Aufkleber darf eigentlich niemand wild kleben, genauso wie Graffitis sprühen. Problematisch wird es erst, wenn sie selbst sprüht und damit ebenfalls Sachbeschädigung begeht. Eine andere Möglichkeit, als selbst aktiv zu werden, sieht sie nicht. Immer wieder meldet sie Schmierereien beim Ordnungsamt. Das bleibt nur leider ohne Konsequenz: "Das Ordnungsamt kann man vergessen. Die sind nur an den Autos interessiert, ob sie falsch parken. Wenn ich die anschreibe, sagen sie, dass sie sich drum kümmern, aber es passiert nichts."

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Das Ordnungsamt ist nicht die einzige Institution, die sie allein gelassen hat. Sie erzählt von einem Prozess im Jahr 1995, bei dem eine Frau angeklagt war, weil sie ihr in der S-Bahn mehrmals den Hitlergruß gezeigt hatte. Eigentlich sollte das Verfahren ohnehin eingestellt werden, fand dann aber wegen der vielen Vorstrafen des weiblichen Neonazis doch statt. Mensah-Schramm hatte in der S-Bahn einen Jutebeutel dabei, auf dem "Gemeinsam gegen rechts" stand. Sie sagt, das sei für den Richter genug gewesen, um den Prozess mit den Worten "So läuft man ja nicht rum" abzuschmettern.

"Ich bin Deutsche und als Deutsche dafür verantwortlich, dass dieser Scheiß nicht weiter da steht."

Ganz in der Nähe des Brunnens laufen wir durch einen kleinen Durchgang am Rande des Marktplatzes, direkt neben einem Supermarkt, ein ziemlich belebter Verbindungsweg zwischen dem Platz und dem angrenzenden Park. Auch hier hat die Rentnerin große Hakenkreuzschmierereien entfernt, nachdem die Meldung beim Ordnungsamt erfolglos blieb. Wahlkämpfer der SPD, die an einem Stand in der Nähe Flyer verteilten, seien ebenfalls nicht interessiert gewesen, erzählt sie.

Wir kommen an einem evangelischen Gemeindehaus an einer großen Zufahrtsstraße vorbei. Vor dem Eingang steht ein Glaskasten mit dem Namen der Einrichtung, in dem wahrscheinlich Veranstaltungen angekündigt werden. An diesem Tag ist er leer. Darauf klebt allerdings ein vergilbter NPD-Aufkleber mit dem Slogan "Asylflut stoppen!". Er ist verblichen. Offensichtlich hatte sich niemand in der christlichen Einrichtung daran gestört.

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Immer wieder hält sie an, weil sie ein Graffiti oder einen Aufkleber entdeckt. Nicht jeder in ihrer Familie oder unter ihren Freunden, sagt sie, fände ihre Mission toll. "Die waren schon manchmal ein bisschen genervt, wenn wir uns unterhalten haben beim Spazierengehen. 'Sag mal, du guckst doch schon wieder!' Und ich hab gesagt: 'Na ja, seit wann hört man mit den Augen?'" Zu Besuch bei ihrer Schwester, in einem Dorf, wollte diese zunächst nicht, dass sie auch hier ihren Nagellackentferner auspackt: "Bei uns ist nichts", sagte sie. Mensah-Schramm zog trotzdem los und kam mit einem Aufkleber der DVU zurück: "Und der war kurz vor der Auffahrt zu ihrem Haus."

Aber ihre Mission ist ansteckend. Als sie ein anderes Mal wieder bei ihrer Schwester zu Besuch war, musste sie ihr Werkzeug zu Hause lassen, weil ihre Schwester einen ungestörten Spaziergang machen wollte. "Plötzlich rennt sie wie von der Tarantel gestochen zu einem Verkehrsschild und puhlt und puhlt und ich gehe bewusst langsam hin und frage: 'Was machst du denn da?' Sie sagt: 'Nichts!' Und ich sage: 'Liebe Schwester, mit dem Schaber hättest du dich gar nicht so anstrengen müssen, da wäre das in einer Sekunde abgegangen.'"

