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So war es, 20 Jahre lang Web-Verantwortlicher bei der ÖVP zu sein

Einer der prägendsten Momente war für mich, als mir eine Kollegin in der ÖVP Wien erklärt hat: "Dieses Internet setzt sich sowieso nie durch!"
Rex Roof | flickr.com | CC by 2.0

Gerhard Loub war 20 Jahre lang Web- und Social-Media-Verantwortlicher der ÖVP. Mehr über ihn und seine ÖVP-Zeit könnt ihr auf seinem Blog lesen.

Die 90er-Jahre. Das Modem rauscht, piepst und pfeift, das Viertelefon ist lahmgelegt. Nach nicht einmal drei Minuten steht die Leitung und ich kann mich in den Black°Box einwählen, um in unseren ÖVP- und JVP-Gruppen mitzudiskutieren. Das geht gerade einmal eine viertel Stunde, dann braucht meine Mutter das Telefon und ich bin wieder offline. Nicht erreichbar. Keinem wird´s abgehen.

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Wenige Jahre später am Juridicum: Der Pager meiner Swatch piepst. In der Pause rufe ich vom nächstgelegenen Wertkarten-Telefon zurück. Eh nur eine Rückfrage wegen unserer Presseaussendung im Bezirk. Eilt nicht. Erwartet eh keiner, dass ich als kleiner Bezirksfunktionär so schnell erreichbar bin.

Gut zehn Jahre später: Schrill und unüberhörbar aufdringlich läutet das "Notfall-Handy". Ein gequälter Blick auf die Zeit: 4:30 Uhr. Hoffentlich ist es wichtig. Wegen eines schweren Bandscheibenvorfalls liege ich nach mehreren Infusionen zu Hause im Bett im Krankenstand. Aber es IST wichtig: "Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider tot". Das Adrenalin schießt in den Kopf und vertreibt die letzten Morphium-Rückstände. Ich bin hellwach.

Das kann ja nicht stimmen. Der Griff zum Notebook, das neben dem Bett im Dauerbetrieb läuft bringt mit einem schnellen Blick in APA & Co. Klarheit: Es stimmt. Der Fernseher läuft längst, doch es bleibt ruhig. Ich schicke ein SMS an den "ÖVP-Großverteiler": "Landeshauptmann und BZÖ-Chef Jörg Haider bei Unfall ums Leben gekommen". Als gut 30 Minuten später ORF2 erstmals berichtet, habe ich trotz der späten Stunde zahlreiche Anrufe von SMS-Adressaten hinter mir, die allesamt nicht glauben können, was passiert ist. Viele berichten mir noch später, dass sie durch meine SMS als Erste in ihrem Bekanntenkreis informiert wurden. Das war bereits so bei der Katastrophe in der Gletscherbahn in Kaprun; es war auch so bei 9/11.

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Und ja, es ist wahnsinnig toll, immer der Erste zu sein, der Bescheid weiß und der Erste, der diese Information weitergeben kann. Es ist toll, einen hohen Stellenwert als Informationsquelle zu haben. Aber es fordert. Da schaukeln sich dann berufliche Anforderungen und privates "Suchtverhalten" gegenseitig hoch. Die ständige Online-Präsenz wird zur fordernden Geliebten, die einem die schönsten Momente im Leben zu bescheren scheint und gleichzeitig keine Luft zum Atmen lässt.

Wehe, ich übersehe was. Der Zorn meiner Chefs war mir gewiss. Ich habe ALLES auf Social Media zu wissen—immer und überall.

20 Jahre habe ich in der ÖVP gearbeitet. 20 Jahre, in denen genau diese Luft zum Atmen gefehlt hat. Genau diese 24/7-Verfügbarkeit ist es, die zu einer unstillbaren Sucht werden kann—teils dienstlich erwartet, teils durch private Neugier und Mitteilungsbedürfnis genährt. Nur ja nie das Handy abdrehen, bestenfalls nur kurz auf "Vibrieren" schalten. Das "Notfallhandy", das immer auf laut geschaltet ist, sorgt für Priorisierung: Nur wenige haben die Nummer, APA-SMS werden nur mit der Prioritätsstufe "Vorrang" oder "Blitz" zugestellt.

