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DIE LITERATURAUSGABE 2012

Dir werd ich drohen

Amelia Gray schlug mir ins Gesicht und ich habe es so gewollt.

Vergangenen Sommer war ich in New Orleans—einem Ort, der dafür sorgt, dass du die meiste Zeit betrunken bist und dich dabei leider ziemlich daneben benimmst, d. h. die Geschichte ist durchaus im Kontext der geografischen Lage zu betrachten. Was passiert ist? Um eine unglaublich nervige, die ganze Nacht andauernde Situation zu beenden und aus reiner Gemeinheit, habe ich von dem Handy einer anderen Person aus eine ziemlich fiese SMS an Amelia Gray verschickt (die Autorin von Über die Krankheit, auf Seite 54 dieser Ausgabe). Die ganze Geschichte zu erzählen, würde zu lang dauern. Aber wenigstens den Text der verschickten SMS muss ich verraten: „Du bist ÜBERHAUPT nicht heiß. Und ich werde dich und das, was du schreibst, nie lieben.“ Abgefuckt, ich weiß. Am nächsten Morgen fühlte ich mich deswegen ziemlich mies. Aber ich tat nichts, um die Sache zu bereinigen, sodass die Dinge ungehindert ihren Lauf nahmen. Vor ein paar Wochen saß ich an einem verregneten Abend in einem Peter-Pan-Bus von Amherst, Massachusetts, nach Springfield und betrachtete durch das regennasse Fenster die Lichter des vorbeirauschenden Verkehrs. Als ich mich zu meiner Sitznachbarin umdrehte, sah ich, dass es Amelia Gray war. Sie sagte: „Kann ich dich was fragen, Gian?“ Ich erwiderte, ich wüsste, was sie fragen wolle, und die Antwort sei, ja, ich hätte die SMS geschrieben und eigentlich vorgehabt, das zu klären, sei aber nicht dazu gekommen. „Darf ich dir dafür eine runterhauen, Gian?“, fragte sie. Es war komisch, aber ein Schlag ins Gesicht war plötzlich das Einzige, was ich auf der Welt wollte. Ich hatte das Gefühl, das würde meinem Wochenende ein denkwürdiges und womöglich passendes Ende bereiten. Ich fand, irgendwie schuldete ich es ihr auch. Ich stimmte sofort zu: „Bitte, mach. Ernsthaft. Das hast du dir verdient. Hier.“ Ich hob mein Kinn und drehte ihr das Gesicht zu. Sie schlug zu, traf aber nicht richtig. Ich war unzufrieden und merkte, dass es ihr genauso ging. „Pass auf“, sagte ich, nahm ihre Hand, ballte sie zur Faust und zeigte ihr, wie man seinen ganzen Körper in einen Schlag legt. Ich hielt ihr die Wange hin, und sie schlug erneut zu, diesmal mit vollem Körperkontakt. Die hatte gesessen. Summen im Ohr, Vibrieren im Kopf, ein Gefühl, als schwelle das ganze Gesicht an; alle Symptome einer vollen Punktlandung. Ich fragte sie, ob sie sich jetzt besser fühle. Das tat sie. „Gut“, sagte ich, und vielleicht haben wir uns sogar umarmt. Um ehrlich zu sein, hatte ich nie was gegen sie. Ich finde gar nicht, dass Amelia „nicht heiß“ ist, und ich habe noch nie was von ihr gelesen. Meine SMS war im Grunde totaler Bullshit. Bevor sie ging, erzählte sie mir, dass ihr Freund, der weiter hinten saß, mir die Geschichte übler genommen hatte als sie. Als Amelia zu ihrem Sitz zurückging, presste ich meine pochende Wange gegen die kalte Scheibe und murmelte so was wie „Verdammt, dann komm doch, Alter“ in meinen Bart.