Sie entfernt die Graffitis und Aufkleber aber nicht nur, sondern dokumentiert sie vorher genau. Wenn sie Aufkleber entdeckt, die sie vorher noch nicht kannte, packt die Rentnerin erst mal ihre Kamera aus und fotografiert. Sind die Sticker danach vom Ceranfeldschaber nicht allzu mitgenommen, sammelt sie sie in einem mitgebrachten Block und archiviert sie. Seit Januar 2007, also seit zehn Jahren, hat sie gut 75.000 Aufkleber mit rechter Hetze entfernt. Anfang 2016 zeigte das Deutsche Historische Museum einen Teil ihres Archivs im Rahmen einer Ausstellung über politische Aufkleber.

Links: Ein Sticker einer Neonazi-Gruppe. Rechts: Ein Hassbrief, der inklusive Hakenkreuz und Reichsadler zugestellt wurde | Material mit freundlicher Genehmigung von Irmela Mensah-Schramm

Wegen ihrer Arbeit ist die Rentnerin immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Anwohnern raten ihr, sich doch lieber darum zu kümmern, dass es weniger Hundekacke auf den Straßen gibt. Nach Hause bekommt sie Hassbriefe mit ekelhaften Beschimpfungen. "In Cottbus, in einer sehr einsamen Plattenbaugegend, putzte ich gerade ein Hakenkreuz weg. Dann kam ein ganz junger Nazi auf mich zu und fragte mich, was ich da mache. Ich sagte: 'Ich mache ein Hakenkreuz weg.' 'Warum?' 'Weil es ein verbotenes Kennzeichen ist und ich es wegmachen möchte.' 'Das soll aber dranbleiben.' Ich sage 'Nee, das kommt weg' und putze weiter. Er hat mich dann angeschrien. Es war niemand in der Nähe und er ging auf mich zu. Ich bin ihm dann ganz langsam entgegengekommen und er drehte sich um und ist weggerannt. So ein mutiger Nazi."

An einer Häuserwand im brandenburgischen Groß Kreutz entdeckte Mensah-Schramm mehrere große Graffitis: "Juden in den Ofen", "Es lebe das Dritte Reich", "Es lebe die Hitlerjugend", "Deutschland den Deutschen". "Ich hatte damals einen großen Metallspachtel dabei", sagt sie, "und habe damit den Putz runtergekratzt und dabei das Deutschland von 'Deutschland den Deutschen' stehengelassen. Deutschland ist ja das Land, in dem ich lebe, und ich habe immer versucht, intelligent zu arbeiten. Dann kam ein Nazi mit seiner Frau und Kind und ruft mir zu: 'Ich hab Sie im Fernsehen gesehen. Warum machen Sie das?' Darauf habe ich geantwortet: 'Dann hast du beim Fernsehen nicht aufgepasst. Alles, was da steht, ist menschenverachtend.' Er: 'Hm.' Nach einer Weile fragt er: 'Oh, warum lassen Sie denn Deutschland stehen?' Darauf habe ich geantwortet: 'Ich bin Deutsche und als Deutsche dafür verantwortlich, dass dieser Scheiß nicht weiter da steht.' Und er: 'Hm.' Danach hat er gefragt, ob ich den Rest auch wegmache, worauf ich gesagt habe: 'Ihr seid ja schon sehr gründlich, aber ich bin noch viel gründlicher. Wenn ich hier fertig bin, mach ich da hinten weiter.' 'Hm.' Wir haben uns beide nicht beschimpft, nicht beleidigt, nicht angegriffen. Da habe ich immer Hoffnung."

Weniger Hoffnung hat sie, was die staatlichen Reaktionen auf den Rechtstruck in der Gesellschaft angeht. Und wie ratlos die Politik ist: "Die Politik hat rechte Umtriebe jahrelang verharmlost. Sarrazin hat den Anfang gemacht. Da gingen die Leute in Scharen hin, die schon immer etwas gegen Ausländer hatten und haben sich gedacht, der ist ja sogar SPD-Politiker. Dann gab es diese sogenannten Montagsmahnwachen mit den Verschwörungstheoretikern. Danach gab es die ersten Pegida-Aufmärsche und darauf hat die Politik richtig blöd reagiert: Ach, das sind doch nur besorgte Bürger, man muss doch den Menschen zuhören."

So oder so will sie aber weitermachen, so lange sie kann. Das Urteil hat daran nichts geändert: "Ich hab weitergesprayt. Kurz danach habe ich in Wittstock in Brandenburg aus 'Fuck Asyl' 'Für Asyl' gemacht, mit Ausrufezeichen und Herzchen."