Trotzdem ist das Gefühl immer mit dabei, etwas versäumt zu haben. Und ja, ich werde immer etwas versäumen, etwas Wichtiges übersehen. Denn gerade in der schönen neuen Welt 2.0 von Social Media und Online-Dauer-Bereitschaft ist es absolut aussichtlos, jede Information sofort herauszufiltern und zu erkennen. Trotzdem wird genau das im Job eines Social-Media-Verantwortlichen ganz selbstverständlich lückenlos erwartet.

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Natürlich geht das nicht ohne Hilfe: Freunde, Kollegen, Freiwillige tragen mir immer wichtige Infos zu. Woher sollte ich sonst wissen, dass in Stixneusiedl gerade auf Facebook DER Social-Media Super-GAU passiert ist, der am nächsten Tag in Print und in wenigen Stunden in den Online-Medien der große Aufreger ist? Und wehe, ich übersehe das. Der Zorn meiner Chefs ist mir gewiss. Ich habe ALLES auf Social Media stets zu wissen—immer und überall—und sofort weiter zu melden und zu agieren und reagieren.

Es ist wie ein Teufelskreis, der sich mit jedem Umlauf verstärkt. Jeder neue Erfolg gibt positive Motivation, jedes noch so kleine Versäumnis sorgt für ein schlechtes Gewissen. Aber egal, ob positiv oder negativ—beides sorgt für noch höhere Frequenz und Intensität. Daraus entsteht ein oft schon übertriebenes multimodales Multitasking, dass Hirn und Psyche mit jedem weiteren Task an die Grenze und darüber hinaus treibt. Berufliche Anforderungen und privates Interesse verschmelzen.

In diesen 20 Jahren habe ich viel mitgemacht, aber unheimlich viel Spaß und Freude an der Arbeit gehabt. Warum sonst hätte ich mir das 20 Jahre freiwillig angetan? Es wäre also völlig verfehlt, wenn ich jetzt die ÖVP in Grund und Boden verdammen würde. Die ÖVP hat mir die Basis geboten—für eine Tätigkeit, die mir unheimlich viel Spaß gemacht hat. Ermöglicht haben mir das Chefinnen und Chefs, Kolleginnen und Kollegen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Gerade die ständige Arbeitsbereitschaft, das zeitkritische, parallele Arbeiten unter Hochdruck haben aus meiner Abteilung eine verschworene Gemeinschaft gemacht, die auch heute noch eng in Freundschaft verbunden ist.

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Im Laufe der Jahre habe ich es vom EDV-Chef der ÖVP Wien über deren New-Media-Manager, vom einfachen Presseredakteur mit Teilzeit-Online-Agenden zum Abteilungsleiter Web, Multimedia und Social Media der Bundespartei gebracht. Entsprechend sind die Aufgaben mehr und mehr gewachsen. Ursprünglich allein, hatte meine Abteilung bis zu 15, in Wahlkämpfen bis zu 30 Mitarbeiter. Leicht vorzustellen, was da alles zu tun war.

Einer der prägendsten Momente war für mich, als mir eine Kollegin in der ÖVP Wien erklärt hat: "Dieses Internet setzt sich sowieso nie durch!"

Eine Aufgabe aber ist immer gleichgeblieben: Immer neugierig bleiben, nach dem Motto "Trial and Error" erst privat ausprobieren und dann mit den gewonnenen Erkenntnissen das Richtige umsetzen. Freilich waren Eintagsfliegen wie SecondLife oder StudiVZ darunter, aber bei vielen Plattformen war es ein entscheidender Wettbewerbsvorteil, als erster vertreten und aktiv zu sein.

Hauptaufgabe war dabei immer dieselbe: Neue Medien finden, testen, Vorteile erkennen. Dann der Chef-Runde präsentieren und in unendlichen Diskussionen versuchen, wichtige Neuerungen durchzusetzen. Nicht umsonst war für mich einer der prägendsten Momente, als mir eine Kollegin in der ÖVP Wien erklärt hat: "Dieses Internet setzt sich sowieso nie durch!" So oder ähnlich ist es mir eigentlich bei so ziemlich allen Neuerungen gegangen, die ich für uns nutzen wollte. Hätten sich nicht doch einige engagierte Kollegen und Chefs gefunden, die Mut zu Neuem gelebt und eingefordert haben, wären wir längst auf der Strecke geblieben.

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Ein ganz entscheidender Schritt für meine Arbeit war die Emanzipation von der Pressearbeit: Social Media gehorcht komplett anderen Regeln und Gesetzmäßigkeiten als die traditionelle Pressearbeit. Das Verlinken von OTS, das Schreiben im Presseaussendungs-Stil oder die Verbreitung für den User irrelevanter Information ist eine Todsünde. Und das Netz vergisst nicht. Ja, Kommunikation muss aus einem Guss sein, die Linie und die Inhalte müssen dieselben sein—egal ob on- oder offline.

Die Authentizität der handelnden Personen ist ein Grundpfeiler der Tätigkeit im sozialen Netz; alles Aufgesetzte ist da kontraproduktiv. Inhalte, von denen mir nicht sofort einfällt, mit welchem Kommentar oder warum sie ein User sharen oder retweeten sollte, brauche ich gar nicht erst zu posten.

Es ist ein ständiger Kampf zwischen Anforderungen der Partei und den tatsächlichen Wünschen und Interessen der Bürger. Wir "müssen" viele Infos auf der Homepage und im sozialen Netz "verkaufen". Doch je mehr "müssen" dabei ist, desto weniger bleibt Raum für das, was die Menschen wirklich interessiert. Wenn wir beispielsweise in einer Zeit, in der ganz Österreich emotional über das Flüchtlingsthema debattiert, stattdessen etwa lieber über die Erfolge der Wirtschaftsdelegation in Armenien berichten, werden uns die Bürger völlig zu Recht fragen, ob wir eigentlich irgendeine Ahnung haben, was für sie wichtig ist.

Wenn es aber "von oben" angeordnet wird, bringst du genau dieses Thema natürlich trotzdem. Und die Menschen werden deine Homepage, deine Facebook-Seite nicht mehr besuchen, weil sie wissen, dass sie dort ohnehin nichts finden, was sie interessiert. Wenn du aber genau in jene heiklen Themen und Diskussionen eintrittst, die im Moment das ganze Land bewegen, werden sich die Bürger verstanden und ernstgenommen fühlen—du wirst ein wichtiger Anlaufpunkt für sie sein. Zugegeben, das ist nicht immer gelungen. Es war aber immer das klare Ziel.

Freilich fordert diese Herangehensweise Mut. Es braucht ein Trial-and-Error-Verfahren und man muss sich auch trauen, bewusst übers Ziel hinaus zu schießen. Man muss erkennen, wie weit man gehen kann und wie weit man gehen muss, um nicht verstaubt und langweilig zu wirken. Viele, die mich gerne als "unguided missile" punziert haben, haben letztendlich von meinen Erfahrungen und dem daraus resultierenden Coaching profitiert. Viele sind froh, dass andere Fehler gemacht haben, die sie sich nun ersparen.

Drum kann ich diesen Text nur mit einem dringenden Appell an alle "Chefs" für den Umgang mit ihren Social Media Verantwortlichen beenden: Akzeptiert, dass sie anders, mutiger, manchmal auch zu mutig sind. Lasst sie Sachen ausprobieren und genau die Fehler machen, die ihr euch dadurch später erspart.


Titelbild: Rex Roof | flickr.com | CC by 2.0